Leitsatz (amtlich)
Zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall (SGG § 162 Abs 1 Nr 3) gehört nicht die Frage, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit im Sinne des RVO § 542 Abs 1 ursächlich zusammenhängt.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) gehört nicht die Frage, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit im Sinne des § 542 Abs. 1 RVO ursächlich zusammenhängt.
Gründe
Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat in seiner Sitzung vom 30. November 1956 beschlossen, dem Großen Senat folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen:
Gehört zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) die Frage, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit im Sinne des § 542 Abs. 1 RVO ursächlich zusammenhängt?
Nach dem Vorlagebeschluß des 2. Senats handelt es sich in dem ihm vorliegenden Rechtsstreit um den Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Witwenrente aus der Unfallversicherung. Der Ehemann der Klägerin, der zusammen mit seiner Ehefrau eine Damenschneiderei und einen Stoffhandel betrieb, ist beim Transport eines Motorrades tödlich verunglückt. Diese Tätigkeit hat das Landessozialgericht (LSG.) nicht als versichert angesehen und deswegen den Anspruch der Klägerin abgelehnt; gegen das Urteil hat es die Revision nicht zugelassen. Die Klägerin meint, ihr Ehemann habe bei dem Transport des Motorrades unter Versicherungsschutz gestanden, und rügt mit ihrer Revision, daß das LSG. bei seiner Entscheidung insoweit den ursächlichen Zusammenhang des Todes ihres Ehemannes mit einem Arbeitsunfall im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unrichtig beurteilt habe. Andere Rügen hat sie nicht erhoben.
Der 2. Senat hatte daher zu entscheiden, ob diese Rüge die Revision statthaft macht. Das erschien ihm zweifelhaft. Wie er dazu ausführt, hat das Bundessozialgericht zu der im Vorlagebeschluß formulierten Frage noch nicht Stellung genommen. Entschieden hat es bisher nur, daß die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht die Einordnung eines betrieblichen Ereignisses unter den Begriff des Unfalls betrifft (SozR. SGG § 162 Bl. Da 2 Nr. 11), wohl aber den Zusammenhang zwischen der durch einen Arbeitsunfall verursachten Beeinträchtigung der Gesundheitsstörung und den Folgen eines späteren, nicht unter Versicherungsschutz stehenden Unfalls (BSG. 1 S. 254). Auch Rechtsprechung und Schrifttum behandeln die vorgelegte Frage nicht oder doch nur nebenher. Beide erörtern vielmehr, wie der 2. Senat dargelegt hat, hauptsächlich die im Wortlaut ähnlichen §§ 55 Abs. 1 Nr. 3, 150 Nr. 3 und 214 Abs. 1 Nr. 1 SGG und behandeln dabei die Frage - und zwar mit widersprechendem Ergebnis -, ob nur der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsstörung oder Tod oder auch der ursächliche Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Unfallereignis gemeint ist. Soweit im Zusammenhang mit diesen Vorschriften überhaupt auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG eingegangen wird, handelt es sich um Rückschlüsse, die aus der Auslegung der dem § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ähnlichen Vorschriften gezogen werden.
Von einer Würdigung der widerstreitenden Meinungen sah der 2. Senat ab. Er ist der Auffassung, die strittige, von ihm formulierte Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung; von der Klärung dieser Frage hänge auch die Statthaftigkeit der Revision in einer Vielzahl von Fällen sowohl in der Unfallversicherung als auch in der Kriegsopferversorgung ab. Im Interesse der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sah er sich daher veranlaßt, die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen.
Der Große Senat war gemäß § 43 SGG berechtigt, die vorgelegte Frage zu entscheiden. Er hat entschieden, daß zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) nicht die Frage gehört, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit im Sinne des § 542 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ursächlich zusammenhängt.
Der Große Senat ist mit dem vorlegenden Senat der Meinung, daß trotz der Ähnlichkeit des § 162 Abs. 1 Nr. 3 mit den §§ 55 Abs. 1 Nr. 3, 150 Nr. 3 und 214 Abs. 1 Nr. 1 SGG aus der Deutung dieser Vorschriften nicht ohne weiteres und zwingend Rückschlüsse auf die Auslegung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG möglich sind. Jene Vorschriften und § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG weichen nämlich nicht nur im Wortlaut voneinander ab, sie haben vielmehr auch eine verschiedene Stellung im Verfahren, so daß dahingestellt bleiben soll, ob ihre verfahrensrechtliche Aufgabe eine einheitliche Auslegung zuläßt oder fordert.
Der Große Senat hat deshalb - den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen entsprechend - zunächst geprüft, ob nicht aus dem Wortlaut des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG selbst und aus seiner Funktion die vorgelegte Frage zu beantworten ist. Das trifft nach seiner Auffassung zu.
Nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist die Revision an das Bundessozialgericht (BSG.) auch ohne Zulassung durch das LSG. statthaft, "wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einem Arbeitsunfall ... das Gesetz verletzt ist". Das Berufungsgericht muß also bei einem ganz bestimmten Teil seiner zur Entscheidung führenden Tätigkeit das Gesetz verletzt haben, und zwar bei der Beurteilung der ursächlichen Verknüpfung zweier Anspruchsvoraussetzungen, nämlich einer Gesundheitsstörung (oder des Todes) mit einem Arbeitsunfall. Hiervon ist der Begriff "Arbeitsunfall" im § 542 RVO gesetzlich definiert. Er ist danach ein Unfall, den "ein Versicherter bei einer der in den §§ 537 bis 540 genannten Tätigkeiten erleidet". Die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG sind also nur dann gegeben, wenn das Gesetz bei der Beurteilung der ursächlichen Verknüpfung einer Gesundheitsstörung (oder des Todes) mit einem so definierten Arbeitsunfall verletzt ist, nicht aber bei der Beurteilung, ob die einzelnen, einen Arbeitsunfall ergebenden Merkmale vorliegen, ob also die verletzte Person zum Kreis der Versicherten gehörte, das schädigende Ereignis ein Unfall war, die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignete, dem Schutz der Unfallversicherung unterstand, und ob der Versicherte durch die versicherte Tätigkeit der konkreten Unfallgefahr ausgesetzt war, in diesem Sinne also den Unfall "bei" der versicherten Tätigkeit erlitten hat. Auch dieses zuletzt angeführte Merkmal des Arbeitsunfalls verlangt eine ursächliche Verknüpfung; diese Verknüpfung ist jedoch nur eines unter mehreren Merkmalen des Begriffs Arbeitsunfall, und ihr Vorhandensein ist vorausgesetzt, wenn es sich darum handelt, die ursächliche Verknüpfung eines Arbeitsunfalls mit einer Gesundheitsstörung zu beurteilen. Selbstverständlich ist für den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall nicht jedes seiner Merkmale gleich bedeutsam. Sie alle zusammen ergeben erst den Begriff "Arbeitsunfall". Zum ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO gehört also nicht mehr die Frage, ob die einzelnen Merkmale des dort definierten Arbeitsunfalls gegeben sind und wie sie untereinander zusammenhängen. Selbst wenn demnach der § 542 RVO nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, weil die Entscheidung über das Vorhandensein der Merkmale des Arbeitsunfalls, insbesondere die Entscheidung über die ursächliche Verknüpfung zwischen versicherter Tätigkeit und Unfall, nicht richtig ist, wird dadurch nicht die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft. Die vom 2. Senat vorgelegte Frage war daher zu verneinen.
Gegen dieses Ergebnis läßt sich nicht einwenden, daß damit auf dem Gebiet der Unfallversicherung die wichtigsten Anspruchsvoraussetzungen der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen würden. Denn bei allen zulässigen Revisionen hat das Revisionsgericht stets zu prüfen und zu entscheiden, ob bei jeder einzelnen Voraussetzung das Gesetz richtig angewendet worden ist.
Zu unterscheiden von der Frage, in welchem Umfang das Revisionsgericht die angefochtene Entscheidung nachzuprüfen hat, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Revisionsgericht überhaupt zu einer sachlichen Entscheidung berufen ist. Nur diese Frage regelt § 162 Abs. 1 SGG. Danach ist regelmäßig die Revision dann statthaft, wenn das Berufungsgericht sie zuläßt, und dieses hat sie zuzulassen, wenn über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist oder das Berufungsgericht von bestimmten höchstrichterlichen Entscheidungen abweichen will (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Hiernach macht keine noch so große wirtschaftliche Bedeutung des Einzelfalls für die Betroffenen die Revision statthaft; eine Vorschrift über die Statthaftigkeit der Revision wegen der Höhe des Streitwerts besteht - anders als im Verfahren nach der Zivilprozeßordnung und dem Arbeitsgerichtsgesetz und dem Verfahren vor dem Bundesfinanzhof - im SGG nicht. Durch diese Regelung wird betont, daß es die wichtigste Aufgabe eines Revisionsgerichts ist, mit seinen Entscheidungen die Einheit der Rechtsprechung zu sichern und der Fortbildung des Rechts zu dienen.
Zwei Ausnahmen von der Zulassungsrevision kennt freilich das SGG und regelt sie in den Nr. 2 und 3 des § 162 Abs. 1. In diesen Fällen ist die Revision, wie sich aus dem Vergleich mit der Nr. 1 dieses Absatzes ergibt, auch statthaft, wenn die zu entscheidenden Rechtsfragen keine grundsätzliche Bedeutung haben. Die Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ("wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird") gilt für alle der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Angelegenheiten und soll eine Gewähr dafür bieten, daß die Berufungsgerichte im Einzelfall nicht gegen wesentliche Verfahrensvorschriften verstoßen. Die zweite Ausnahme (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG), auf die sich die vorgelegte Frage bezieht, ist beschränkt auf Streitigkeiten aus der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung. Hier handelt es sich um die Beurteilung einer der materiellen Anspruchsvoraussetzungen, aber nur einer einzigen, genau bezeichneten und damit aus den übrigen herausgelösten Anspruchsvoraussetzung. Aus dem Zusammenhang der Vorschriften über die Statthaftigkeit der Revision läßt sich auch kein Anhalt dafür entnehmen, daß in der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung die Revision in einem wesentlich weiteren Umfang statthaft sein sollte als in den anderen, der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Rechtsgebieten. Es muß sich für die Anwendbarkeit des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG um die das Gesetz verletzende Beurteilung einer beiden Rechtsgebieten und nur ihnen gemeinsamen Frage handeln. Das aber ist die ursächliche Verknüpfung einer Gesundheitsstörung oder des Todes einerseits mit einem Arbeitsunfall oder einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) andererseits. Die Frage, ob die Tatbestandsmerkmale des Arbeitsunfalls oder der Schädigung im Sinne des BVG gegeben sind, ist zwar wichtig, sie ist aber den beiden Gebieten nicht gemeinsam, und sie ist auch weder wichtiger noch schwieriger zu beurteilen als die Anspruchsvoraussetzungen in den übrigen der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebieten. Auch der Zusammenhang der Vorschriften über die Statthaftigkeit der Revision in der Sozialgerichtsbarkeit zwingt also dazu, die vom 2. Senat gestellte Frage zu verneinen.
Schließlich kann auch der Einwand, § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG verliere jede praktische Bedeutung, wenn man ihn nur in so engen Grenzen anwenden wolle, zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn trotz dieser engen Grenzen bleiben noch Gruppen von Fällen übrig, in denen eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs in Betracht kommt und damit die Revision statthaft sein kann. Es braucht sich nicht nur darum zu handeln, daß die in der Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm auf die unmittelbare ursächliche Verknüpfung einer Gesundheitsstörung mit dem vom Gericht festgestellten Arbeitsunfall nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, es gibt auch noch manche andere Fälle. Als Beispiele seien der Zusammenhang späterer Unfälle und ihrer Folgen mit einem früheren Arbeitsunfall und der Zusammenhang weiterer Gesundheitsstörungen oder des Todes mit einem Unfalleiden angeführt.
Aus diesen Erwägungen hat der Große Senat entschieden, daß § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG es nicht zuläßt, zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall auch die Frage zu rechnen, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit im Sinne des § 542 Abs. 1 RVO ursächlich zusammenhängt. Dieser Zusammenhang ist beim Gebrauch des Begriffs "Arbeitsunfall" ebenso vorausgesetzt wie das Vorhandensein der übrigen im § 542 RVO definierten Begriffsmerkmale.
Der Große Senat hatte nur die ihm vorgelegte Frage zu beantworten, er konnte seine Entscheidung daher nicht auf die Anwendung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG bei Streitigkeiten aus der Kriegsopferversorgung oder aus der Unfallversicherung bei Berufskrankheiten erstrecken.
Seine Entscheidung berührt auch nicht die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des SGG, die eine ähnliche Fassung wie § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG haben. Ob Wortlaut und verfahrensrechtliche Bedeutung dieser Vorschriften eine andere Auslegung fordern oder zulassen, konnte dahingestellt bleiben. Der Große Senat brauchte diese Vorschriften nicht zur Auslegung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG heranzuziehen, weil die ihm vom 2. Senat vorgelegte, die Auslegung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG betreffende Frage bereits nach dem Wortlaut dieser Vorschrift selbst und ihrer Stellung und Bedeutung im Revisionsverfahren so, wie geschehen, entschieden werden mußte.
Fundstellen
Haufe-Index 2259948 |
BSGE, 120 |