Leitsatz (amtlich)
Überreicht ein Versicherter in einem sozialgerichtlichen Verfahren dem Gericht eine ärztliche Bescheinigung, so liegt darin nicht gleichzeitig ein von ihm nach SGG § 109 gestellter Antrag auf Anhörung des Arztes, der die Bescheinigung ausgestellt hat.
Die Überreichung einer derartigen ärztlichen Bescheinigung bietet regelmäßig auch keinen Anlaß, den Versicherten nach SGG § 106 auf die Möglichkeit eines Antrages aus SGG § 109 hinzuweisen.
Normenkette
SGG § 106 Fassung: 1953-09-03, § 109 Fassung: 1953-09-03
Tenor
1. Dem Kläger wird das nachgesuchte Armenrecht verweigert.
2. Die Revision wird als unzulässig verworfen.
3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger hat frist- und formgerecht gegen das ihm am 5. Juli 1957 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 26. März 1957 unter Stellung eines Antrags am 18. Juli 1957 Revision eingelegt und diese am 16. August 1957 begründet; am 18. Juli 1957 hat er gleichzeitig die Bewilligung des Armenrechts beantragt.
Da das Landessozialgericht die Revision in seinem Urteil nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und Nr. 3 a. a. O. nicht in Frage kommen kann, wäre die Revision nur statthaft, wenn der Kläger begründet einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Landessozialgerichts gerügt hätte; daran fehlt es im vorliegenden Fall.
I Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, das Landessozialgericht habe die Pflicht gehabt, den Hausarzt Dr. W von Amts wegen zu vernehmen, dessen Angaben zu einer hinreichenden Erforschung des Sachverhalts notwendig gewesen seien, übersieht er, daß sowohl die Beweiswürdigung als auch der Umfang der zu erhebenden Beweise grundsätzlich Sache des Tatsachengerichts ist; das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht hierbei die Grenzen des ihm zustehenden freien Ermessens überschritten hat. Wenn das Landessozialgericht einer Reihe von Gutachten den Vorzug vor anderen ärztlichen Äußerungen gegeben hat, so ergibt sich daraus um so weniger eine Überschreitung jener Grenzen, als es zur Begründung für diese Entscheidung ausdrücklich auf die besonders ausführliche wissenschaftliche Grundlage jener Gutachten hingewiesen hat.
Wenn das Landessozialgericht sich auf Grund der ihm insgesamt vorliegenden Gutachten bereits eine feste Überzeugung bilden konnte und gebildet hat, liegt auch keine Ermessensüberschreitung darin, daß es die Einholung weiterer Gutachten oder die Befragung weiterer Sachverständiger nicht mehr für erforderlich hielt.
Entgegen der Angabe des Klägers hat sich das Landessozialgericht nicht nur auf die beiden ausführlichen Gutachten des Städtischen Krankenhauses in Stade und Dr. W-S gestützt, sondern ausdrücklich darauf verwiesen, daß seine Überzeugung auch auf den übrigen Gutachten beruhe; diese Gutachten (von Dr. G, Dr. K und Dr. M) erscheinen durchaus geeignet, dem Landessozialgericht als weitere Grundlage für seine Überzeugung zu dienen. Wenn der Kläger demgegenüber hervorhebt, daß diese Gutachter untereinander hinsichtlich der Frage der ihm noch zumutbaren Arbeiten nicht übereingestimmt hätten, so konnte dies für die zu entscheidende Frage, ob der Kläger bereits invalide sei, ohne Rechtsverstoß dahingestellt bleiben, weil die von jenen Gutachtern erhobenen Befunde so wenig voneinander abwichen, daß das Landessozialgericht auf Grund dessen die ihm vom Gesetzgeber zugewiesene Frage, ob Invalidität vorliege, selbständig und ohne weitere Gutachten entscheiden durfte.
II Der Kläger macht weiter geltend, das Landessozialgericht hätte durch Ausübung seiner Fragepflicht klarstellen müssen, ob er mit der Vorlage des Attestes die Vernehmung seines Hausarztes als Sachverständiger hätte beantragen wollen; bei ordnungsmäßig ausgeübter Aufklärung und Belehrung des Klägers würde sich alsdann ergeben haben, daß er die Vernehmung jenes "Sachverständigen seines Vertrauens" nach § 109 SGG habe beantragen wollen bzw. tatsächlich beantragt habe; auch hierdurch habe das Landessozialgericht gegen die §§ 103 und 109 SGG verstoßen.
Ein Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht ist, wie bereits ausgeführt, in dem Unterlassen der mündlichen Anhörung des Dr. W. nicht zu erblicken.
Eine Verletzung des § 109 SGG liegt gleichfalls nicht vor. Ein Antrag nach § 109 SGG auf Anhörung des Dr. W ist durch den Kläger nicht gestellt worden. Daß ein solcher Antrag ausdrücklich gestellt sei, will auch der Kläger nicht behaupten. Wenn er jedoch weiter in der Vorlage eines Attestes eines Arztes einen Antrag auf Anhörung dieses Arztes nach § 109 SGG erblickt wissen will, so kann ihm darin nicht gefolgt werden.
Im vorliegenden Fall liegt eine solche Annahme bereits um deswillen fern, weil das Landessozialgericht in Celle selbst dem Kläger bei der Benachrichtigung über die einen Tag vor dem Verhandlungstermin stattfindende Begutachtung durch Dr. W-S die Aufforderung hat übermitteln lassen, zu jener Untersuchung einen Befundbericht seines Hausarztes mitzubringen; bei dem im Verhandlungstermin überreichten Attest dieses Hausarztes vom Vortage handele es sich demnach offensichtlich um die vom Landessozialgericht selbst veranlaßte Bescheinigung, so daß gerade hier ein besonderer, in der Überreichung des Attestes liegender Wunsch des Klägers auf mündliche Anhörung jenes Arztes nicht vermutet werden konnte.
Aber auch ohne das Vorliegen derartiger Besonderheiten erscheint die bloße Überreichung eines Attestes nicht geeignet, als Antrag nach § 109 SGG umgedeutet zu werden.
Die Erhebung aller für die Entscheidung erforderlichen Beweise hat das Gericht nach § 103 SGG von Amts wegen vorzunehmen, ohne dabei an die in vielfach abgewandelter Form an es herangetragenen Beweisanträge, Beweisangebote usw. der Prozeßbeteiligten irgendwie gebunden zu sein; ob und inwieweit das Gericht solchen Anregungen folgen will, unterliegt durchaus seiner pflichtgemäßen Entscheidung. Hiervon macht nur § 109 SGG eine Ausnahme insofern, als er vorschreibt, daß unter den dort näher angegebenen Voraussetzungen das Gutachten eines bestimmten Arztes eingeholt werden muß . Aus dem Wesen der Amtsermittlungspflicht ist abzuleiten, daß dieses nach § 109 SGG eingeholte Gutachten regelmäßig von dem erkennenden Gericht zur Klarstellung des Sachverhalts nicht mehr für erforderlich gehalten wird, da es anderenfalls selbst bereits nach § 103 SGG noch die nötigen weiteren Ermittlungen hätte veranlassen müssen. Es erscheint durchaus angebracht, von einem solchen Antrag nach § 109 SGG, der das sonstige Beweiserhebungsermessen des Gerichts ausschaltet und es zu einer bestimmten Beweiserhebung zwingt, zu fordern, daß er klar und unmißverständlich gestellt wird. Wären auch Schriftstücke und Eingaben, die keinen ausdrücklichen Antrag nach § 109 SGG enthalten, - wie Beweisanträge sonstiger Art, zum Beweise eingereichte Urkunden, das sonstige Verfahren betreffende Schreiben -, ohne besonderen Anlaß in derartige Anträge umzudeuten, so müßte dies zu einer Unsicherheit des Verfahrens führen, - da jeder Verstoß gegen einen solchen Antrag einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen würde -, die nicht tragbar erscheint.
I Wenn somit festzustellen ist, daß auch der gerügte Verstoß gegen § 109 SGG nicht vorliegt, so ist schließlich noch zu prüfen, ob gegen die in § 106 SGG gebotene Klarstellungspflicht verstoßen ist, welche Rüge der Kläger zwar nicht unter ausdrücklicher Erwähnung der genannten Vorschrift, aber doch inhaltlich hinreichend deutlich erhoben hat. Unter Berücksichtigung der weiter oben angestellten Erwägungen wird jedoch auch insoweit nicht anzunehmen sein, daß die Einreichung eines Attestes, die unmittelbar dem sinnfälligen Zweck dient, dem Gericht eine Beweisunterlage zu vermitteln, als unklarer Antrag oder nicht ausreichend zweckdienlich erscheinen und das Gericht deshalb veranlassen müßte, noch eine Aufklärung in der Richtung vorzunehmen, ob gleichzeitig damit ein Antrag aus § 109 SGG gestellt werden solle. Ebensowenig kann es nach § 106 SGG zur Aufklärungspflicht gehören, die in Frage kommenden Beteiligten auch dann auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hinzuweisen, wenn diese nicht durch die besonderen Verhältnisse geboten und zweckdienlich erscheint; in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die von den übrigen Gutachtern abweichende Auffassung des Dr. W nicht etwa erst in dem überreichten Attest zu Tage trat, sondern sich bereits aus zahlreichen von ihm ausgestellten Bescheinigungen ergab, die schon der Beklagten und später dem Sozialgericht eingereicht waren, in denen daher das Landessozialgericht demnach nicht damit zu rechnen brauchte, daß eine weitere Anhörung des genannten Arztes noch zu irgendwelchen neuen Ergebnissen führen würde, brauchte demnach kein Hinweis auf die Möglichkeit des § 109 SGG gegeben zu werden, da dieser nicht zu einem sonst unterlassenen sachdienlichen Antrag hätte führen können.
IV Die übrigen Rügen des Klägers sind materiell-rechtlicher Art und waren daher bei der Prüfung der Statthaftigkeit der Revision nicht zu berücksichtigen.
Da die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen, mußte die Revision somit nach § 169 Abs. 2 SGG als unzulässig verworfen werden.
Das Armenrecht mußte verweigert werden, weil die Rechtsverfolgung aus den angegebenen Gründen aussichtslos war.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2149322 |
NJW 1957, 1944 |