Verfahrensgang
SG Hildesheim (Entscheidung vom 24.11.2016; Aktenzeichen S 4 R 500/14) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 09.12.2021; Aktenzeichen L 1 R 328/20) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 9. Dezember 2021 - L 1 R 328/20 - vor dem Bundessozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt S, G, beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Der Kläger begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1977 geborene Kläger leidet an einer überwiegend heterosexuellen Hebephilie, einer Paraphilie in Form eines Fußfetischismus mit Suchtcharakter und einer Persönlichkeitsstörung vom ängstlich-vermeidenden Typ. Er wurde durch rechtskräftiges Urteil des LG Hildesheim vom 9.9.2013 ua wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in 13 Fällen, dabei in drei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Gericht ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an (§ 63 StGB), da der Kläger 20 Taten im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hatte. Eine Gesamtwürdigung seiner Person und seiner Taten ergebe, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche gleichgelagerte rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Seit dem 9.9.2013 ist der Kläger in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Am 1.4.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte lehnte den Antrag mangels Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen ab (Bescheid vom 30.7.2014, Widerspruchsbescheid vom 18.11.2014).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24.11.2016). Mit Urteil vom 9.12.2021 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Dem Kläger stehe kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu. Es könne dahinstehen, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Zur Überzeugung des Senats fehle es an jeglicher Minderung der Erwerbsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht. Der Kläger sei auch nicht deshalb erwerbsgemindert, weil für ihn der Arbeitsmarkt verschlossen sei. Zwar dürfe er eine Erwerbstätigkeit nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten. Dies diene jedoch ausschließlich dem Schutz der Allgemeinheit. Rechtlich wertend betrachtet sei seine Erkrankung nicht die wesentliche Ursache dafür, dass er nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein könne. Die faktische Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarkts werde ausschließlich durch eine andere Ursache - nämlich die wegen der Gefährlichkeit des Klägers für die Allgemeinheit gerichtlich nach § 63 StGB angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - bewirkt.
Der Kläger hat am 17.1.2022 beim BSG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG beantragt.
II
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen. Nach Prüfung des Streitstoffs anhand der beigezogenen Gerichtsakten ist nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.
Die Revision ist nur zuzulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG),
- das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) oder
- ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
1. Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG sind nicht erkennbar. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist (vgl BSG Beschluss vom 17.6.2019 - B 5 R 61/19 B - juris RdNr 9). Das ist hier der Fall. Die Voraussetzungen, unter denen eine Erwerbsminderungsrente zu gewähren ist, ergeben sich unmittelbar aus § 43 SGB VI. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass im Fall einer wegen der Gefährlichkeit eines Straftäters für die Allgemeinheit angeordneten Unterbringung diese Unterbringung die im Rechtssinne ausschließliche Ursache dafür ist, dass eine Erwerbstätigkeit nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeübt werden kann (vgl BSG Urteil vom 25.5.2018 - B 13 R 30/17 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 21 RdNr 17 ff). Dabei hat das BSG als Maßstab für die Kausalitätsprüfung die spezifisch sozialrechtliche Lehre von der wesentlich mitwirkenden Bedingung zugrunde gelegt. Danach ist allein wesentlich im Rechtssinne eine Ursache dann, wenn sie bei wertender Betrachtung gegenüber anderen Ursachen von überragender Bedeutung ist. Das hat das BSG für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf der Grundlage von § 63 StGB in Bezug auf die Erwerbsminderung bejaht. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG Kammerbeschluss vom 6.5.2020 - 1 BvR 2202/18).
Entgegen der Auffassung des Klägers hat das BSG nicht lediglich über einen für ihn nicht einschlägigen "Sonderfall" im Maßregelvollzug entschieden, in dem die Unterbringung nicht auf einer Krankheit, sondern auf einer fehlenden Mitwirkung des Untergebrachten bei der Therapie beruhte. Es hat vielmehr generell darauf abgestellt, dass die wegen der Gefährlichkeit des Klägers für die Allgemeinheit gerichtlich nach § 63 StGB angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wesentliche Ursache dafür sei, dass keine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes möglich sei. Insofern entspricht der vom BSG bereits entschiedene Fall dem des Klägers.
Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann zwar (erneut) klärungsbedürftig werden, wenn der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl BSG Beschluss vom 5.2.2019 - B 1 KR 34/18 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 17.11.2021 - B 5 R 221/21 B - juris RdNr 14). Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass dies im Fall des Klägers möglich sein könnte, sind hier allerdings nicht erkennbar.
Der Kläger ist der Auffassung, der Maßregelvollzug diene vorrangig der Heilung und Besserung einer Behinderung. Dies habe zur Folge, dass es verfassungsrechtlich und auch nach Art 14 EMRK sowie der UN-BRK nicht haltbar sei, einen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung ausschließlich wegen der Gefährlichkeit des Untergebrachten zu verneinen und nicht maßgeblich auf die Behinderung abzustellen. Hierbei verkennt der Kläger, dass der Zweck der Maßregel nach § 63 StGB darin besteht, die Allgemeinheit vor dem Erkrankten zu schützen. Lediglich die Belange der öffentlichen Sicherheit sind geeignet, eine Freiheitsentziehung unabhängig vom Maß der Schuld auf unbestimmte Zeit zu rechtfertigen (vgl BVerfG Beschluss vom 27.3.2012 - 2 BvR 2258/09 - BVerfGE 130, 372, 389 ff = juris RdNr 52 ff). Zwar sind dem Untergebrachten von Anfang an geeignete Konzepte anzubieten, um seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nach Möglichkeit zu beseitigen und ihn auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten (therapiegerichtete und freiheitsorientierte Anlage des Maßregelvollzugs, vgl BVerfG aaO S 391, 393 = juris RdNr 55, 62). Dies ändert jedoch nichts an dem vorrangigen Sicherungszweck und der Kausalitätsbewertung der Unterbringung im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung (vgl BSG Urteil vom 25.5.2018 - B 13 R 30/17 R - aaO RdNr 19 unter Hinweis auf die Rspr des BGH zu § 63 StGB). Dass der Kläger die Auffassung vertritt, bei der wertenden Feststellung der Kausalität seien in seinem Fall andere Schwerpunkte zu setzen, vermag eine grundsätzliche Bedeutung nicht zu begründen. Ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1, Abs 3 Satz 2 GG ist in diesem Zusammenhang nicht zu erkennen.
Soweit der Kläger einen Verstoß gegen Art 5 Abs 1 EMRK geltend macht, ist dieser ebenfalls nicht ersichtlich. Art 5 Abs 1 Buchst a bis f EMRK enthält eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung (EGMR Urteil vom 25.2.2016 - 53157/11 - juris RdNr 45). Für den Fall einer Freiheitsentziehung "nach" Verurteilung iS von Art 5 Abs 1 Buchst a EMRK, wie sie beim Kläger gegeben ist, bedeutet dies, dass zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen muss. Dieser kann zweifelhaft sein, wenn dem Untergebrachten geeignete Therapien vorenthalten werden, mit denen er beweisen könnte, dass er nicht mehr gefährlich ist (vgl EGMR aaO RdNr 47 f). Anhaltspunkte dafür, dass die Gewährleistungen in Art 5 EMRK für die Auslegung oder Anwendung der Anspruchsvoraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung in § 43 SGB VI von Bedeutung sein könnten, sind nicht erkennbar.
Entsprechendes gilt, soweit der Kläger ausführt, die Begriffsbestimmung von "Menschen mit Behinderung" in Art 1 Satz 2 UN-BRK, der auch die meisten im Maßregelvollzug untergebrachten Personen unterfielen, spreche gegen eine Bewertung der Unterbringung als überragende krankheitsunabhängige Ursache im Rahmen des § 43 SGB VI. Es ist nicht erkennbar, dass das Gebot der Nichtdiskriminierung aufgrund von Behinderung nach Art 5 Abs 2 UN-BRK und die Gewährleistung nach Art 14 Abs 1 Buchst b UN-BRK, dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt, einer Freiheitsentziehung zB aufgrund einer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit entgegensteht. Eine Berücksichtigung des Umstands einer Unterbringung aufgrund bestehender Gefährlichkeit für die Allgemeinheit bei der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung vorliegen, ist daher auch nicht geeignet, eine Verletzung von Rechten nach der UN-BRK zu begründen (s dazu auch BSG Urteil vom 16.6.2015 - B 13 R 12/14 R - BSGE 119, 136 = SozR 4-2600 § 10 Nr 3, RdNr 22).
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden.
Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (vgl BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 9 mwN). Auch dafür liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Das LSG hat sich in seiner angefochtenen Entscheidung ausdrücklich auf die Rechtsprechung des BSG bezogen und sich ihr angeschlossen. Die vom Kläger angeführten Fundstellen zu vermeintlich entgegenstehenden Aussagen des BGH sind nicht nachvollziehbar. Im Übrigen kann auf eine Divergenz zur Rechtsprechung des BGH nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden. Soweit der Kläger einen Widerspruch zu Entscheidungen des BVerfG sieht, bezieht er sich auf Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung (BVerfG Urteil vom 4.5.2011 - 2 BvR 2333/08 ua - BVerfGE 128, 326 = juris RdNr 101) und zum Maßregelvollzug (BVerfG Beschluss vom 27.3.2012 - 2 BvR 2258/09 - BVerfGE 130, 372 = juris RdNr 52 ff). Auch in diesen Entscheidungen sieht das BVerfG indes als maßgeblich rechtfertigenden Grund für die Freiheitsentziehung die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit an. Eine Divergenz ist insofern nicht erkennbar.
3. Schließlich vermag der Senat auch nicht festzustellen, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen kann. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dass ein solcher entscheidungserheblicher Verfahrensmangel aufgezeigt werden und vorliegen könnte, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die Beteiligten haben insbesondere ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) erklärt.
4. Da dem Kläger nach alledem PKH nicht zusteht, entfällt zugleich die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Düring Gasser Hahn
Fundstellen
Dokument-Index HI15274536 |