Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Divergenz. Schockschaden. Familienangehörige. psychische Beeinträchtigung aufgrund veränderter Lebensumstände
Orientierungssatz
Unter "Schockschaden" iS des Urteils des BSG vom 7.11.1979 - 9 RVg 1/78 = BSGE 49, 98 fallen nicht psychische Beeinträchtigungen von nahen Familienangehörigen, die aufgrund veränderter Lebensumstände infolge der Schädigung des Opfers - ggf allmählich - eingetreten sind.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2; OEG § 1 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob das beklagte Land (Beklagter) den Klägerinnen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) Entschädigung wegen psychischer Schäden zu leisten hat, die diese angeblich infolge einer an einem nahen Verwandten (J. W. = J. W.) begangenen Gewalttat erlitten haben. J. W. wurde im Juli 1991 während seines Dienstes als Polizeibeamter durch zwei Kopfschüsse verletzt und deswegen bis Mitte September 1992 stationär behandelt, anschließend nach Hause entlassen. Infolge dieser Verletzung blieb er halbseitengelähmt, wesensverändert und an den Rollstuhl gebunden. Seine Frau und seine im Dezember 1985 geborene Tochter, die Klägerinnen zu 1 und zu 2, beantragten 1992 vergeblich Gewaltopferentschädigung. Ihre gegen die Ablehnungsbescheide des Beklagten vom 26. April 1993 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27. und 28. Juli 1993 gerichteten Klagen sind in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Mainz vom 28. Juni 1996 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 18. April 1997). Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin zu 1 Abweichung des LSG von einer Entscheidung des Senats (BSGE 49, 98) und die Klägerin zu 2 grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Beide Beschwerden sind unbegründet.
Was die Beschwerde der Klägerin zu 1 angeht, so fehlt es an der geltend gemachten Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Diese würde allenfalls dann bestehen, wenn der angezogenen Entscheidung des Senats (BSGE 49, 98) tatsächlich der Rechtssatz zugrunde läge, den ihr die Klägerin entnimmt. Die angezogene Entscheidung enthält indessen keinen Rechtssatz dieses Inhalts. Ihr ist in der Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts (BSG) folgender Leitsatz vorangestellt: "Eine Mutter, die aufgrund der Nachricht von einem vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen ihr Kind (hier: von seiner Ermordung) einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erleidet, hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG". Diesen Rechtssatz weitet die Klägerin zu 1 nicht nur auf sonstige nahe Angehörige (hier Ehefrau und Tochter) eines überlebenden, wenn auch schwerverletzten Gewaltopfers aus, sondern entnimmt ihm auch die Aussage, daß nicht nur "der aufgrund der Nachricht" von einer Gewalttat an einem Angehörigen erlittene "Schockschaden" zu entschädigen ist, sondern auch ein psychischer Schaden, der auf einer Reaktion eines Angehörigen auf die infolge der Schädigung des Opfers geänderten Lebensumstände beruht. Ein so weitgehender Rechtssatz liegt aber der fraglichen Entscheidung des Senats nicht zugrunde, so daß das LSG auch nicht von ihm abgewichen sein kann. Die "Nachricht" ist ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender kommunikativer Vorgang und kein Dauerzustand, wie das Vorliegen von geänderten familiären Lebensumständen. Andererseits ist ein "Schockschaden" ein ebenfalls zu einem datierbaren Zeitpunkt ausgelöster, plötzlich eintretender Beginn einer psychischen Beeinträchtigung. So wird etwa im klinischen Wörterbuch von Pschyrembel (258. Aufl auf S 1427 unter II) unter "psychologischer Schock" eine "starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes bedrohliches Ereignis (zB Unfall, Naturerscheinungen)" verstanden. Unter "Schockschaden" iS der von der Klägerin zu 1 zitierten Entscheidung sind nur solche Schäden zu verstehen, die durch einen derartigen "Schock" ausgelöst worden sind, mag auch die sich anschließende psychische Gesundheitsstörung Dauercharakter haben. Nur für einen durch ein zeitlich begrenztes Ereignis ausgelösten "Schockschaden" hat der Senat mithin seinerzeit eine Aussage getroffen. Dagegen bezieht sich der damals vom Senat aufgestellte Rechtssatz nicht auf psychische Beeinträchtigungen, die aufgrund veränderter Lebensumstände - ggf allmählich - eingetreten sind, wie das nach den Feststellungen des LSG hier der Fall war.
Auch die Beschwerde der Klägerin zu 2 ist unbegründet, weil die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nicht vorliegt. Die Rechtssache hätte nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn für den Rechtsstreit eine Rechtsfrage erheblich wäre, die klärungsbedürftig und klärungsfähig ist und eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, RdNr 106 mwN). Die von der Klägerin zu 2 aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein entschädigungspflichtiger Schockschaden iS der Rechtsprechung des BSG auch durch die Konfrontation mit dem schwerstgeschädigten Opfer ausgelöst werden kann, mag insofern klärungsbedürftig sein und über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzen, als noch nicht höchstrichterlich entschieden ist, ob die Wahrnehmung der Schädigungsfolgen dem Erhalt der Nachricht von der Schädigung gleichzustellen ist. Diese Frage ist jedoch nicht klärungsfähig, weil die Entscheidung der Rechtssache nicht von ihrer Beantwortung abhängt. Denn nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hat weder die Unterrichtung der Klägerin zu 2 von der Schädigung erst stattgefunden noch hat die Klägerin zu 2 die Schädigung erstmalig wahrgenommen, nachdem das Gewaltopfer (J. W.) bereits in den Familienkreis zurückgekehrt war. Die Klägerin zu 2 war bereits lange vor der Rückkehr ihres Vaters in den Familienkreis von dessen Verletzung unterrichtet, da sie ihn bereits drei Monate nach der Gewalttat im Oktober 1991 in der Rehabilitationsklinik besucht hatte.
Aber auch die der Beschwerde sinngemäß zu entnehmende Frage, ob Familienangehörige des Gewaltopfers wegen Beeinträchtigungen geschützt sind, die sich aus der häuslichen Gegenwart und Pflegebedürftigkeit des Opfers ergeben, ist nicht klärungsbedürftig. Ihre (verneinende) Beantwortung steht nämlich außer Zweifel (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, RdNr 116; BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4 sowie BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11). Das ergibt sich aus der in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG angeordneten entsprechenden Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Diese sehen eine Entschädigung grundsätzlich nur für unmittelbare Schäden vor (vgl den unveröffentlichten Beschluß des Senats vom 14. Januar 1997 - 9 BVg 81/96 - und BSGE 54, 206 sowie SozR 3100 § 5 Nr 6). An dem Erfordernis der unmittelbaren Schädigung hat der Senat im Grundsatz auch für das OEG festgehalten (BSGE 49, 99, 102 ff) und nur ausnahmsweise auch Schockschäden als unmittelbare Schädigungen angesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen