Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweichung nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG. Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Schadensschätzung
Orientierungssatz
1. Eine Divergenz liegt auch dann vor, wenn das Berufungsgericht den widersprechenden Rechtssatz nicht ausdrücklich formuliert, sondern lediglich verdeckt anwendet. In diesem Fall bedarf es jedoch einer Herausarbeitung des (angeblichen) Widerspruchs.
2. Ein Verfahrensmangel kann auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 - freie Überzeugung des Gerichts - und auf eine Verletzung des § 103 SGG - Untersuchungsmaxime - nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
3. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht eine Schätzung des Schadens gemäß § 287 ZPO vorgenommen hat und dabei das strafgerichtliche Geständnis des Klägers zugrunde legte.
Normenkette
SGG § 160a Abs 2 S 3, § 160 Abs 2 Nr 2, § 160 Abs 2 Nr 3, §§ 103, 128 Abs 1 S 1; ZPO § 287 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.12.1988; Aktenzeichen L 5 Ka 5/88) |
Gründe
Der Kläger, der von 1972 bis 1986 als Hautarzt eine kassen- und vertragsärztliche Praxis in W. betrieben hat, wurde durch Urteil des Landgerichts (LG) Mainz vom 22. Januar 1987 wegen Betrugs zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe und zu einer Geldstrafe von 10.000,-- DM verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, in den Quartalen III/1978 bis II/1984 in Höhe von 457.025,01 DM Gebühren abgerechnet zu haben, deren (ziffernmäßige) Leistungen er überhaupt nicht oder nicht in abrechnungsfähiger Weise erbracht habe. Dem Urteil lag ein umfassendes Geständnis zugrunde, das strafmildernd berücksichtigt wurde.
Die Beklagte hob die Honorarbescheide auf, kürzte die Honoraransprüche um den zugestandenen Schadensbetrag und forderte den Differenzbetrag zurück. Der Widerspruch des Arztes wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 1987). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen.
Mit der von ihm erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, der Divergenz von einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), sowie des Verfahrensmangels geltend (§ 160 Abs 2 Nrn 1, 2, 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Hierzu hat er ua vorgetragen: Entgegen der Ansicht des LSG, es seien nur zweifelsfreie Betrugsfälle verfolgt und eingestanden worden, habe er seinen damaligen Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Sch. , als Zeugen dafür benannt, daß dies nicht zutreffe und daß er - der Kläger - die Fälle gegen seine Überzeugung eingestanden habe; ihm sei alles gleichgültig gewesen und er habe nur möglichst rasch den Abschluß des Strafverfahrens herbeiführen wollen.
Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Soweit der Kläger eine Abweichung von dem Urteil des BSG vom 20. Mai 1976, Az: 8 RU 98/75, geltend macht, nennt er zwar als dort aufgeführten Rechtssatz, daß die "Verwertung des Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises (grundsätzlich) eine eigene Beweiserhebung (im sozialgerichtlichen Verfahren) nicht ersetzen" kann (- vgl BSGE 42, 42, 43 unten und SozR 2200 § 550 RVO Nr 14; in beiden Veröffentlichungen sind jedoch die weiteren Ausführungen des Urteils zu dem genannten Rechtssatz weggelassen worden -).
Er hat jedoch gegenüber dem Rechtssatz des BSG weder einen angeblich logisch entgegenstehenden Rechtssatz des Berufungsgerichts herausgestellt noch die rechtslogische Unvereinbarkeit der gegenübergestellten Rechtssätze dargelegt, was beides zu der nach § 160 Abs 2 SGG geforderten Begründung notwendig gewesen wäre. Die Beschwerde muß dartun, in welcher ganz konkreten Hinsicht die beiden Rechtssätze miteinander unvereinbar, weil sich widersprechend, sind (- vgl Beschluß des erkennenden Senats vom 14. Juli 1986, Az: 6 BKa 28/85 sowie BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 - Beschluß vom 29. September 1975, Az: 8 BU 64/75 -). Zwar liegt eine Divergenz auch dann vor, wenn das Berufungsgericht den widersprechenden Rechtssatz nicht ausdrücklich formuliert, sondern lediglich verdeckt anwendet. Aber gerade hier bedarf es einer Herausarbeitung des (angeblichen) Widerspruchs. Das ist hier nicht geschehen. Ein Widerspruch ergibt sich hier aber schon deswegen nicht ohne weiteres, weil der Beschwerdeführer selbst die Wendung des BSG-Urteils "abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen" aufgreift und dementsprechend den von ihm angeführten Rechtssatz um das Wort "grundsätzlich" erweitert. Der Beschwerdeführer hätte daher zur Darlegung eines Widerspruchs jedenfalls herausarbeiten müssen, inwiefern der Rechtssatz des BSG auch für Fälle eines strafgerichtlichen Geständnisses Geltung beansprucht.
2. Auch soweit der Kläger einen Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend macht, fehlt es an dem Formerfordernis einer hinreichenden Begründung. Nach dieser Vorschrift kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 - freie Überzeugung des Gerichts - und auf eine Verletzung des § 103 SGG - Untersuchungsmaxime - nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Darauf, daß der Kläger außerhalb der gesetzlichen Zulassungsgründe das Berufungsurteil aus materiellen oder prozessualen Gründen angreift und auch auf eigene Tatsachenbehauptungen abstellt, kann es hier nicht ankommen. Was er sonst vorbringt, ist aber allenfalls als Verfahrensrüge nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG und § 103 SGG bedeutsam. Abgesehen davon, daß die Beschwerde einen Verfahrensmangel nach § 128 SGG schon gar nicht ausdrücklich bezeichnet, kann, wie oben ausgeführt, ein Verfahrensmangel grundsätzlich nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden. Einen Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze wurde nicht geltend gemacht. Eine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme hat der Kläger ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Er hat zwar vorgetragen, das LSG habe seine Entscheidung auf die strafgerichtlichen Feststellungen gestützt, hat dies jedoch nicht spezifiziert dargestellt, wonach das LSG sich in erster Linie auf sein Geständnis stützt.
Zu einem möglichen Verfahrensmangel nach § 103 SGG wird der nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG erforderliche Beweisantrag in folgenden Zusammenhängen erwähnt:
a) Dem LSG sei vorgetragen worden, daß sein - des Klägers - Verteidiger versucht habe, ihn - den Kläger - von dem Eingestehen eines nicht zutreffenden Sachverhalts abzuhalten, nachdem er seinem Verteidiger zu verstehen gegeben habe, daß ihm alles gleichgültig sei, er das Strafverfahren nur möglichst rasch abgeschlossen haben wolle. Das LSG habe die Vernehmung des als Zeugen benannten Rechtsanwalts aber mit der Begründung abgelehnt, dieser könne keine Aussagen zu medizinischen Fragen machen. Von der Beschwerde wird hierzu aber nicht dargelegt, inwiefern das LSG dem Beweisantrag "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt sei. Das LSG hat dazu ausgeführt, die medizinische Frage, ob das Geständnis des Klägers in einem die freie Willensentscheidung ausschließenden Zustand erfolgt sei, könne der als Zeuge benannte Rechtsanwalt Dr. Sch. nicht beantworten. Diese Begründung des LSG ist nicht unvertretbar, so daß selbst dann, wenn der Kläger den geltend gemachten Verfahrensmangel hinreichend dargelegt hätte, die Beschwerde insoweit jedenfalls unbegründet wäre. Das LSG mußte sich nicht gedrängt fühlen, den Verteidiger über das vom Kläger benannte Beweisthema zu vernehmen.
b) Dem LSG sei weiter Beweis dafür angeboten worden, daß nicht nur zweifelsfreie Betrugsfälle verfolgt und eingestanden worden seien, der Kläger vielmehr gegen seine Überzeugung nicht nur zweifelsfreie Fälle eingestanden habe. Abgesehen davon, daß der Kläger nicht ausdrücklich erklärt, welches Beweismittel er insoweit angeboten hat, er möglicherweise aber den in der Beschwerdebegründung eine Seite zuvor genannten Rechtsanwalt Dr. Sch. meint, so hat er jedenfalls auch hier nicht dargelegt, welche Begründung das LSG insoweit gegeben hat und inwiefern die Ablehnung des Beweisantrages "ohne hinreichende Begründung" erfolgte (§ 160 Abs 2 Nr 3, zweiter Halbsatz SGG).
3. Soweit der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), ist eine Klärungsbedürftigkeit nicht dargelegt. Der Kläger sieht es als klärungsbedürftig an, ob eine Beratungsgebühr nach Ziffer 1 BMÄ dann anfällt, wenn der Kassenarzt den Angehörigen eines abwesenden Versicherten berät und er hält auch die Auslegung einer weiteren Gebührenziffer für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Der Kläger hat jedoch nicht dargelegt, inwiefern in dem angestrebten Revisionsverfahren mit einer Entscheidung über diese Fragen zu rechnen ist (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, DAngVers 1989, 115, 123). Das wäre rechtlich nur möglich, wenn die Schadensfeststellung des LSG aus Gründen, die der freien Beweiswürdigung logisch vorgeordnet sind, rechtswidrig wäre. Diese Ansicht wird zwar vom Kläger vorgebracht, er macht sie jedoch, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, nicht (in formerforderlicher Weise) zugleich zum Gegenstand einer der drei Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG.
4. Soweit dem Vorbringen des Klägers eine sonstige Rüge des berufungsgerichtlichen Vorgehens bei der Tatsachenfeststellung entnommen werden kann, hat er einen Verstoß gegen prozessuale - nicht in ausdrückliche Vorschriften gefaßte - rechtliche Grundsätze ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Selbst wenn man sein Vorbringen aber als ausreichend ansehen würde, wäre die Beschwerde jedenfalls nicht begründet. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das LSG eine Schätzung des Schadens gemäß § 287 Zivilprozeßordnung (ZPO) vorgenommen und dabei das strafgerichtliche Geständnis des Klägers zugrunde legte. Welche Umstände das LSG dabei herangezogen und wie es sie beweismäßig gewürdigt hat, wurde vom Kläger aber nicht in einer nach den §§ 160 Abs 2, 160a Abs 2 SGG zulässigen Weise gerügt.
5. Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen