Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirtschaftlichkeitsprüfung. Honorarkürzung auf 20 Prozent über dem Fachgruppendurchschnitt. Unwirtschaftlichkeit im Bereich der Übergangszone

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung kann eine Kürzung auch auf nur 20% über dem Fachgruppendurchschnitt in Betracht kommen, wenn es sich um eine sehr homogene Fachgruppe handelt und eventuelle Praxisbesonderheiten vorab herausgerechnet worden sind. Dementsprechend hat das BSG bereits unter bestimmten Voraussetzungen Kürzungen auf ca 30% als rechtmäßig angesehen (vgl BSG vom 6.9.2000 - B 6 KA 24/99 R = SozR 3-2500 § 106 Nr 50).

2. Auch im Bereich der Übergangszone kann sich Unwirtschaftlichkeit ergeben (vgl zB BSG vom 6.9.2000 - B 6 KA 24/99 R aaO). Hier reicht allerdings für die Annahme einer Unwirtschaftlichkeit die Überschreitung von Durchschnittswerten allein nicht aus. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- bzw Verordnungsweise anhand einer "genügend beleuchteten Zahl von Beispielen" nachgewiesen wird (BSG aaO).

 

Normenkette

SGB 5 § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 04.12.2003; Aktenzeichen L 5 KA 30/02)

SG Mainz (Urteil vom 09.10.2002; Aktenzeichen S 2 KA 507/00)

 

Tatbestand

Der beklagte Beschwerdeausschuss setzte gegen den Kläger, einen Orthopäden mit den Praxisschwerpunkten ambulantes Operieren und Schmerztherapie, einen Arzneikostenregress wegen unwirtschaftlichen Verordnungsverhaltens im Quartal IV/1997 fest. Die Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 83,1 % sei wegen der Praxisbesonderheiten ambulante Operationen und Schmerztherapie zunächst um die Verordnungen von Arzneien zur Thromboseprophylaxe und um die Verordnungen von Opioid-Analgetika zu bereinigen. Mit dem verbleibenden Verordnungsbetrag liege er aber noch 70,7 % über dem Fachgruppendurchschnitt. Insoweit seien keine Praxisbesonderheiten mehr erkennbar. Festzustellen seien vielmehr durch die Diagnosen nicht begründete Verordnungen teurer Präparate, Verstöße gegen die Arzneimittel-Richtlinien, häufige Verordnungen im Bereich kritisch bewerteter Indikationsgruppen und Verordnungen Vitamin-B-haltiger Präparate ohne Ausnahmeindikation. Dem Kläger werde gegenüber dem Fachgruppendurchschnitt eine Überschreitungstoleranz von 20 % eingeräumt. Nach Abzug von 5 % wegen des Apothekenrabatts und von 17,6 % wegen der Eigenanteile der Versicherten verbleibe ein Regressbetrag von 3.484,20 DM = 1.781,44 €. Der Kläger ist - nach erfolgloser Klage zum Sozialgericht - beim Landessozialgericht (LSG) erfolgreich gewesen. Dieses hat den Bescheid des Beklagten aufgehoben und ihn zur erneuten Bescheidung verurteilt. Rechtswidrig sei der Bescheid insoweit, als der Beklagte den Regress in voller Höhe ab Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 20 % festgesetzt habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bewege sich eine Überschreitung um 20 % in der Regel noch im Bereich der "normalen Streuung". Oberhalb schließe sich zunächst die "Übergangszone" an und erst dann werde die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis erreicht, deren Überschreiten den Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit begründe. Das BSG habe den Prüfgremien Ermessen zugebilligt und die Festlegung dieser Grenze auf weniger als 50 %, uU - so in einem Einzelfall entschieden - bis zu 42,8 %, als ermessensfehlerfrei angesehen. Im vorliegenden Fall habe der Beklagte die Grenze bereits bei Überschreitung der "normalen Streubreite" gesetzt und keinen Übergangsbereich zugestanden. Ein völliger Verzicht auf diesen sei aber rechtswidrig.

Mit ihren Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG machen die Beigeladenen zu 2., 6. und 7. die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Rechtsprechungsabweichung geltend.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerden der Beigeladenen haben keinen Erfolg. Die von ihnen erhobene Grundsatzrüge ist zwar zulässig, aber nicht begründet; die Divergenzrüge ist bereits unzulässig.

Ihr Vorbringen, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), entspricht zwar den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Ihre Beschwerde ist mithin zulässig. Sie ist aber unbegründet, denn nicht alle Erfordernisse für die Revisionszulassung sind erfüllt. Diese setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; Nr 30 S 57 f mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls sich die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder der bisherigen Rechtsprechung ergibt, ebenso dann, wenn zwar keine ausdrückliche normative Regelung dieses Falles und auch noch keine Rechtsprechung zu dieser Konstellation, aber Rechtsprechung bereits zu Teilaspekten vorliegt und sich hieraus ohne Weiteres die Beantwortung der Rechtsfrage ableiten lässt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl zB BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 29. Mai 2001 - 1 BvR 791/01 -, und früher schon BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f; Nr 7 S 14; s auch BVerfG ≪Kammer≫, DVBl 1995, 35).

Hinsichtlich der von den Beigeladenen aufgeworfenen Rechtsfrage,

ob die Prüfgremien im Einzelfall befugt sind, die Grenzziehung zum offensichtlichen Missverhältnis bereits bei einer Überschreitung von 20 % über dem Fachgruppendurchschnitt festzusetzen,

ist eine grundsätzliche Bedeutung nicht gegeben. Es fehlt letztlich an der Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) dieser Rechtsfrage.

Die von den Beschwerdeführern aufgeworfene Rechtsfrage richtet sich darauf, ob eine Honorarkürzung auf 20 % über dem Fachgruppendurchschnitt rechtmäßig sein kann. Ob dieser Frage überhaupt grundsätzliche Bedeutung zukommt - nämlich Klärungsbedarf besteht -, kann dahinstehen. Denn schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG kann eine Kürzung auch auf nur 20 % über dem Fachgruppendurchschnitt in Betracht kommen, nämlich dann, wenn es sich um eine sehr homogene Fachgruppe handelt und eventuelle Praxisbesonderheiten wie im vorliegenden Fall schon vorab herausgerechnet worden sind. Dementsprechend hat das BSG bereits unter bestimmten Voraussetzungen Kürzungen auf ca 30 % als rechtmäßig angesehen (s BSG, Urteil vom 6. September 2000 - B 6 KA 24/99 R = SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 266 f).

Diese Frage kann aber im vorliegenden Fall - vor dem Hintergrund des Kontextes des Berufungsurteils - nicht zur Klärung im Revisionsverfahren anstehen, sodass die Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) fehlt. Das LSG hat den Bescheid des Beklagten deshalb als rechtswidrig aufgehoben, weil dieser bei der Festlegung der Kürzung nicht beachtet habe, dass sich die Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts in die normale Streubreite, die Übergangszone und den Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses gliedere und er auf die Übergangszone völlig verzichtet habe. Nach der Rechtsprechung des BSG kann sich auch im Bereich der Übergangszone Unwirtschaftlichkeit ergeben (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 267). Hier reicht allerdings für die Annahme einer Unwirtschaftlichkeit die Überschreitung von Durchschnittswerten allein nicht aus. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- bzw Verordnungsweise anhand einer "genügend beleuchteten Zahl von Beispielen" nachgewiesen wird (BSG aaO). Auf der Grundlage der Rechtsauffassung des LSG, dass der Beklagte die Übergangszone und die bei ihr zu beachtenden Kürzungsvoraussetzungen nicht berücksichtigt habe, stünde die in der Beschwerdebegründung aufgeworfene generelle Frage, ob ein offensichtliches Missverhältnis bereits ab einer Überschreitung des Durchschnitts um 20 % angenommen werden kann, in dem mit der Beschwerde angestrebten Revisionsverfahren nicht zur Entscheidung an. Diese Rechtsfrage ist mithin nicht entscheidungserheblich (klärungsfähig).

Unzulässig ist die von den Beigeladenen erhobene Rüge, es liege eine Rechtsprechungsabweichung vor (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Nach den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen müsste die Beschwerdebegründung entscheidungstragende Rechtssätze im Berufungsurteil und in einer höchstrichterlichen Entscheidung, die sich auf revisibles Recht iS des § 162 SGG beziehen, einander gegenüberstellen und ausführen, inwiefern sie miteinander nicht vereinbar sind und dass die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruht. Daran fehlt es. Die Beigeladenen sind der Ansicht, das BSG habe in seiner Rechtsprechung die Festlegung des offensichtlichen Missverhältnisses auf einen Bereich ab 20 % über dem Fachgruppendurchschnitt für uU zulässig erklärt. Das LSG hat sein Urteil aber - wie aufgezeigt - entscheidend auf einen anderen Gesichtspunkt gestützt, nämlich darauf, dass ein völliger Verzicht auf eine Übergangszone rechtswidrig sei. Diesem Rechtssatz wird in der Beschwerdebegründung keine dem widersprechende Aussage des BSG gegenüber gestellt. Mithin haben sie nicht gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargelegt, dass bzw inwiefern das Urteil des LSG auf einer Abweichung von der Rechtsprechung des BSG beruhen könnte.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG abgesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung). Ein Anlass für eine Kostenerstattung auch zu Gunsten des Beklagten besteht nicht, denn dieser steht den Unterlegenen gleich, weil er mit seiner schriftsätzlichen Unterstützung ihrer Position gleichfalls erfolglos geblieben ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1755800

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