Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Bergmannsvollrentenanspruch. Wartezeit. Untertagetätigkeit. Rechtliches Gehörs. Fehlen von Urteilsgründen
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt vor allem, dass die Entscheidung nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
2. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt nicht die Verpflichtung der Instanzgerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen.
3. Zum Mindestinhalt eines Urteils gehört die Angabe der angewandten Rechtsnorm und der für erfüllt bzw. nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe.
4. Wenn der Anspruch bereits an der Hauptbegründung scheitert, ohne Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung aufzuwerfen, kann dahingestellt bleiben, ob und welche grundsätzlichen Fragen die Hilfsbegründung des LSG aufwirft; diese sind nicht mehr entscheidungserheblich (klärungsfähig).
5. Welche Tätigkeiten Untertagetätigkeiten i.S. des Art. 2 § 6 Abs. 1 Nr. 3 RÜG sind, ist in Art. 2 § 23 Abs. 2 RÜG geregelt; welche Zeiten einer Untertagetätigkeit gleichgestellt sind, bestimmt Art. 2 § 23 Abs. 4 RÜG.
Normenkette
SGG §§ 62, 128 Abs. 2, § 136 Abs. 1 Nr. 6, §§ 202, 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 Nr. 3; ZPO § 313 Abs. 3; RÜG Art. 2 § 66 Abs. 1 Nr. 3, Art. 2; RÜG § 17 Abs. 3 Nr. 4 Buchst. b, aa; RÜG Art. 2 § 23 Abs. 2, 4; SozPflVRVDBest 1 § 42 Abs. 1, § 11 Abs. 5 Buchst. c; EinigVtr Art. 30 Abs. 5; GG Art. 103
Verfahrensgang
Thüringer LSG (Urteil vom 05.07.2001) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 5. Juli 2001 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Antrag des im Dezember 1944 geborenen Klägers auf Gewährung von Bergmannsvollrente nach Art 2 § 6 Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) ist von der Beklagten abgelehnt worden, weil der Kläger die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Dieser Rechtsauffassung haben sich die Vorinstanzen im Ergebnis angeschlossen. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seiner Entscheidung vom 5. Juli 2001 ausgeführt, ein Anspruch sei schon deswegen nicht gegeben, weil der Kläger statt der nach Art 2 § 6 Abs 1 Nr 3 RÜG erforderlichen mindestens 15 Jahre (= 180 Monate) lediglich 153 Monate Untertagetätigkeit aufweise; die Monate Januar bis September 1991, in denen er von der Arbeit freigestellt gewesen sei, könnten insoweit nicht berücksichtigt werden. Zwar schließe dies nach Art 2 § 6 Abs 2 RÜG nicht von vornherein einen Anspruch auf Bergmannsvollrente aus; dieser beginne dann jedoch frühestens um die Anzahl der Monate später, die an einer 15-jährigen Untertagetätigkeit fehlten, und läge damit im Fall des Klägers erst nach dem 31. Dezember 1991 als dem letzten Tag des möglichen Beginns einer Rente nach Übergangsrecht (vgl Art 2 § 1 Abs 1 Nr 3 RÜG). Darüber hinaus sei auch die Wartezeit einer bergbaulichen Versicherung von 25 Jahren (Art 2 § 6 Abs 1 Nr 2 RÜG) nicht erfüllt, denn insoweit seien nur 241 Monate belegt. Die Zeit der vom Kläger nach seinem Ausscheiden aus dem Bergbau ausgeübten versicherungspflichtigen Tätigkeit als Leiter einer Straßenmeisterei könne insoweit nicht angerechnet werden. Nach der einschlägigen Bestimmung des Art 2 § 17 Abs 3 Nr 4 Buchst b Doppelbuchst aa RÜG sei Voraussetzung für die Anrechnung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit außerhalb des Bergbaus nicht nur, dass mindestens zehn Jahre Untertagetätigkeit ausgeübt und diese Tätigkeit im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen aufgegeben worden sei. Die versicherungspflichtige Tätigkeit außerhalb des Bergbaus müsse auch vereinbarungsgemäß aufgenommen worden sein; daran aber fehle es. Die Tätigkeit des Klägers nach Schließung des Bergwerks zum 30. September 1991 sei nicht im og Sinn vereinbarungsgemäß erfolgt; es bestehe auch kein – zumindest erforderlicher – innerer Zusammenhang dieser Tätigkeit mit dem Bergbau und der bergbaulichen Versicherung. Eine analoge Anwendung der Bestimmung komme nicht in Betracht. Es handele sich um eine Ausnahmeregelung, die nicht erweiternd interpretiert werden dürfe; im Übrigen bestehe auch keine Gesetzeslücke.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel des LSG sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
Entscheidungsgründe
II
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers den gesetzlichen Anforderungen an die Darlegungspflicht genügt, dh in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache „dargelegt” und die Verfahrensmängel hinreichend „bezeichnet” sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen nicht vor.
Der Kläger rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Grundgesetz ≪GG≫) und das Fehlen von Urteilsgründen (§ 136 SGG). So habe das LSG seine Ausführungen zur Widersprüchlichkeit und Verfassungswidrigkeit des Art 2 § 17 Abs 3 Nr 4 Buchst b RÜG nicht zur Kenntnis genommen und in den Urteilsgründen nicht berücksichtigt; die Verfassungswidrigkeit des Art 23 Abs 4 RÜG (gemeint ist wohl: Art 2 § 23 RÜG) sei im Urteil nicht erwähnt. Diese und die in der Beschwerdebegründung enthaltenen weiteren Ausführungen hinsichtlich des schriftsätzlichen und mündlichen Vortrags des Klägers, der Vorbereitung und des Gangs der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren sowie der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils ergeben jedoch keinen Verfahrensmangel.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt vor allem, dass die Entscheidung nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Der Kläger behauptet nicht, er habe sich im Berufungsverfahren zur verfassungsrechtlichen Problematik des in seinem Fall anwendbaren Rechts des Art 2 RÜG nicht äußern können; denn er trägt selbst vor, dass und wie er sich in der Berufungsbegründung und in der mündlichen Verhandlung eingelassen hat. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das LSG, wie der Kläger rügt, dessen Argumentation nicht zur Kenntnis genommen hat. Denn insoweit führt der Kläger selbst aus, sein mündlicher Vortrag zu den verfassungsrechtlichen Implikationen sei vom LSG mit Hinweis auf die beendete Redezeit mit der Begründung unterbrochen worden, die Rechtsfrage sei höchstrichterlich geklärt, Verfassungsfragen spielten in dem Rechtsstreit keine Rolle, und dies sei dann auch so in der mündlichen Urteilsbegründung erklärt worden. Das Gericht hat demzufolge die verfassungsrechtlichen Ausführungen des Klägers sehr wohl zur Kenntnis genommen, wenn auch nicht geteilt. Im Übrigen folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht die Verpflichtung der Instanzgerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen.
b) § 136 Abs 1 SGG bestimmt, was „das Urteil enthält”; nach Nr 6 gehören dazu die „Entscheidungsgründe”. Was hierunter zu verstehen ist, ergibt der nach § 202 SGG entsprechend anwendbare § 313 Abs 3 Zivilprozessordnung (ZPO). Danach enthalten die Entscheidungsgründe „eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht”. Zum Mindestinhalt eines Urteils gehört deshalb nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Angabe der angewandten Rechtsnorm und der für erfüllt bzw nicht gegeben erachteten Tatbestandsmerkmale sowie der dafür ausschlaggebend gewesenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe (vgl BSG Beschluss vom 3. Mai 1984 – 11 BA 188/83 – SozR 1500 § 136 Nr 8; BSG Urteile vom 17. November 1987 – 5b RJ 10/87 – SozR 2200 § 1246 Nr 152 und vom 15. November 1988 – 4/11a RA 20/87 – SozR 1500 § 136 Nr 10; BSG Beschluss vom 17. Dezember 1997 – 9 BV 122/97 – veröffentlicht in Juris). Danach fehlen die „Entscheidungsgründe”, wenn überhaupt keine Gründe zu einem entscheidungserheblichen Streitpunkt vorhanden sind bzw die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, sodass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind (vgl auch BVerwG Beschluss vom 5. Juni 1998 – 9 B 412/98 – NJW 1998, 3290 mwN). Ein kurzer Hinweis, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, genügt, mögen diese Gründe unvollständig, unzureichend, unrichtig oder sonst fehlerhaft sein (vgl BSG Urteile vom 7. Dezember 1965 – 10 RV 405/65 – SozR Nr 9 zu § 136 SGG, vom 15. November 1988 – 4/11a RA 20/87 – SozR 1500 § 136 Nr 10; Beschlüsse vom 24. Januar 1996 – 11 BAr 149/95 –, vom 11. November 1998 – B 5 RJ 170/98 B – und BVerwG aaO NJW 1998, 3290); auch braucht das Gericht nicht zu Fragen Stellung zu nehmen, auf die es nach seiner Auffassung nicht ankommt (vgl BSG Beschluss vom 23. März 1999 – B 4 RA 165/98 B – veröffentlicht in Juris).
Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich kein Verfahrensverstoß. Das LSG hat – wie bereits der Kläger selbst ansatzweise vorbringt – die Gründe für die Klageabweisung angegeben und die dafür nach seiner Auffassung maßgeblichen Anforderungen des Art 2 RÜG für verfassungsgemäß gehalten. Dass der Kläger diese Auffassung für unzutreffend und die Argumentation des LSG für unzureichend hält, vermag einen Verfahrensfehler nicht zu begründen.
2. Auch soweit der Kläger (unter II seiner Beschwerdebegründung) zahlreiche Fragen aufwirft und als Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung gewertet wissen will, ergibt sich kein Zulassungsgrund.
Das LSG hat – wie eingangs dargestellt – die angefochtene Entscheidung mehrfach begründet. Es hat den Klageanspruch auf eine Bergmannsvollrente einerseits – als Hauptbegründung – verneint, weil der Kläger wegen Nichterfüllung der erforderlichen (15-jährigen) Untertagetätigkeit (Art 2 § 6 Abs 1 Nr 3 RÜG) auch bei Erfüllung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen den für die Anwendung des Art 2 RÜG maßgeblichen Stichtag verfehlt. Andererseits – als Hilfsbegründung – hat das LSG den Anspruch auch wegen Nichterfüllung der Wartezeit einer bergbaulichen Versicherung von 25 Jahren (Art 2 § 6 Abs 1 Nr 2 RÜG) verneint. Da der Anspruch bereits an der Hauptbegründung scheitert, ohne Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung aufzuwerfen, kann dahingestellt bleiben, ob und welche grundsätzlichen Fragen die Hilfsbegründung des LSG aufwirft; diese sind nicht mehr entscheidungserheblich (klärungsfähig).
Zur Hauptbegründung der fehlenden 15-jährigen Untertagetätigkeit (Art 2 § 6 Abs 1 Nr 3 RÜG) formuliert die Beschwerdebegründung die Fragen
(1) ob eine Untertagetätigkeit iS des (Art 2) § 17 Abs 2 RÜG nur dann vorliegt, wenn der Bergmann seiner Tätigkeit tatsächlich nachgegangen ist, oder ob … eine Freistellung (seitens des Arbeitgebers) … der Bejahung einer Untertagetätigkeit nicht entgegenstehen kann, jedenfalls dann nicht, wenn das Arbeitsverhältnis fortbesteht, der vertraglich geschuldete Lohn weitergezahlt wird, die Freistellung nicht auf einem schuldhaften Verhalten des Bergmannes beruht und der Wille zur Aufnahme einer Anschlussbeschäftigung vorhanden ist,
sowie (sinngemäß: wenn Letzteres verneint werden müsse)
(2) ob Art 2 § 23 Abs 4 RÜG mit Art 3 GG vereinbar sei, als dort (derartige) bezahlte Freistellungen nicht erfasst seien.
Die erste Frage ist schon deshalb nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie sich – wie auch der Kläger einräumt – bereits aus dem Gesetz beantwortet. Welche Tätigkeiten Untertagetätigkeiten iS des Art 2 § 6 Abs 1 Nr 3 RÜG sind, ist in Art 2 § 23 Abs 2 RÜG geregelt; welche Zeiten einer Untertagetätigkeit gleichgestellt sind, bestimmt Art 2 § 23 Abs 4 RÜG. Die im vorliegenden Zusammenhang allein streitige Zeit der Freistellung des Klägers erfüllt weder die Voraussetzungen des Art 2 § 23 Abs 2 Nr 1 bis 5 noch die nach Abs 4 Nr 1 bis 3 aaO. Eine Auslegung oder entsprechende Anwendung der Vorschrift, dass sie auch – unter welchen weiteren Voraussetzungen auch immer – Zeiten der Freistellung wie beim Kläger umfasst, ist nicht möglich. Denn nach Art 2 § 23 Abs 4 Nr 3 RÜG gelten Zeiten der „Freistellung von der Arbeit” nur dann als Zeiten der Untertagetätigkeit, wenn die Freistellung „zur Pflege erkrankter Kinder” erfolgt und sich diese Zeiten unmittelbar an solche Zeiten anschließen. Diese Vorschrift entspricht – wie in den Gesetzesmaterialien klargestellt (BT-Drucks 12/405, S 143 zu § 23) – der früheren Regelung des § 42 Abs 1 iVm § 11 Abs 5 Buchst c der Ersten Durchführungsbestimmung zur Rentenverordnung vom 23. November 1979 (GBl I S 413). Der Gesetzgeber hat demnach – anknüpfend an die früheren Rechtsvorschriften – zum einen durchaus die Problematik der Anrechnung von Freistellungszeiten gesehen, eine solche zum anderen aber nur unter engen Voraussetzungen zugelassen, die beim Kläger auch nicht annäherungsweise vorliegen. Ein Verfassungsverstoß kann hierin – schon wegen der Unterschiedlichkeit der Sachverhalte – von vornherein nicht gesehen werden. Im Übrigen genießen die in der Sozialversicherung der DDR erworbenen Rentenansprüche und -anwartschaften Grundrechtsschutz erst aufgrund und nach Maßgabe des Einigungsvertrags ≪EinigVtr≫ (Senatsurteil vom 30. Juni 1999 – B 8 KN 11/97 R – SozR 3-8575 Art 2 § 17 Nr 1; BVerfG Urteil vom 28. April 1999 – 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95 – BVerfGE 100, 1 = SozR 3-8570 § 10 Nr 3). Dieser gewährt Personen im Beitrittsgebiet, deren Rente bis 30. Juni 1995 beginnt, Besitzschutz für einen Rentenanspruch, der sich am 30. Juni 1990 nach dem bis dahin im Beitrittsgebiet geltenden Rentenrecht ergeben hätte (Art 30 Abs 5 Satz 2 Nr 2 EinigVtr). Die für die Begründung von Rentenansprüchen und -anwartschaften maßgebliche Gesetzgebung der DDR, der der Gesetzgeber – entsprechend dieser Zusage und darüber hinaus in Ausdehnung des zugesagten Besitzschutzes auf Personen mit Rentenbeginn bis 31. Dezember 1996 – hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen im Übergangsrecht des Art 2 RÜG folgt, kann daher grundsätzlich nicht an den Anforderungen des GG gemessen werden. Keinesfalls aber war der Gesetzgeber verpflichtet, diese Anspruchsvoraussetzungen über das DDR-Recht hinaus um Tatbestände zu erweitern, die – wie die hier in Frage stehende Freistellung von der Arbeit – auch das Rentenrecht des SGB VI nicht kennt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen