Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 16.11.2023; Aktenzeichen L 37 SF 232/21 EK AS WA) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. November 2023 wird als unzulässig verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auf 1200 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt in der Hauptsache eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines vor dem SG Potsdam geführten Klageverfahrens, in dem es um die Erstattung überzahlter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ging. Das LSG als Entschädigungsgericht hat einen Entschädigungsanspruch verneint, weil die in erster Instanz verzögerte Bearbeitung des Ausgangsverfahrens dadurch kompensiert worden sei, dass das LSG im Berufungsverfahren die ihm zustehende Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht ausgeschöpft habe. Im Übrigen scheitere ein Anspruch auf Entschädigung in Geld auch an der verfrüht und damit unwirksam erhobenen Verzögerungsrüge(Urteil vom 16.11.2023) .
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Divergenz geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch eine Divergenz ordnungsgemäß dargetan worden sind(vgl§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG ) .
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtssache, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen(stRspr; zBBSG Beschluss vom 3.2.2022 - B 10 ÜG 4/21 B - juris RdNr 7 mwN) . Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
a) Die Klägerin hält folgende Fragen für grundsätzlich bedeutsam,
"ob Sozialsachen, welche die lebensnotwendigen Finanzgrundlagen des Klägers zum Gegenstand haben, einer schnelleren Bearbeitung bedürfen, als sozialrechtliche Angelegenheiten im Allgemeinen, bzw ob auch im vorliegenden Fall trotz der Berufungsrücknahme eine 'instanzübergreifende Betrachtung' vorzunehmen ist",
"ob unter welchen Maßnahmen eine 'instanzübergreifende Betrachtung' geboten ist, wenn die zweite Instanz durch Klagerücknahme beendet wurde",
"ob und in welchem Umfang der Zeitpunkt, zu welchem eine Rechtssache entscheidungsreif ist, für die Feststellung der Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens Bedeutung hat",
"inwieweit die Sozialgerichte gemäßArtikel 6 MRK , 2 I und 20 III Grundgesetz verpflichtet sind, sich mit den klagebegründenden Argumenten auseinanderzusetzen und dies in den Urteilsgründen zu dokumentieren".
b) Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin mit ihren Fragestellungen jeweils auch Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet hat(vgl dazuBSG Beschluss vom 6.1.2022 - B 5 LW 2/21 B - juris RdNr 13 mwN) . Denn sie hat jedenfalls deren Klärungsbedürftigkeit nicht ordnungsgemäß dargelegt. Sie behauptet zwar, dass es keine Rechtsprechung des BSG zur Beantwortung der von ihr aufgeworfenen Fragen gebe. Sie berücksichtigt aber nicht, dass selbst wenn das BSG eine Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, eine Rechtsfrage bereits dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen ist, wenn schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam herausgestellten Rechtsfragen geben(stRspr; zBBSG Beschluss vom 3.2.2022 - B 10 ÜG 4/21 B - juris RdNr 10 ;BSG Beschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 6 ).
So ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG den Ausgangsgerichten - vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls - eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu zwölf Monaten je Instanz zuzubilligen, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss(zBBSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 33 mwN) . Dies hat das BSG aus der Struktur und Gestaltung des sozialgerichtlichen Verfahrens abgeleitet. Es hat damit dem Umstand Rechnung getragen, das grundsätzlich jedem Gericht eine ausreichende Vorbereitungs- und Bedenkzeit zur Verfügung stehen muss. Eine gleichzeitig inhaltliche tiefergehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Richter zugewiesen sind, ist schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich. Dies wird auch vonArt 20 Abs 3 GG undArt 6 Abs 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht verlangt(BSG, aaO mwN) . Auch hat das BSG bereits entschieden, dass die einer Instanz zur Verfügung stehende, nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit entschädigungsmindernd auf eine vorhergehende oder nachfolgende Instanz übertragen werden kann(sogenannte instanzübergreifende Verrechnung der Vorbereitungs- und Bedenkzeiten;BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 23 ff mwN) . Zudem hat das BSG bereits darauf hingewiesen, dass Streitigkeiten um existenzsichernde Grundsicherungsleistungen in der Regel eine überdurchschnittliche Bedeutung für die Kläger des Ausgangsverfahrens haben und dieser Umstand vom Entschädigungsgericht im Rahmen des § 198 Abs 1 Satz 2 GVG zu würdigen ist(vglBSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 39;BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 32) . Des Weiteren hat das BSG schon entschieden, dass es auf die tatsächliche oder vermeintliche Entscheidungsreife eines Ausgangsverfahrens nicht ankommt. Dementsprechend wird die Vorbereitungs- und Bedenkzeit durch die vom Ausgangsgericht angenommene Entscheidungsreife nicht automatisch verkürzt. Allerdings können besondere Umstände des Einzelfalls, insbesondere mit Blick auf die Kriterien des§ 198 Abs 1 Satz 2 GVG , es gebieten, von der Regel einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuweichen und ausnahmsweise einen kürzeren oder längeren Zeitraum anzusetzen(vglBSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 38;BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 56) .
Die Klägerin unterzieht sich in ihrer Beschwerdebegründung nicht der notwendigen Mühe, sich mit der vorgenannten Rechtsprechung des BSG auseinanderzusetzen und prüft demzufolge auch nicht, ob sich hieraus schon Anhaltspunkte zur Beantwortung der ersten drei von ihr gestellten Fragen entnehmen lassen. Allein die Darstellung der eigenen Rechtsansicht reicht hierfür nicht aus.
Sofern die Klägerin mit ihrer vierten Fragestellung auf den rechtsstaatlich notwendigen Mindestinhalt eines sozialgerichtlichen Urteils abzielen will, versäumt sie es bereits, sich mit der Rechtsprechung des BSG zu § 136 Abs 1 Nr 6 SGG zu beschäftigen(vgl hierzuBSG Beschluss vom 30.3.2023 - B 10 ÜG 2/22 B - juris RdNr 37 ;BSG Beschluss vom 27.5.1997 - 2 BU 56/97 - juris RdNr 19 , jeweils mwN). Unabhängig davon zeigt die Klägerin aber auch nicht substantiiert auf, dass das Urteil des Entschädigungsgerichts entgegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG nicht mit Gründen versehen ist.
c) Schließlich hat die Klägerin auch die Klärungsfähigkeit und damit die Entscheidungserheblichkeit der von ihr aufgeworfenen ersten drei Fragestellungen hinsichtlich des von ihr geltend gemachten Anspruchs auf eine Entschädigung in Geld nicht dargelegt. Ist eine Entscheidung mehrfach begründet, so kann die Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn für jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund formgerecht gerügt wird und auch vorliegt(vgl stRspr; zBBSG Beschluss vom 6.1.2023 - B 9 V 22/22 B - juris RdNr 12 ;BSG Beschluss vom 28.2.2022 - B 7/14 AS 325/21 B - juris RdNr 5 ) . Die Klägerin zeigt nicht auf, wieso ihre auf eine Geldentschädigung bezogenen Fragestellungen entscheidungserheblich sein sollten, obwohl das Entschädigungsgericht den Anspruch auf Geldentschädigung auch daran hat scheitern lassen, dass die Klägerin die Verzögerungsrüge zu früh und damit nicht wirksam erhoben habe(vgl§ 198 Abs 3 Satz 1 und Satz 2 Halbsatz 1 GVG ; vglBSG Urteil vom 9.3.2023 - B 10 ÜG 2/21 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 23 RdNr 28;BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 32) .
2. Eine Divergenz hat die Klägerin ebenfalls nicht hinreichend bezeichnet. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn tragende abstrakte Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde liegen, sich widersprechen. Zur ordnungsgemäßen Darlegung eines solchen Widerspruchs im Rechtssatz sind ein oder mehrere entscheidungstragende Rechtssätze aus dem Urteil des Entschädigungsgerichts und abstrakte Aussagen aus einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG gegenüber zu stellen, die zu demselben Gegenstand getroffen worden sind und weiterhin Geltung beanspruchen. Zudem muss die Beschwerde näher begründen, weshalb diese Rechtssätze miteinander unvereinbar sind und warum die Entscheidung des Entschädigungsgerichts auf der Abweichung beruht(stRspr; vgl zBBSG Beschluss vom 30.9.2021 - B 10 ÜG 2/21 B - juris RdNr 7 ;BSG Beschluss vom 14.10.2020 - B 10 ÜG 3/20 B - juris RdNr 6 ) . Es reicht dagegen nicht aus, wenn die Beschwerde die fehlerhafte Anwendung eines - als solchen nicht infrage gestellten - höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Entschädigungsgericht behauptet und damit eine bloße Subsumtionsrüge erhebt. Denn nicht eine falsche Entscheidung im Einzelfall, sondern nur ein Widerspruch im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz(stRspr; vgl zBBSG Beschluss vom 14.10.2020 - B 10 ÜG 3/20 B - juris RdNr 10 ;BSG Beschluss vom 24.4.2015 - B 13 R 37/15 B - juris RdNr 6 ) .
Diese Darlegungsanforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung. Die Klägerin rügt darin ausschließlich eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der Entscheidung des BSG vom 7.9.2017(B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124,136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16) , benennt dabei aber weder einen abstrakten Rechtssatz aus dieser Entscheidung noch stellt sie einem solchen höchstrichterlichen Rechtssatz einen divergierenden abstrakten Rechtssatz des Entschädigungsgerichts aus dem angefochtenen Urteil gegenüber.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab(vgl§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ) .
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen(§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2,§ 169 Satz 2 und 3 SGG ) .
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm§ 154 Abs 2 VwGO .
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm§ 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3,§ 52 Abs 3 Satz 1 ,§ 63 Abs 2 Satz 1 GKG . Die Höhe des Streitwerts entspricht dem von der Klägerin beim Entschädigungsgericht geltend gemachten Entschädigungsanspruch.
Kaltenstein |
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B. Schmidt |
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Othmer |
Fundstellen
Dokument-Index HI16339016 |