Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verletzung rechtlichen Gehörs. Erwerbsminderungsrente. Berufsunfähigkeit. Entscheidung auf der Grundlage eines berufskundlichen Sammelwerks (hier: “gabi”). Einführung in das Verfahren
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn das Gericht in einem Rentenverfahren über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit seine Entscheidung auf Tatsachen stützt, die es anhand von berufskundlichen Sammelwerken festgestellt hat, und diese zuvor nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt waren, wird in aller Regel der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (st.Rspr.; vgl. BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 52).
2. Ein berufskundliches Werk in diesem Sinn ist auch das “gabi” (Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen). Es handelt sich beim Inhalt dieses Werks nämlich nicht um allgemeinkundige Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützen kann, ohne auf deren Verwertung vorher hinweisen zu müssen (vgl. BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 52); denn “gabi” ist nicht das einzige oder das überwiegend von den mit berufskundlichen Fragen befassten Stellen und Personen benutzte Erkenntnismittel (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 39 S 161).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, §§ 62, 128 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 27.11.2002) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. November 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der 1948 geborene Kläger begehrt die Zuerkennung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU), ab 1. Januar 1998.
Der Kläger hat den Beruf des Großhandelskaufmanns erlernt und war zuletzt als Organisationsleiter und Geschäftsführer im Versicherungsgewerbe tätig. Die Beklagte erkannte dem Kläger vom 1. August 1995 bis 31. Dezember 1997 Rente wegen EU zu. Seinen Antrag auf weitere Zuerkennung der Rente lehnte sie ab (Bescheid vom 10. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. März 1998). Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 7. Dezember 2000).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 27. November 2002) und ausgeführt: Das SG habe zutreffend dargelegt, dass der Kläger, der Berufsschutz als Angestellter mit Leitungsfunktion genieße, unter Berücksichtigung seines beruflichen Werdegangs und seines Leistungsvermögens sozial und gesundheitlich zumutbar auf eine Tätigkeit als Versicherungskaufmann im Innendienst verwiesen werden könne. Die im Berufungsverfahren angestellten Ermittlungen hätten nichts anderes ergeben. Dem Kläger sei zwar seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit und die Tätigkeit als Versicherungskaufmann im Außendienst mit Publikumsverkehr nicht zumutbar. Er sei jedoch einer Tätigkeit als Versicherungskaufmann im Innendienst gewachsen. Nach dem von der Bundesanstalt für Arbeit herausgegebenen Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen (“gabi”) gebe es im Innendienst von Versicherungsunternehmen diverse allgemeine kaufmännische und verwaltungsmäßige Aufgaben, die nicht mit Publikumsverkehr verbunden seien. Der Einholung der vom Kläger beantragten Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit bedürfe es deshalb nicht.
Der Kläger wendet sich mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG. Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe sein Urteil auf Tatsachen gestützt, zu denen er sich nicht habe äußern können. Das LSG habe erstmals in den Urteilsgründen seine aus “gabi” gewonnenen Erkenntnisse vorgestellt, im Innendienst von Versicherungsunternehmen gebe es diverse allgemeine kaufmännische und verwaltungsmäßige Aufgaben ohne Publikumsverkehr. Es lasse sich auch nicht feststellen, ob die vom LSG aufgeführten Verrichtungen in der Arbeitswelt vorkommende Berufe darstellten, die den Anforderungen an die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit genügten. Das LSG sei zudem verfahrensfehlerhaft seinem Beweisantrag, der in der mündlichen Verhandlung wiederholt und in die Niederschrift und das Urteil aufgenommen worden sei, nicht gefolgt, hilfsweise eine Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit darüber einzuholen, ob und ggf in welchem Umfang Arbeitsplätze für gelernte Versicherungskaufleute im Innendienst vorhanden seien, die nicht mit Publikumsverkehr verbunden seien. Das angefochtene Urteil beruhe auf diesen Verfahrensverstößen, da nicht auszuschließen sei, dass das Verfahren ohne derartige Fehler einen anderen Verlauf genommen hätte. Es sei ihm verwehrt worden, von sich aus alle erdenkbaren Erkenntnismöglichkeiten über die Anforderungen an den Beruf eines Versicherungskaufmanns im Innendienst vom Versicherungsunternehmen aufzuspüren, zudem habe er nicht vortragen können, die vom LSG in Aussicht genommene Verweisungstätigkeit gäbe es nicht in ausreichender Anzahl bzw sei ihm individuell nicht zumutbar. Hätte das LSG entsprechend seinem Antrag eine Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit eingeholt, hätte es feststellen müssen, dass solch ein “Beruf” nicht existiere bzw einen sog Seltenheitsfall darstelle.
Die Beklagte hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist begründet.
Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel einer unzureichenden Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 SGG; Art 103 Abs 1 GG) liegt vor. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob das LSG seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) dadurch verletzt hat, dass es die vom Kläger beantragte Beweisaufnahme unterlassen hat. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits wiederholt entschieden, dass dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Tatsachen stützt, die es anhand von berufskundlichen Sammelwerken festgestellt hat, und diese zuvor nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt waren, in aller Regel der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 52). So liegt der Fall auch hier.
Der Kläger hat zulässig (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und begründet gerügt, das LSG habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, dass es erstmals in den Urteilsgründen seine aus dem “gabi” gewonnenen Erkenntnisse vorgestellt hat, im Innendienst von Versicherungsunternehmen gäbe es diverse allgemeine kaufmännische und verwaltungsmäßige Aufgaben ohne Publikumsverkehr, denen der Kläger (gesundheitlich) gewachsen sei. Da das LSG diese Erkenntnisse nicht – etwa in der mündlichen Verhandlung – zuvor in das Verfahren eingeführt hat, wurde der Kläger dadurch in den Entscheidungsgründen des Urteils überrascht. Beim Inhalt des “gabi” handelt es sich auch nicht um allgemeinkundige Tatsachen, auf die ein Gericht seine Entscheidung ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützen kann, ohne auf deren Verwertung vorher hinweisen zu müssen (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 52). Allgemeinkundig sind nur diejenigen Tatsachen, die allen Beteiligten als möglicherweise entscheidungsrelevant mit Sicherheit gegenwärtig sind (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15). “gabi” ist nicht das einzige oder das überwiegend von den mit berufskundlichen Fragen befassten Stellen und Personen benutzte Erkenntnismittel (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 39 S 161). Es ist daher nicht vorauszusetzen, dass die Beteiligten an einem Rentenstreitverfahren die berufskundliche Beschreibung von Tätigkeiten in dem “gabi” im Sinne allgemeinkundiger Tatsachen gegenwärtig ist. Gerade im Bereich der berufskundlichen Literatur sind nicht selten unterschiedliche Informationen über bestimmte Berufe verbreitet, so dass schon deshalb das Gericht die Tatsachen, die es berufskundlicher Literatur entnimmt, ordnungsgemäß in den Prozess einführen muss.
Auf dieser Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör kann das mit der Beschwerde angefochtene Urteil des LSG auch beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die vom LSG genannte Tätigkeit des “Versicherungskaufmanns im Innendienst” nicht als zumutbare Verweisungstätigkeit angesehen werden kann, wenn die Einwendung des Klägers durchgreift, dass es keine ausreichenden Tätigkeiten oder gar Verweisungsberufe im Innendienst von Versicherungsunternehmen ohne Publikumsverkehr gibt.
Nach § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der seit dem 2. Januar 2002 geltenden Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzung des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Bei der weiteren Sachbehandlung wird das LSG die ständige Rechtsprechung des Senats zur Prüfung des Versicherungsfalls der BU zu beachten haben (vgl BSGE 78, 207 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 14). Für die Frage, ob der Kläger auf einen ihm sozial oder gesundheitlich zumutbaren Beruf verwiesen werden kann, ist es ua maßgeblich, ob er das Vermögen hat, einen bestimmten qualitativ gleichwertigen und im Arbeitsleben wirklich vorhandenen Beruf vollschichtig und vollwertig zu verrichten (keinen Fantasieberuf). Außerdem kann im Einzelfall erheblich werden, ob der Versicherte, der zwar den typischen fachlichen Anforderungen des “sozial zumutbaren” (qualitativ gleichwertigen) Verweisungsberufs sowie den damit verbundenen üblichen Belastungen vollschichtig (und vollwertig) genügen kann, gleichwohl auf den Arbeitsplätzen, an denen dieser Beruf regelmäßig ausgeübt wird, ausnahmsweise nicht einsetzbar ist. Dies kann, sofern das Verfahrensergebnis hierzu Anlass gibt, im Einzelfall zu prüfen sein, wenn der Versicherte gesundheitsbedingt den mit der Berufsausübung verbundenen sonstigen (Anreiseerfordernissen oder betrieblichen) Arbeitsbedingungen nicht genügen kann (sog Unüblichkeitsfälle) oder wenn die im Vergleichsberuf vorhandenen Arbeitsplätze nicht arbeitsmarktgängig (“zugänglich”) sind (sog Seltenheitsfälle), weil sie betriebsintern besetzt oder aus anderen Gründen nur selten auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden (vgl BSGE 78, 207, 211 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 22; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 14 S 41 f). Die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen wird das LSG gemäß § 103 SGG zu treffen und dabei auch den vom Kläger gestellten Beweisantrag zu würdigen haben.
Das LSG wird bei seiner Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit zu befinden haben.
Fundstellen