Leitsatz (amtlich)
Die Bitte um Nachprüfung "aller aufgeworfenen Rechtsfragen" enthält nicht die nach SGG § 164 Abs 2 S 2 für die Begründung einer zugelassenen Revision erforderliche Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm.
Normenkette
SGG § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 27. August 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger macht Entschädigungsansprüche wegen eines Ohrenleidens geltend, das er auf Schädigungen beim Einschießen von Maschinengewehren und Karabinern im Jahre 1942 zurückführt. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 15. September 1953 die Entschädigung versagt. Die Berufung gegen diesen Bescheid hat das Oberversicherungsamt Schleswig am 13. November 1953 zurückgewiesen. Die (weitere) Berufung des Klägers, die mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig übergegangen war (§§ 215 Abs. 8, 224 Abs. 1 SGG), ist durch Urteil vom 27. August 1954 ebenfalls zurückgewiesen worden. Das LSG. hat die Revision zugelassen und zur Sache ausgeführt: Als Ursache der Gehörschädigung könne nicht ein Unfall im Sinne von § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO), sondern nur eine etwa 14 Arbeitstage dauernde Lärmeinwirkung angesehen werden. Als Berufskrankheit könne die Schwerhörigkeit des Klägers schon deshalb nicht anerkannt werden, weil sie nicht an Taubheit grenze (Nr. 22 der Anlage zur 3. Berufskrankheitenverordnung in der Fassung der 4. Berufskrankheitenverordnung).
Gegen das Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 16. September 1954 Revision eingelegt. Die Revisionsschrift hat folgenden Wortlaut:
"In Sachen ... lege ich gegen das am 2.9.1954 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts Schleswig - L U 256/54 - Revision ein. Der Senat hat die Revision der grundsätzlichen Bedeutung wegen nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Der Kläger bittet um Nachprüfung aller aufgeworfenen Rechtsfragen. Zum Teil hat er den Eindruck, daß die angezogenen Entscheidungen jahrzehntelang zurückliegen".
Auf den Hinweis des Vorsitzenden (§ 165 SGG in Verb. mit § 106 Abs. 1 SGG), daß dieser Schriftsatz der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 SGG nicht genüge, hat der Kläger erwidert: Er gehe davon aus, daß ein Beschwerdeführer Aufhebung des angefochtenen Urteils im ganzen begehre, wenn er keinen ausdrücklichen Antrag stelle. Da das Revisionsgericht den sachlichen Inhalt der Vorentscheidung von Amts wegen zu prüfen habe, brauche er zu den Rechtsproblemen im einzelnen nicht Stellung zu nehmen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen.
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils entspricht nicht den Anforderungen des § 66 Abs. 1 SGG. Es fehlt der Hinweis auf den Vertretungszwang (§ 166 SGG) und auf die Notwendigkeit, schon in der Revisionsschrift einen bestimmten Antrag zu stellen (§ 164 Abs. 2 Satz 1 SGG) - vgl. BSG. 1 S. 194, S. 227. Für die Einlegung der Revision stand deshalb die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG zur Verfügung.
Die Revision ist rechtzeitig eingelegt und begründet worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) stellt allerdings die Erklärung, daß gegen ein näher bezeichnetes Urteil Revision eingelegt werde, noch keinen bestimmten Antrag dar, wie er in § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG für die Revisionsschrift vorgeschrieben ist (BSG. 1 S. 47, 1 S. 50; BSG. in SozR. SGG § 164 Bl. Da 3 Nr. 14). Dieser Formmangel ist jedoch dadurch beseitigt worden, daß der Kläger innerhalb der Jahresfrist erläutert hat, welche Bedeutung er seiner Erklärung beilegt (vgl. BSG. 1 S. 98; BSG. in SozR. SGG § 164. Bl. Da 6 Nr. 19). Dagegen genügt die Revisionsbegründung nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Danach muß der Revisionskläger die Rechtsnorm bezeichnen, die nach seiner Ansicht verletzt worden ist. Der Kläger überläßt es aber ausdrücklich dem Revisionsgericht, etwaige materielle Rechtsverletzungen selbst herauszufinden. Das entspricht dem § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG ebensowenig, als wenn er allgemein eine "Verletzung materiellen Rechts" gerügt hätte.
§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG ist § 554 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nachgebildet. Diese Vorschrift geht zurück auf das Gesetz, betreffend Änderungen der Zivilprozeßordnung vom 5. Juni 1905 (RGBl. S. 536). Der Gesetzgeber hat damals die Revisionsbegründung, die bis dahin nur Soll-Erfordernis war, zur Zulässigkeitsvoraussetzung der Revision in Zivilsachen erhoben, und zwar zu dem Zweck, das Revisionsgericht zu entlasten. Die schriftliche Rechtfertigung des Revisionsbegehrens sollte die Vorarbeiten des Berichterstatters erleichtern; außerdem sollte erreicht werden, daß der Rechtsanwalt die Rechtslage genau durchdenkt, bevor er durch seine Unterschrift die Verantwortung für die Revision übernimmt, und daß er infolgedessen u. U. von der Durchführung aussichtsloser Revisionen absieht (Reichstagsdrucksache Nr. 782 vom 10.5.1905 Sten. Ber. 1903/05 8. Anlageband S. 4520 ff.; vgl. auch RGZ. 65 S. 82). Diese Grundgedanken, die durch die Entwicklung der Gerichtsbarkeiten nicht überholt sind, sondern den heutigen Entlastungsbestrebungen entsprechen, sind nicht auf die Zivilgerichtsbarkeit beschränkt. Auch im Verwaltungsstreitverfahren, in dem für die Revisionsinstanz die Vertretung durch zugelassene Prozeßbevollmächtigte nicht zwingend vorgeschrieben ist (§§ 24, 82 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes - BVerwGG -), besteht für die Revision Begründungszwang (§ 57 Abs. 2 Satz 2 BVerwGG; vgl. § 135 Abs. 2 Satz 2 Entw. VwGO. Bundestagsdrucksache Nr. 462 vom 12.4.1954). Auf die für die Revisionsbegründung in Strafsachen geltenden Grundsätze beruft sich der Kläger zu Unrecht. Denn nach § 344 der Strafprozeßordnung (StPO) genügt die Angabe, daß das Urteil wegen Verletzung einer materiellen Rechtsnorm angefochten werde, und diese Bestimmung, die durch die Entlastungsgesetzgebung nicht berührt worden ist (vgl. § 384 StPO i. d. Fassung vom 1.2.1877, RGBl. S. 253), hat ihren Grund in den besonderen Bedürfnissen des Strafverfahrens, das einerseits mit kurzen Fristen auskommen, andererseits dem Angeklagten gestatten muß, selbst die Revision zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen. Im SGG ist ein ähnliches Bedürfnis nach Formerleichterung nur in den beiden Tatsacheninstanzen anerkannt (§§ 92, 151 Abs. 3 SGG). Für die Revision, die durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten eingelegt werden muß (§ 166 SGG), übernimmt es dagegen die Formenstrenge des Zivil- und Verwaltungsprozesses (§ 164 Abs. 2 SGG). Die dort gültigen Maßstäbe sind daher auch für die Auslegung des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG heranzuziehen.
Rechtsprechung und Schrifttum sind darüber einig, daß außerhalb des Strafprozesses die allgemeine Rüge, materielles Recht sei verletzt, nicht als Revisionsbegründung ausreicht (RG. v. 11.5.1907 in JW 1907 S. 482; RGZ. 123 S. 38; OGH. br. Z. v. 14.7.1950 in JR 1951 S. 282; Rosenberg, Lehrbuch d. Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 681, § 141 II 2 a; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 5. Aufl., Stand 15.3.1957, Bd. I S. 252/o; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO, 18. Aufl., § 554 Anm. III 2; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 24. Aufl., § 554 Anm. 4 C; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 164 Anm. 3). Auch das BSG. hat sich dieser Auffassung angeschlossen (BSG. in SozR. SGG § 164 Bl. Da 6 Nr. 22, § 162 Bl. Da 18 Nr. 70). Seine Entscheidungen betrafen zwar nicht zugelassene Revisionen, bei denen sachlich-rechtliche Rügen die Statthaftigkeit nur im Rahmen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG begründen können. Doch betrifft diese Einschränkung nur den Inhalt der Revisionsrügen; die Anforderungen an ihre Form sind nicht von der Statthaftigkeit abhängig. Sie sind - entsprechend dem oben erwähnten Zweck des Gesetzes - erfüllt, wenn die Nachprüfung des angefochtenen Urteils durch den Prozeßbevollmächtigten zu erkennen ist (RGZ. 117 S. 168; RGZ. 123 S. 38). Ist das der Fall, so schadet die unrichtige Anführung einer Gesetzesvorschrift nicht, wie auch die Paragraphenziffer entbehrt werden kann, wenn die Vorschrift sonst deutlich genug umschrieben ist (BSG. 1 S. 227; BGH. vom 15.12.1952 in MDR 1953 S. 164; BVerwG. vom 26.11.1954 in NJW 1955 S. 318). Aber die Bitte, "alle aufgeworfenen Rechtsfragen" nachzuprüfen, läßt nicht erkennen, inwiefern die Auslegung des Vorderrichters angegriffen werden soll, und zwar selbst dann nicht, wenn man sie als die Rüge auffaßt, das Berufungsgericht habe alle Rechtsfragen falsch entschieden. Auch diese Rüge hat keinen anderen Inhalt als die Formel, es werde Verletzung des materiellen Rechts gerügt. Denn ihr Inhalt läßt sich erst durch Hinzuziehung des angefochtenen Urteils ermitteln. Die Formvorschrift verlangt aber zwingend, daß in der Revisionsbegründung selbst die Rechtsnorm bezeichnet wird; Verweisungen auf frühere Schriftstücke sind nach der Rechtsprechung selbst dann unzulässig, wenn sie von demselben Verfasser stammen und an das Revisionsgericht gerichtet waren (RGZ. 117 S. 168; RGZ. 123 S. 38; BSG. 1 S. 47 (49); BVerwG. v. 9.11.1956 in DVBl. 1957 S. 393; Brackmann a. a. O.; Stein-Jonas a. a. O.).
Die Revisionsbegründung wird auch nicht durch den Hinweis auf das Alter einiger vom Vorderrichter angeführter Entscheidungen konkretisiert. Der Kläger gibt nicht zu erkennen, welche der zahlreichen in diesen Entscheidungen vertretenen und vom LSG. übernommenen Rechtsgedanken er für unzeitgemäß ansieht. Er beschränkt im Gegenteil seine allgemeine Kritik noch auf einen Teil der Entscheidungen, ohne diesen Teil zu bestimmen.
Die Revision war daher gemäß § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen