Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 21.10.2021; Aktenzeichen S 120 AL 1166/16) |
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29.06.2022; Aktenzeichen L 14 AL 104/21) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. Juni 2022 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten in der Sache die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Das SG hat seine Klage - ohne mündlich zu verhandeln - abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 21.10.2021). Im Berufungsverfahren hat das LSG am 27.4.2022 Termin zur mündlichen Verhandlung für den 29.6.2022 bestimmt. Mit einem am 28.6.2022 um 19:49 Uhr bei Gericht eingegangenen Faxschreiben hat der im Berufungsverfahren nicht anwaltlich vertretene Kläger Terminverlegung aus gesundheitlichen Gründen beantragt und ein ärztliches Attest vom 2.5.2022 übersandt. Daraus ergibt sich, dass er ua unter einer depressiven Störung als mittelgradige Episode leide, die sich bei einer psychischen Belastung sofort drastisch verschlechtern würde. In der Zeit vom 2.5.2022 bis 31.8.2022 könne er keine Termine beim Jobcenter und bei der Agentur für Arbeit wahrnehmen, weil diese für ihn eine erhebliche psychische Belastung darstellen würden. Einem weiteren Arztbericht vom 10.4.2017 lässt sich entnehmen, dass bei dem Kläger schon damals eine mittelgradige ängstlich-depressive Störung mit krankheitsbedingten Ein- und Durchschlafstörungen vorgelegen habe, die sich insbesondere in zeitlicher Nähe zu gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitsamt verstärken würden.
Der Vorsitzende des Berufungssenats hat den Terminverlegungsantrag am Morgen des Sitzungstags abgelehnt. Zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger nicht erschienen. Das LSG hat die Berufung aufgrund der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen (Urteil vom 29.6.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger Beschwerde eingelegt, mit der er einen Verfahrensmangel geltend macht. Das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es seinen Verlegungsantrag abgelehnt und in seiner Abwesenheit entschieden habe. Der unvertretene Kläger habe deutlich gemacht, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen, aber daran am 29.6.2022 aus gesundheitlichen Gründen gehindert zu sein. Mit der Vorlage des ärztlichen Attests, dem sich zumindest sinngemäß eine Reise- und Verhandlungsunfähigkeit bis Ende August 2022 entnehmen lasse, habe er aus seiner Sicht alles getan, um seine Erkrankung glaubhaft zu machen.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der allein als Zulassungsgrund geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Grundsatz räumt den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 ZPO). Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 2 ZPO). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 4 Satz 1 Halbsatz 1 ZPO). Die Beurteilung, ob ein erheblicher Grund vorliegt, liegt grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Gerichts (vgl BSG vom 8.12.2020 - B 1 KR 58/19 B - juris RdNr 12; BSG vom 14.6.2021 - B 4 AS 86/21 B - juris RdNr 8). Dieses Ermessen kann sich allerdings auf Null reduzieren mit der Folge, dass der Termin aufgehoben werden muss, wenn andernfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wäre (BSG vom 19.8.2021 - B 11 AL 39/21 B - juris RdNr 3 mwN). Liegt ein erheblicher Grund für eine Terminverlegung iS des § 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO vor und wird dies ordnungsgemäß beantragt, besteht grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung, selbst wenn das persönliche Erscheinen des Klägers - wie hier - nicht angeordnet worden ist. Dabei hat die zeitliche wie inhaltliche Behandlung von Anträgen auf Terminverlegung der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (BSG vom 20.5.2020 - B 13 R 254/17 B - juris RdNr 6 mwN). Solange der Termin seitens des Gerichts nicht aufgehoben worden ist, müssen die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass die anberaumte mündliche Verhandlung stattfindet (BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 76/22 B ua - juris RdNr 11 mwN).
Wird eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gerügt, ist ein Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet, wenn sich der Beschwerdebegründung nicht entnehmen lässt, dass der Betroffene alles Zumutbare unternommen hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl zur dieser Obliegenheit BSG vom 29.11.2022 - B 11 AL 21/22 B - juris RdNr 9 mwN auch aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung). Dazu gehört auch, einen Antrag auf Terminverlegung unverzüglich zu stellen, nachdem die Verhinderung bekannt wird (BVerwG vom 20.4.2017 - 2 B 69.16 - Buchholz 235.1 § 52 BDG Nr 8, juris RdNr 8). Angesichts der zeitlichen Abläufe hätte der Kläger deshalb darlegen müssen, aus welchem Grund er die Terminverlegung erst am Vorabend der anberaumten mündlichen Verhandlung beantragt hat, obwohl das vorgelegte ärztliche Attest bereits vom 2.5.2022 stammt. Dass dies auf ein plötzliches Ereignis oder eine akute gravierende Verschlechterung seines Gesundheitszustands zurückzuführen ist, lässt sich weder der Begründung des Verlegungsantrags noch der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde entnehmen. Bei längere Zeit anhaltenden Auswirkungen einer chronischen Erkrankung wäre der Kläger zumindest gehalten gewesen, das LSG rechtzeitig zu informieren, und diesem dadurch zu ermöglichen, vor seiner Entscheidung eigene Ermittlungen durchzuführen, um beurteilen zu können, ob ein die Terminsaufhebung rechtfertigender erheblicher Grund iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO vorliegt (siehe zum Ganzen BSG vom 1.3.2023 - B 6 KA 18/22 B - juris RdNr 53 f, dort auch zur Obliegenheit, bei chronischer Erkrankung Vorkehrungen für eine mögliche Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu treffen, etwa in Gestalt der Beauftragung eines Rechtsanwalts oder der Begleitung durch einen Beistand; vgl zur prozessualen Mitwirkungspflicht eines Beteiligten auch BVerwG vom 20.4.2017 - 2 B 69.16 - Buchholz 235.1 § 52 BDG Nr 8, juris RdNr 8).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Söhngen |
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Burkiczak |
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B. Schmidt |
Fundstellen
Dokument-Index HI16129376 |