Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. "Heraufholen" eines bisher nicht einbezogenen Verfahrensgegenstandes in die höhere Instanz. Zustimmung der Beteiligten

 

Orientierungssatz

Ein Verfahrensgegenstand kann üblicherweise nur dann über ein Rechtsmittel des durch die Nichteinbeziehung Beschwerten in die nächste Instanz "heraufgeholt" werden, wenn alle Beteiligten zustimmen. Diese Zustimmung kann aber auch konkludent erfolgen (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R = BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 27 und vom 21.7.2009 - B 7 AL 49/07 R = BSGE 104, 76 = SozR 4-4300 § 22 Nr 2, RdNr 19).

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 95

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 13.06.2017; Aktenzeichen S 96 AS 4312/16)

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 22.11.2018; Aktenzeichen L 34 AS 1509/17)

 

Tenor

Dem Kläger wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. November 2018 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der bezeichneten Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Satz 2 SGG). Ungeachtet des Umstands, dass dem Kläger wegen der versäumten Frist zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war, ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig, weil der Kläger zur Begründung seiner Beschwerde keinen der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG schlüssig dargelegt oder bezeichnet hat.

Der Kläger macht mit seiner Beschwerdebegründung vom 29.5.2019 allein einen Verfahrensmangel geltend (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), ohne ihn hinreichend zu bezeichnen. Eine solche Bezeichnung setzt voraus, dass das BSG allein anhand der Begründung darüber entscheiden kann, ob ein Verfahrensmangel in Betracht kommt, indem diejenigen Tatsachen, aus denen sich der Mangel ergeben soll, substantiiert dargetan werden (vgl nur BSG SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 16 mwN). Dies ist nicht erfolgt.

Der Kläger rügt mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, das LSG habe über die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Meldeaufforderung entschieden, ohne hierzu berufen gewesen zu sein, weil das SG hierüber keine Entscheidung getroffen habe, sondern nur über die Aufhebung des Minderungsbescheids. Das Urteilsergänzungsverfahren nach § 140 SGG sei vorrangig gewesen. Entgegen der Ansicht des LSG hätten die Voraussetzungen für ein "Heraufholen von Prozessresten" nicht vorgelegen.

Mit diesem Vortrag hat der Kläger einen Verfahrensmangel nicht schlüssig bezeichnet. Insbesondere lässt sich auf der Grundlage der Beschwerdebegründung nicht abschließend überprüfen, ob die Voraussetzungen für ein "Heraufholen von Prozessresten" vorgelegen haben.

Soweit der Kläger rügt, das SG habe bewusst über den Feststellungsantrag nicht entschieden und diesen Streitgegenstand ausgeklammert, weswegen eine Urteilsergänzung nach § 140 SGG unzulässig gewesen sei, ist der Vortrag nicht schlüssig, weil das SG nach dem mitgeteilten Sachverhalt gerade nicht nach § 140 SGG entschieden, sondern das LSG diesen Verfahrensgegenstand in das Berufungsverfahren "heraufgeholt" hat. Im Übrigen folgt aus dem Umstand, dass der Kläger auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der (erledigten) Meldeaufforderung beantragt hatte, das SG aber insoweit nur eine Inzidentprüfung vornahm und ausschließlich über die Aufhebung der Minderung entschied (vgl hierzu BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 19/14 R - BSGE 119, 17 = SozR 4-4200 § 31a Nr 1, RdNr 30), nicht, das SG habe die Feststellung bewusst ausgeklammert, weil das Gericht nach § 123 SGG über die erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Soweit die Beschwerde weiter rügt, ein "Heraufholen von Prozessresten" setze voraus, dass die Beteiligten zugestimmt hätten, was nicht der Fall gewesen sei, genügt dies als Bezeichnung des Verfahrensmangels ebenfalls nicht. Nach der Rechtsprechung des BSG kann ein Verfahrensgegenstand zwar "üblicherweise" nur - über ein Rechtsmittel des durch die Nichteinbeziehung Beschwerten - in die nächste Instanz "heraufgeholt" werden, wenn alle Beteiligten zugestimmt haben. Diese Zustimmung kann aber auch konkludent erfolgen (BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 27; BSG vom 21.7.2009 - B 7 AL 49/07 R - BSGE 104, 76 = SozR 4-4300 § 22 Nr 2, RdNr 19), wovon das LSG nach dem mitgeteilten Sachverhalt ausging. Hierzu lassen sich der Beschwerde keine Ausführungen entnehmen. Sie teilt schon nicht mit, welchen Antrag der Kläger im Berufungsverfahren gestellt hat und ob der Feststellungsantrag hiervon weiterhin umfasst war (vgl hierzu BSG vom 28.8.2007 - B 7/7a AL 10/06 R - RdNr 11).

Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

 

Fundstellen

ZAP 2020, 78

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