Entscheidungsstichwort (Thema)
Entbehrlichkeit der Vernehmung einer Pflegeperson als Zeuge
Orientierungssatz
Eine Vernehmung der Pflegeperson als Zeuge ist grundsätzlich entbehrlich, wenn die Pflegeperson die erbrachten Hilfeleistungen im Einzelnen und minutiös schriftlich (ähnlich einem Pflegetagebuch) niedergelegt hat und das Gericht die Angaben in tatsächlicher Hinsicht nicht anzweifelt. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob und in welchem Ausmaß die geschilderten Hilfeleistungen als Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB 11) und hauswirtschaftliche Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB 11) zu berücksichtigen sind und welche Hilfeleistungen außer Betracht zu bleiben haben (zB Behandlungspflege, soziale Betreuung, allgemeine Aufsicht, dauerhafte Einsatzbereitschaft); dies ist eine Rechtsfrage und keine - ggf durch Zeugenvernehmung und Sachverständigengutachten zu klärende - Tatfrage.
Normenkette
SGG §§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 4; SGB XI § 14 Abs. 4 Nrn. 1-4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die bis Ende 1999 bei der beklagten Pflegekasse und seitdem bei der beigeladenen Pflegekasse versicherte, seit dem 19. August 1998 in einem Pflegeheim lebende Klägerin bezog ab 1. August 1999 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I und ab 1. Juni 2001 Leistungen nach der Pflegestufe II. Sie begehrt Pflegegeld für die Zeit vom 28. Juli bis zum 18. August 1998, während der sie von ihrer Tochter zu Hause betreut und gepflegt worden war, und Leistungen bei vollstationärer Pflege für die Zeit vom 19. August 1999 bis zum 31. Mai 2001 durchgehend nach der Pflegestufe II. Dazu macht sie geltend, die zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) für den Pflegebedarf der Pflegestufe II seien auf Grund ihrer seit 1996 bestehenden, ständig fortschreitenden Altersverwirrtheit schon ab Juli 1998 erfüllt gewesen. Die Klage blieb in den Vorinstanzen nach Beweisaufnahme erfolglos. Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Brandenburg vom 22. Februar 2005 richtet sich die Beschwerde der Klägerin.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) festgelegten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb nach § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Die Klägerin behauptet zwar, das Urteil weise einen Verfahrensmangel auf und beruhe auch darauf (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Außerdem stelle sich auf Grund der Art und Weise der Entscheidungsfindung des LSG auch eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Damit sind die Zulassungsgründe des Verfahrensmangels und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aber noch nicht hinreichend dargelegt.
1. Ein Mangel des Verfahrens ist nur dann formgerecht bezeichnet, wenn die ihn begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben werden und - in sich verständlich - den behaupteten Verfahrensmangel ergeben (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Bei der Rüge einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG ist zudem darzulegen, dass ein Beweisantrag gestellt worden ist, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG). Daran fehlt es vorliegend.
Die Klägerin wendet sich dagegen, dass das LSG ihre Tochter, von der sie bis zum Umzug in das Pflegeheim gepflegt worden ist, nicht als Zeugin zum Umfang des damaligen Pflegebedarfs vernommen hat. Diese Aussage hätte das LSG der Sachverständigen L., deren Gutachten vom 20. Juli 2001 und ergänzenden Stellungnahmen vom 19. November 2001 und 3. September 2003 das LSG bei der Entscheidungsfindung gefolgt sei, zur gutachterlichen Prüfung zuleiten müssen, um zu ermitteln, ob der Pflegebedarf, der am 1. Juni 2001 zur Einstufung in die Pflegestufe II geführt hat, dem Umfang nach auch schon im Juli 1998 vorgelegen hat. Die in der Klageschrift vom 22. März 2000 aufgeführten Angaben ihrer Tochter zum Pflegebedarf im Juli 1998 rechtfertigten von vornherein die Pflegestufe II. Es gehe nicht an, dass das LSG diese Angaben einerseits als zutreffend unterstellt, ihnen andererseits aber nicht folge, weil die genannten Pflegemaßnahmen über den - allein berücksichtigungsfähigen - objektiv erforderlichen Pflegeaufwand bei den Verrichtungen der Grundpflege (§ 14 SGB XI) hinausgingen.
Damit rügt die Klägerin die Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG). Dies ist jedoch nicht formgerecht iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG geschehen. Auf die Verletzung des § 103 SGG kann die Verfahrensrüge nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG). Hier fehlt es bereits an der Darlegung, dass die Vernehmung der Tochter der Klägerin im Berufungsverfahren "beantragt" worden ist. Erforderlich ist ein Beweisantrag; eine bloße Beweisanregung reicht nicht aus (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 und 22; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 18e). In der Sitzungsniederschrift vom 22. Februar 2005 findet sich weder ein Beweisantrag noch eine Beweisanregung. Das LSG spricht in den Entscheidungsgründen (Urteilsumdruck S 11) ausdrücklich nur von einer "Anregung" des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, die Tochter der Klägerin als Zeugin zu hören. Dass es sich rechtlich um einen Beweisantrag und nicht nur um eine Beweisanregung gehandelt habe (zur Abgrenzung vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9), hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung nicht geltend gemacht; sie selbst spricht von einem "Vorschlag" ihres Prozessbevollmächtigten, was lediglich auf eine Beweisanregung hindeutet.
Darüber hinaus wird nicht dargetan, welche zusätzlichen Erkenntnisse tatsächlicher Art diese Aussage hätte erbringen sollen, nachdem in der Klageschrift (mit Wiederholung in der Berufungsbegründung vom 29. November 2002), die auf den Angaben der Tochter der Klägerin beruht, die erbrachten Pflegemaßnahmen nach Art und Zeitaufwand detailliert aufgeführt worden sind. Eine Vernehmung der Pflegeperson als Zeuge ist grundsätzlich entbehrlich, wenn die Pflegeperson die erbrachten Hilfeleistungen im Einzelnen und minutiös schriftlich (ähnlich einem Pflegetagebuch) niedergelegt hat und das Gericht - wie hier - die Angaben in tatsächlicher Hinsicht nicht anzweifelt. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob und in welchem Ausmaß die geschilderten Hilfeleistungen als Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI) und hauswirtschaftliche Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI) zu berücksichtigen sind und welche Hilfeleistungen außer Betracht zu bleiben haben (zB Behandlungspflege, soziale Betreuung, allgemeine Aufsicht, dauerhafte Einsatzbereitschaft); dies ist eine Rechtsfrage und keine - ggf durch Zeugenvernehmung und Sachverständigengutachten zu klärende - Tatfrage.
Zudem dürfte das Vorbringen der Klägerin, der Sachverständigen L. seien die Angaben ihrer Tochter nicht zugänglich gemacht worden, auf einem Irrtum beruhen. Der Sachverständigen sind im Rahmen des Gutachtenauftrags die gesamten Prozessakten übersandt worden. Sie kannte also die in der Klageschrift enthaltenen Angaben der Tochter der Klägerin über die von ihr im Juli 1998 erbrachten Pflegeleistungen und konnte sich bei der Gutachtenerstellung darauf einstellen. Im Gutachten vom 20. Juli 2001 ist die Vorlage der Gerichtsakten auch erwähnt (dort S 2).
Soweit in dem Vorbringen zugleich die Rüge einer unzulänglichen Beweiswürdigung gesehen werden sollte, ist ein Verfahrensmangel ebenfalls nicht formgerecht dargelegt; denn eine Verfahrensrüge kann nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden.
2. Die Klägerin macht ferner geltend, das angegriffene Urteil betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65), sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des § 169 Satz 1 SGG (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall ebenfalls nicht erfüllt.
Die Klägerin macht geltend, "die Vorgehensweise des LSG bzw die Einschätzung, dass die Angaben eines Laien nicht gutachterlich verwertbar sind", habe grundsätzliche Bedeutung für Verfahren der vorliegenden Art. Es kann offen bleiben, ob damit eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung formuliert worden ist. Es fehlt jedenfalls an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und Entscheidungserheblichkeit der Frage. In der Beschwerdebegründung wird nicht berücksichtigt, dass das LSG die Angaben der Tochter der Klägerin über den erbrachten Pflegeaufwand im Juli 1998 in tatsächlicher Hinsicht als zutreffend unterstellt hat, diese Angaben der Sachverständigen im Rahmen der Begutachtung bereits bekannt waren, die aufgeführten Maßnahmen nur zu einem Teil als Grundpflege anrechenbar waren und nur der bei Laienpflege - gutachterlich zu beziffernde - notwendige Zeitaufwand ansatzfähig ist. Das LSG hat aus diesen Gründen von der Vernehmung der Tochter der Klägerin als Zeugin abgesehen, hat aber nicht entschieden, die Angaben eines Laien seien gutachterlich nicht verwertbar. Es fehlt daher an der Darlegung der rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die aufgeworfene Rechtsfrage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen