Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. Schwerbehindertenrecht. Bewertung eines Einzel-GdB. erforderliche Darlegung der Auswirkungen auf den Gesamt-GdB. abweichende Bewertung durch das LSG während der mündlichen Verhandlung. keine Überraschungsentscheidung durch späteres Urteil. rechtliches Gehör. sozialgerichtliches Verfahren
Orientierungssatz
1. Wird die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen, muss zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muss (vgl BSG vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 = SozR 3-3870 § 4 Nr 5).
2. Hat das LSG bereits im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Auffassung geäußert, dass der GdB für eine konkrete Gesundheitsbeeinträchtigung (abweichend von den bisherigen Feststellungen aller bisherigen Beteiligten) niedriger anzusetzen sei, liegt keine Überraschungsentscheidung vor, wenn diese Frage vom LSG später so entschieden wird.
Normenkette
SGG § 160a Abs 2 S. 3, § 160 Abs 2 Nr. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1, §§ 62, 128 Abs 1 S. 1; SGB IX § 152 Abs. 1 S. 1; VersMedV Anlage Teil A Nr. 3; VersMedV § 2; GG Art. 103
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. September 2018 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 anstelle von bisher 40. Das LSG hat den geltend gemachten Anspruch verneint (Urteil vom 6.9.2018). Entgegen der Einschätzung des Beklagten und des SG komme aufgrund der aktenkundigen Untersuchungsbefunde für die Polyneuropathie und damit für das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" kein Einzel-GdB von 30, sondern lediglich ein Einzel-GdB von 20 in Betracht. Unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB für die Funktionssysteme "Rumpf" und "Arme" von jeweils 20 scheide ein Gesamt-GdB von 50 aus.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgründe Verfahrensmängel und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 14.12.2018 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Sofern der Kläger als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) darin sieht, dass das LSG kein Gutachten zur Festsetzung des Einzel-GdB der Polyneuropathie und des Gesamt-GdB eingeholt habe, erfüllt sein Vortrag die Darlegungsanforderungen für eine Sachaufklärungsrüge nicht.
Wird ein Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt, muss die Beschwerdebegründung hierzu folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zur weiteren Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf einer angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme von seinem Standpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (zum Ganzen siehe Senatsbeschlüsse vom 13.2.2017 - B 9 SB 41/16 B - Juris RdNr 6 und vom 28.9.2015 - B 9 SB 41/15 B - Juris RdNr 5).
Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Ein - wie hier - in der Berufungsinstanz anwaltlich vertretener Beteiligter kann nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (stRspr zB Senatsbeschluss vom 25.9.2017 - B 9 SB 51/17 B - Juris RdNr 7 mwN). Nach Sinn und Zweck des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG soll die Sachaufklärungsrüge die Revisionsinstanz nur dann eröffnen, wenn das Tatsachengericht vor seiner Entscheidung durch einen Beweisantrag ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass ein Beteiligter die Sachaufklärungspflicht des Gerichts (§ 103 SGG) noch nicht als erfüllt ansieht (vgl BSG Beschluss vom 21.12.2017 - B 13 R 303/17 B - Juris RdNr 6 mwN).
Es reicht daher nicht aus, lediglich vorzutragen, das Gericht hätte noch einmal selbst ermitteln und ein Zusammenhangsgutachten einholen müssen. Unabhängig davon, dass der Kläger keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG (iVm § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 403 ZPO) bezeichnet hat (allgemein zu den diesbezüglichen Anforderungen siehe Senatsbeschluss vom 7.10.2016 - B 9 V 28/16 B - Juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 10.10.2016 - B 13 R 172/16 B - Juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 5.2.2015 - B 13 R 372/14 B - Juris RdNr 12, jeweils mwN), zeigt er in der Beschwerdebegründung - anders als erforderlich - nicht auf, dass er einen entsprechenden Antrag auch noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 6.9.2018 durch Hinweis zu Protokoll gestellt und aufrechterhalten habe. Auch legt der Kläger nicht dar, dass das LSG in dem angefochtenen Urteil einen entsprechenden Beweisantrag wiedergegeben habe.
Die Rüge des Klägers, das Berufungsgericht habe in Bezug auf die Festsetzung des Einzel-GdB für die Polyneuropathie seine Kompetenzen überschritten, sich medizinische Sachkunde angemaßt und notwendige weitere Ermittlungen unterlassen, greift ebenfalls nicht durch. Der Kläger verkennt, dass der Einzel-GdB keiner eigenen Feststellung zugänglich ist. Denn er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts und ist nicht isoliert anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung (Senatsurteil vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 - SozR 3-3870 § 4 Nr 5 S 26 = Juris RdNr 20). Wird die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen, muss zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muss (vgl Senatsurteil vom 5.5.1993 aaO). An entsprechenden substantiierten Ausführungen fehlt es in der Beschwerdebegründung jedoch.
Soweit der Kläger eine Überraschungsentscheidung geltend macht und damit eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) beanstandet, ergibt sich aus dem von ihm geschilderten Vorgehen des LSG der behauptete Verfahrensmangel jedoch nicht. Um aufzuzeigen, dass er von der Entscheidung des LSG überrascht worden sein könnte, hätte er darlegen müssen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nach bisherigem Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BSG Beschluss vom 20.8.2008 - B 13 R 217/08 B - Juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B - Juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B - Juris RdNr 9). Dies hat der Kläger nicht getan. Er trägt selbst vor, dass das LSG bereits in der mündlichen Verhandlung, bei der er mit seinem Prozessbevollmächtigten anwesend war, der Auffassung gewesen sei, die Polyneuropathie sei lediglich mit einem GdB von 20 zu bewerten. Vor diesem Hintergrund hat der Kläger aber nicht dargetan, dass er seinerseits alles Erforderliche getan habe, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dass er keine Gelegenheit gehabt hätte, sich in der mündlichen Verhandlung vom 6.9.2018 zum Verfahrensstand und zum Prozessstoff sachgemäß zu äußern, behauptet der Kläger nicht. Er trägt nicht vor, dass es in der mündlichen Verhandlung nicht möglich gewesen sei, im Hinblick auf die Auffassung des LSG vorsorglich zu beantragen, einen Sachverständigen zu den hier interessierenden sozialmedizinischen Auswirkungen der Polyneuropathie und der daraus resultierenden Bemessung des GdB zu hören. Er behauptet auch nicht, dass das LSG ihn daran gehindert habe.
Soweit der Kläger schließlich die in seinem Fall erfolgte Bemessung des Einzel-GdB für die Polyneuropathie und die Gesamt-GdB-Bewertung durch das LSG aufgrund dessen Auswertung der aktenkundigen medizinischen Berichte und Gutachten angreift, rügt er die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein nicht gestützt werden (vgl Senatsbeschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris RdNr 9).
2. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 35/17 B - Juris RdNr 4). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Kläger misst der folgenden Frage grundsätzliche Bedeutung bei:
"Ist die Berufungsinstanz berechtigt, die bisher von allen Beteiligten unstreitig angenommene Annahme, ein Einzel-GdB für eine Polyneuropathie betrage im konkreten Einzelfall 30 ohne weitere Ermittlungen auf einen Einzel-GdB von 20 abzusenken, so dass die bisherigen Feststellungen der Versorgungsverwaltung dadurch unterlaufen werden und hierdurch eine unzulässige Verschlechterung im Rechtsmittelverfahren bewirkt wird?"
Der Kläger hat damit bereits keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet. Denn er hat keine abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht (s hierzu BSG Beschluss vom 16.1.2018 - B 14 AS 234/17 B - Juris RdNr 3; BSG Beschluss vom 11.1.2017 - B 12 R 25/16 B - Juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 10.9.2014 - B 10 ÜG 3/14 B - Juris RdNr 11) formuliert. Soweit er in der von ihm gestellten Frage ausführt, ob die Berufungsinstanz berechtigt sei, "die bisher von allen Beteiligten unstreitig angenommene Annahme, ein Einzel-GdB für eine Polyneuropathie betrage im konkreten Einzelfall 30 ohne weitere Ermittlungen auf einen Einzel-GdB von 20 abzusenken", bezieht sich dieser Vortrag ausschließlich auf den vom Berufungsgericht entschiedenen Einzelfall des Klägers. Die Formulierung einer abstrakten, aus sich heraus verständlichen Rechtsfrage durch den Beschwerdeführer ist jedoch unverzichtbar, damit das BSG als Beschwerdegericht an ihr die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen kann (stRspr zB BSG Beschluss vom 9.1.2017 - B 12 KR 35/16 B - Juris RdNr 9). Die von dem Kläger im Kern seines Vortrags gerügte inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidung des LSG in seinem Einzelfall scheidet als Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein aus (vgl Senatsbeschluss vom 21.8.2017 - B 9 V 19/17 B - Juris RdNr 9).
Zudem prüft der Kläger nicht, ob sich aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung des BSG Anhaltspunkte für die Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Fragestellung ergeben. Denn auch dann gilt eine Rechtsfrage bereits als höchstrichterlich geklärt (Senatsbeschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - Juris RdNr 6 mwN). Vor diesem Hintergrund reicht der schlichte Hinweis des Klägers, aus dem oben genannten Senatsurteil vom 5.5.1993 (9/9a RVs 2/92 - SozR 3-3870 § 4 Nr 5) ergebe sich zu der aufgeworfenen Fragestellung nichts, keinesfalls aus, zumal er sich mit dem Inhalt dieser Entscheidung vor dem Hintergrund der mit der aufgeworfenen Frage thematisierten isolierten Beanstandung eines Einzel-GdB nicht ansatzweise auseinandergesetzt hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13022639 |