Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 13 892,81 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Streitig ist die Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnung von Heilmitteln iHv (noch) 13 892,81 Euro für die Quartale 1/2011 bis 2/2011.
Der Kläger ist als Facharzt für Orthopädie zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Nach Durchführung einer Zufälligkeitsprüfung setzte die Prüfungsstelle für die Quartale 1/2011 bis 4/2011 einen Heilmittelregress iHv 19 988,89 Euro fest (Bescheid vom 9.11.2015). Die Heilmittelverordnungen seien auf die Einhaltung der Vorgaben von Punkt 24 bzw § 12 der zum Zeitpunkt der Verordnung gültigen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinie) überprüft worden. Danach sei ua die gleichzeitige Verordnung zweier ergänzender Heilmittel, von denen eines isoliert und eines nicht isoliert verordnet werden dürfe (hier: Wärmepackung einschließlich Nachtruhe und Elektrobehandlung; Elektrobehandlung und Kältetherapie bei einem oder mehreren Körperteilen; Elektrobehandlung und Wärme mit Glühlicht, Strahler, Heißluft), nicht zulässig. Soweit medizinisch erforderlich, könne gemäß Nr 24 Heilmittel-Richtlinie (idF vom 1.12.2003/16.3.2004, in Kraft seit 1.7.2004; zuletzt geändert am 21.12.2004, im Folgenden: aF) bzw § 12 Abs 4 Heilmittel-Richtlinie(idF vom 20.1.2011/19.5.2011, in Kraft seit 1.7.2011 ≪BAnZ 2011 S 2247≫, im Folgenden: nF) zu einem "vorrangigen Heilmittel" (A) oder "optionalen Heilmittel" (B) nur ein weiteres im Heilmittelkatalog genanntes "ergänzendes Heilmittel" (C) verordnet werden (dh maximal zwei Heilmittel je Verordnung). Abweichend hiervon könnten Maßnahmen der Elektrotherapie/stimulation oder die Ultraschall-Wärmetherapie auch isoliert verordnet werden, soweit der Heilmittelkatalog diese Maßnahmen indikationsbezogen als ergänzende Heilmittel vorsehe. Die gleichzeitige Verordnung zweier ergänzender Heilmittel werde danach nicht als zulässig erachtet.
Den Widerspruch des Klägers wies der beklagte Berufungsausschuss zurück (Bescheid vom 30.5.2017/Beschluss vom 30.3.2017). Auf die Klage des Klägers hat das SG den Beschluss des Beklagten insoweit aufgehoben, als für die Quartale 1/2011 und 2/2011 ein Regress wegen der gleichzeitigen Verordnung zweier ergänzender Heilmittel festgesetzt worden ist; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 13.3.2019). Die bis 30.6.2011 geltende Vorschrift von Nr 24 Heilmittel-Richtlinie aF enthalte keine klare und eindeutige Regelung, die die gleichzeitige Verordnung zweier ergänzender Heilmittel (C) verbiete. Erst seit 1.7.2011 sei in § 12 Abs 4 Satz 3 Heilmittel-Richtlinie nF ausdrücklich geregelt, dass mehr als ein ergänzendes Heilmittel nicht isoliert verordnet werden könne. Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 18.5.2022). Zutreffend sei das SG davon ausgegangen, dass bis zur Neufassung der Heilmittel-Richtlinie zum 1.7.2011 nicht hinreichend klar geregelt gewesen sei, dass zwei ergänzende Heilmittel nicht zugleich isoliert verordnet werden dürften. Soweit der Beklagte erstmals im Berufungsverfahren vorgetragen habe, die Verordnungen des Klägers hätten auch gegen Nr 17 Heilmittel-Richtlinie aF verstoßen, könne dies nicht berücksichtigt werden. Das Prüfverfahren habe sich auf einen solchen Verstoß nicht erstreckt. Auch sei der Kläger hierzu nicht angehört worden. Auch die angefochtenen Bescheide verhielten sich zu dieser Vorschrift nicht.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG macht der Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Rechtsprechungsabweichungen geltend (Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
II
A. Die Beschwerde des Beklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Soweit der Beklagte eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht, liegt eine solche nicht vor.
Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 29.11.2006 - B 6 KA 23/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG Beschluss vom 28.10.2015 - B 6 KA 12/15 B - SozR 4-2500 § 116 Nr 11 RdNr 5; BSG Beschluss vom 15.10.2020 - B 6 KA 16/20 B - juris RdNr 8). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, wenn die aufgeworfene Frage bereits geklärt ist oder wenn sich die Antwort ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften oder aus schon vorliegender Rechtsprechung klar beantworten lässt (BSG Beschluss vom 11.10.2017 - B 6 KA 29/17 B - juris RdNr 4). Klärungsfähigkeit ist nicht gegeben, wenn die aufgeworfene Rechtsfrage nicht im Revisionsverfahren zur Entscheidung anstünde oder wenn die Bedeutung über den Einzelfall hinaus fehlt, weil eine weitergehende Bedeutung der Rechtsfrage für weitere Fälle nicht erkennbar ist oder die Rechtsfrage aufgrund besonderer Gestaltung des Rechtsstreits einer verallgemeinerungsfähigen Beantwortung nicht zugänglich ist (vgl zB BSG Beschluss vom 13.2.2019 - B 6 KA 17/18 B - juris RdNr 7).
Der Beklagte führt in seiner Beschwerdebegründung aus, für den Bereich des Vertragsarztrechts sei "bislang noch nicht eindeutig geklärt, ob eine vom Beschwerdeausschuss getroffene Entscheidung im Berufungsverfahren auf eine andere Rechtsgrundlage untergesetzlichen Rechts (HMRL) gestützt werden darf". Es ist bereits zweifelhaft, ob der Beklagte damit eine abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung revisibler (Bundes-)Normen in hinreichend klarer Formulierung bezeichnet hat, an denen das Beschwerdegericht die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen könnte. Auch eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Rechtssache ist nicht dargelegt.
Jedenfalls aber liegt eine grundsätzliche Bedeutung nicht vor. Ob ein bloßes Auswechseln der Rechtsgrundlage (vgl dazu BSG Urteil vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 34 und Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 23) und/oder ein Nachschieben von Gründen (dazu BSG Urteil vom 23.8.1956 - 3 RJ 293/55 - BSGE 3, 209, 216; BSG Urteil vom 21.4.1959 - 6 RKa 20/57 - BSGE 9, 277, 279 f; BSG Urteil vom 25.6.2015 - B 14 AS 30/14 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 3 RdNr 23) im gerichtlichen Verfahren zulässig ist, ist in der Rechtsprechung des BSG bereits geklärt und hängt bei belastenden Verwaltungsakten, die - wie hier - im Wege der reinen Anfechtungsklage angegriffen werden, davon ab, ob sie dadurch in ihrem "Wesen" verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann (BSG Urteil vom 26.9.1974 - 5 RJ 140/72 - BSGE 38, 157, 159 = SozR 2200 § 1631 Nr 1; BSG Urteil vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 12 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9; BSG Urteil vom 25.6.2015 - B 14 AS 30/14 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 3 RdNr 23; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 54 RdNr 35 f mwN). Eine solche Änderung des "Wesens" eines Verwaltungsakts ist in Anlehnung an den zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff zu bestimmen (vgl dahingehend BSG Urteil vom 21.4.1959 - 6 RKa 20/57 - BSGE 9, 277, 280; BSG Urteil vom 25.6.2015 - B 14 AS 30/14 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 3 RdNr 23) und demzufolge anzunehmen, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt (BSG Urteil vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9) oder auf eine abweichende und einem anderen Zweck dienende Rechtsgrundlage gestützt wird (BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 87/09 R - BSGE 107, 255 = SozR 4-4200 § 60 Nr 1, RdNr 16). Fragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen sich insoweit nicht.
Soweit der Beklagte vor diesem Hintergrund in seiner Beschwerdebegründung ausführt, dass "die im Berufungsverfahren neu benannte Grundlage nach Nummer 17.A 7.6 sowie die bereits benannte Nummer 24 HMRL a.F. das gleiche Regelungsziel" hätten und sich "keine neuen Anforderungen an das Vorbringen des Arztes" ergeben würden, sodass eine Anhörung nicht notwendig sei, spricht er im Übrigen keine abstrakten Rechtsfragen, sondern Tatsachenfragen und die Frage der Richtigkeit der Rechtsanwendung durch das Berufungsgericht an. Dass ein Beteiligter das Berufungsurteil inhaltlich für unrichtig hält, ist aber gerade kein Revisionszulassungsgrund.
2. Auch der Zulassungsgrund einer Rechtsprechungsabweichung ist, soweit er hinreichend dargelegt wurde, nicht erfüllt. Hierfür ist erforderlich, dass das LSG seiner Entscheidung tragend einen Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der einem Rechtssatz in einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG widerspricht. Eine Divergenz im Sinne der genannten Vorschrift liegt nicht schon vor, wenn das LSG einen Rechtssatz aus einer oberstgerichtlichen Entscheidung nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung einer Revision wegen Divergenz (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 29.11.2017 - B 6 KA 43/17 B - juris RdNr 13 mwN). Nach diesen Maßstäben kann keine der von dem Beklagten geltend gemachten Divergenzen zu einer Revisionszulassung führen.
a) Der Beklagte entnimmt der Entscheidung des BSG vom 24.2.2011 (B 14 AS 87/09 R - BSGE 107, 255 = SozR 4-4200 § 60 Nr 1) die Aussage:
"Bei der gerichtlichen Entscheidung kann daher die von der Behörde getroffene Entscheidung nur dann auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden, wenn hierdurch der angefochtene Verwaltungsakt nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert wird oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen sich dadurch nicht erheblich erschwert."
Zudem sei den Entscheidungen des BSG vom 24.2.2011 (B 14 AS 87/09 R - BSGE 107, 255 = SozR 4-4200 § 60 Nr 1) sowie vom 29.6.2000 (B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9) die Aussage zu entnehmen:
"Die Sozialgerichte haben die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten unter jedem rechtlich denkbaren Gesichtspunkt zu überprüfen."
Dem stellt der Beklagte folgende Rechtssätze des LSG gegenüber:
"Im Berufungsverfahren vor dem LSG kann keine neue Rechtsgrundlage für einen Verwaltungsakt eingeführt werden"
und
"Sozialgerichte haben die im Entscheidungssatz zum Ausdruck gekommene Regelung nur in Hinblick auf die in dem angefochtenen Bescheid genannte Rechtsgrundlage zu prüfen."
Solche Rechtssätze hat das LSG jedoch schon nicht aufgestellt. Vielmehr hat es lediglich im Rahmen seiner konkreten Sachverhaltswürdigung ausgeführt, dass sich das streitige Prüfverfahren nicht auf einen Verstoß gegen Nr 17 Heilmittel-Richtlinie aF erstreckt habe und es auch an einer Anhörung des Klägers hierzu fehle. Diesen einzelfallbezogenen Ausführungen lässt sich gerade nicht entnehmen, dass das LSG den Rechtssatz aufstellen wollte, dass in einem Berufungsverfahren grundsätzlich keine neue Rechtsgrundlage für einen Verwaltungsakt eingeführt werden kann. Ebenso wenig kann hieraus der allgemeine Rechtssatz entnommen werden, dass die Rechtmäßigkeit eines Bescheids nur anhand der in dem Bescheid genannten Rechtsgrundlage zu überprüfen und ein Nachschieben von Gründen im Verfahren ausnahmslos unzulässig ist. Im Kern wendet sich der Beklagte mit seinem diesbezüglichen Vorbringen vielmehr gegen die Richtigkeit der Entscheidung des LSG im Einzelfall. Dies wird deutlich, wenn er in der Beschwerdebegründung beispielsweise formuliert: "Durch die Nennung von Nummer 17.A 7.6 der HMRL a.F. erstmals im Berufungsverfahren als (neue/weitere) Rechtsgrundlage wird der angegriffene Beschluss des Beschwerdeausschusses … weder in seinem Regelungsgehalt noch in seinem Wesensgehalt verändert" (Beschwerdeschrift S 6), eine weitere Anhörung ist daher nicht notwendig" (Beschwerdeschrift S 8), das LSG habe als Anspruchsgrundlage nicht allein auf Nr 24 HMRL aF abstellen dürfen, sondern "musste unter allen rechtlichen Gesichtspunkten und somit auch unter Zugrundelegung von Nummer 17.A 7.6. HMRL a.F. prüfen" (Beschwerdeschrift S 9). Die Frage, ob die Entscheidung des LSG im Einzelfall zutreffend ist, vermag die Zulassung der Revision aber nicht zu eröffnen.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt der Beklagte die Kosten des von ihm erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO). Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, da sie keine Anträge gestellt haben (§ 162 Abs 3 VwGO).
C. Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG. Sie entspricht dem Regressbetrag.
Fundstellen
Dokument-Index HI15741783 |