Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Verwerfung der Berufung als unzulässig. keine Betreuung unter Einwilligungsvorbehalt zum Zeitpunkt der Entscheidung. eigene Ermittlungen zur Prozessunfähigkeit bzw Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Orientierungssatz
Das LSG darf die Berufung eines Klägers nicht als unzulässig verwerfen, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung gem § 158 SGG die vom LSG unterstellten Voraussetzungen einer Betreuung unter Einwilligungsvorbehalt nicht mehr vorliegen. Insofern muss das LSG entweder sofort in eine sachliche Prüfung des Berufungsbegehrens des Klägers eintreten oder, wenn es der Überzeugung ist, die Berufung ist zum Zeitpunkt ihrer Einlegung wegen einer Prozessunfähigkeit des Klägers unzulässig, nunmehr eigene Ermittlungen zur Prozessunfähigkeit anstellen und dem Kläger ggf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5, §§ 158, 71; BGB §§ 1896, 1903 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt sinngemäß Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Das Sozialgericht Berlin hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 1. März 2006 abgewiesen. In seinem Gerichtsbescheid hat es ausgeführt, dass dem Schreiben des Klägers weder ein konkreter Vorgang noch ein eingrenzbarer Verwaltungsvorgang entnommen werden könne. Deshalb sei die Klage mangels eines erkennbaren Regelungsgegenstandes unzulässig.
Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung stand der Kläger unter Betreuung. Für die Aufgabenkreise Vermögenssorge und Vertretung vor Behörden und Gerichten war ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg fragte beim zuständigen Betreuer an, ob die Berufung genehmigt werde, was nicht der Fall war. Deshalb hat das LSG durch Beschluss vom 8. Juli 2008 die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger stehe im Hinblick auf die Vertretung vor Gerichten unter Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt. Soweit ein Betreuter unter Einwilligungsvorbehalt stehe, sei er wie ein partiell beschränkt Geschäftsfähiger zu behandeln und deswegen prozessunfähig. Da der Betreuer des Klägers die Einlegung der Berufung nicht genehmigt habe, sei sie entsprechend § 182 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unwirksam. Die gleichwohl vom Kläger betriebene Berufung sei mangels dessen Prozessfähigkeit (§ 71 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) unzulässig und nach § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen gewesen.
Bereits am 30. Juni 2008 hatte das Amtsgericht Lichtenberg in Berlin unter dem Aktenzeichen 51 XVII 7400 beschlossen, die durch Beschluss vom 12. März 2007 angeordnete Betreuung aufzuheben. Zur Begründung wurde ausgeführt: Ein Betreuer sei nicht mehr zu bestellen, weil die Voraussetzungen des § 1896 BGB nicht vorlägen. Nach den Gutachten leide der Betroffene zwar an einem seelischen Gebrechen, doch sei hier die Bestellung eines Betreuers deshalb nicht erforderlich, weil aktuell ein Fürsorgebedürfnis nicht bestehe. Die Betreuung laufe ins Leere. Der Betroffene lehne die Hilfe ab. Eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen sei nicht möglich, zudem lägen die Voraussetzungen auch nicht vor. Von der Beiordnung eines Verfahrenspflegers sei unter diesen Umständen abzusehen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung des LSG ist verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen. Das LSG hätte nicht durch Beschluss die Berufung des Klägers als unzulässig verwerfen dürfen, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung (8. Juli 2008) die vom LSG unterstellten Voraussetzungen nicht mehr vorlagen. Der Senat hatte hierüber von Amts wegen zu befinden (zur Feststellung der Prozessvoraussetzungen auch durch das Revisionsgericht Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 163 RdNr 5b und § 71 RdNr 3 mit weiteren Nachweisen), sodass dahinstehen kann, ob die Prozessbevollmächtigte des Klägers in ihrer Beschwerdebegründung das Vorliegen eines Verfahrensmangels gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG hinreichend bezeichnet hat. Der Kläger war entgegen der Rechtsansicht des LSG - jedenfalls im Zeitpunkt der Verwerfung der Berufung als unzulässig - nicht prozessunfähig. Er stand zum Zeitpunkt des Beschlusses des LSG gemäß § 158 SGG nicht mehr unter Betreuung. Aus dem zitierten Beschluss des Amtsgerichts Lichtenberg in Berlin vom 30. Juni 2008 geht hervor, dass auch im Übrigen nicht von einer Prozessunfähigkeit des Klägers ausgegangen werden durfte. Insofern hätte das LSG entweder sofort in eine sachliche Prüfung des Berufungsbegehrens des Klägers eintreten müssen oder, wenn es der Überzeugung gewesen wäre, die Berufung sei zum Zeitpunkt ihrer Einlegung wegen einer Prozessunfähigkeit des Klägers unzulässig gewesen, nunmehr eigene Ermittlungen zur Prozessunfähigkeit anstellen und dem Kläger ggf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Beides ist nicht geschehen.
Der Senat hat aufgrund dieses Verfahrensmangels - fälschliche Behandlung des Begehrens als unzulässig - gemäß § 160a Abs 5 SGG den Beschluss des LSG vom 8. Juli 2008 aufgehoben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.
Fundstellen