Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozessfähigkeit. Besonderer Vertreter. Feststellung. Berechtigtes Interesse. Leistungsanspruch. Isolierte Leistungsklage. Amtshaftungsanspruch. Keine Teilverweisung. Überstellung per Sammeltransport. Anberaumter Gerichtstermin
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Person befindet sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.
2. Versicherte haben - außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (§ 88 SGG) - kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung, solange der zuständige UV-Träger über einen Leistungsanspruch (noch) nicht entschieden hat; dennoch erhobene, isolierte Leistungsklagen sind unzulässig.
3. Ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit darf wegen geltend gemachter Amtshaftungsansprüche keine Teilverweisung an das Zivilgericht vornehmen.
4. Mit der beabsichtigten Überstellung des Klägers per Sammeltransport in die JVA und von dort zum anberaumten Gerichtstermin werden ausreichende Vorkehrungen getroffen, um ihm den Zugang zum Gericht zu ermöglichen.
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1, 6, § 72 Abs. 1, § 73 Abs. 4, § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 88, 160 Abs. 2, §§ 177, 202 S. 1; BGB § 104 Nr. 2; ZPO §§ 56, 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1, § 227 Abs. 1 S. 1, § 557 Abs. 2; GVG § 17a Abs. 5; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 11.09.2018; Aktenzeichen S 20 U 4939/17) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.10.2018; Aktenzeichen L 12 U 3474/18) |
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für die Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2018 - L 12 U 3474/18 - Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. E. aus F. beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Mit vorbezeichnetem Urteil hat das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers gegen den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid vom 11.9.2018 zurückgewiesen, mit dem das SG Freiburg die Klagen mangels anfechtbarer Verwaltungsentscheidungen als unzulässig abgewiesen hatte. Nach Zustellung am 31.10.2018 hat der Kläger am 6.11.2018 um Prozesskostenhilfe (PKH) für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das vorgenannte Urteil des LSG nachgesucht, Rechtsanwalt Dr. E. aus F. "Prozessvollmacht" erteilt und dessen Beiordnung als besonderen Vertreter (§ 72 SGG) sowie im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 ZPO) beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, das LSG habe den Termin am 26.10.2018 "aufgrund … des offenen PKH-Verfahrens" und auch deshalb verschieben müssen, weil die JVA O. seine Anträge auf Gewährung eines Einzeltransports oder Sonderausgangs abgelehnt und stattdessen die Überstellung per Sammeltransport verfügt habe.
II
1. Ein besonderer Vertreter war nicht zu bestellen. Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Weder die aktenkundigen medizinischen Unterlagen noch das Prozessverhalten des Klägers rechtfertigen die Annahme, dass er prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 64). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind anhand der aktenkundigen medizinischen Unterlagen zu verneinen. Demzufolge haben verschiedene Senate des BSG (Beschlüsse vom 5.12.2013 - B 2 U 11/13 C und B 2 U 12/13 C; vom 3.7.2014 - B 11 AL 4/14 S und vom 23.10.2014 - B 11 AL 3/14 C und B 11 AL 9/14 BH sowie vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 8/14 B) und des LSG Baden-Württemberg (vom 30.4.2014 - L 2 SF 3694/12 EK; vom 29.4.2014 - L 11 SF 293/14 EK und L 11 R 2518/12 sowie vom 20.8.2014 - L 3 AL 527/14) den Kläger für prozessfähig gehalten. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass seine Fähigkeit, die eigenen Interessen zu verfolgen, situationsangemessen vorzutragen und auf gerichtliche Verfügungen zu reagieren, beeinträchtigt ist oder gewesen sein könnte.
2. Folglich liegt auch kein von Amts wegen (§ 71 Abs 6 SGG iVm § 56 Abs 1 ZPO) zu beachtendes Verfahrenshindernis für die Anträge auf PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts vor. Sie sind gleichwohl abzulehnen, weil die Nichtzulassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1, § 121 Abs 1 ZPO). Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Ein solcher Zulassungsgrund ist weder aufgezeigt worden noch nach Durchsicht der Akten aufgrund der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung des Streitstoffs zu erblicken. Dagegen ist eine allgemeine Überprüfung des vorinstanzlichen Urteils in dem Sinne, ob das LSG unter Würdigung der Angaben des Klägers richtig entschieden hat, im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht statthaft. Es ist nicht erkennbar, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen.
a) Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht erkennbar. In der Senatsrechtsprechung ist bereits geklärt, dass Versicherte - außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (§ 88 SGG) - kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung haben (können), solange der zuständige UV-Träger über einen Leistungsanspruch (noch) nicht entschieden hat. Dennoch erhobene, isolierte Leistungsklagen sind unzulässig (Senatsurteile vom 13.12.2005 - B 2 U 29/04 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 16 RdNr 10, vom 7.9.2004 - B 2 U 46/03 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 3 RdNr 11 f und vom 17.12.2015 - B 2 U 2/14 R - SozR 4-2400 § 27 Nr 7 RdNr 11 sowie B 2 U 17/14 R - SozR 4-1500 § 54 Nr 41 RdNr 13). Soweit sich der Kläger in seinem Schriftsatz vom 17.10.2018 demgegenüber auf das Urteil des 13. Senats des BSG vom 26.8.1994 (13 RJ 17/94 - BSGE 75, 56, 58 = SozR 3-1500 § 88 Nr 2) berufen hat, handelte es sich um eine zulässige Untätigkeitsklage. Darüber hinaus hat das BSG bereits entschieden (Beschlüsse vom 13.6.2013 - B 13 R 454/12 B - Juris RdNr 21; vom 31.10.2012 - B 13 R 437/11 B - Juris RdNr 10 und vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 23 mwN), dass ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit auch wegen geltend gemachter Amtshaftungsansprüche keine Teilverweisung an das Zivilgericht vornehmen darf. Denn einerseits kennt das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) keine Teilverweisung und andererseits steht der Verweisung des gesamten Rechtsstreits (Streitgegenstands) der Grundsatz entgegen, dass eine solche nicht erfolgen darf, wenn das angerufene Gericht zumindest für einen Teil der einschlägigen materiellen Ansprüche zuständig ist (wie hier für die vom Kläger ua geltend gemachten Ansprüche auf Verletztenrente und medizinische Heilbehandlung). Zudem hatte das LSG gemäß § 17a Abs 5 GVG, der auch für Amtshaftungsansprüche gilt, nicht zu prüfen, ob der beschrittene und vom SG inzident bejahte Rechtsweg zulässig ist. Aus den Entscheidungen, die der Kläger in seinem Schriftsatz vom 17.10.2018 zitiert, ergibt sich nichts anderes.
b) Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.
c) Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Einen besonderen Vertreter ("Pfleger") musste das LSG nicht bestellen, weil der Kläger weder prozessunfähig war (§ 72 Abs 1 SGG) noch sein Aufenthaltsort in der JVA O. "weit entfernt" außerhalb des Gerichtsbezirks des LSG lag (§ 72 Abs 2 SGG). Die Verwerfung der Ablehnungsgesuche im Schriftsatz vom 17. und 24.10.2018 unter Mitwirkung der abgelehnten Richter in dem angefochtenen Urteil des LSG beruhen weder auf Willkür (Art 3 Abs 1 GG) noch verkennen sie Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantien des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG), sodass das Revisionsgericht an diese unanfechtbaren (Vor-)Entscheidungen (§ 177 SGG) gebunden wäre (§ 557 Abs 2 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). Selbst wenn das LSG das Urteil erlassen haben sollte, ohne zuvor über den mit Schriftsatz vom 17.10.2018 wiederholten PKH-Antrag entschieden zu haben, läge darin kein Verfahrensmangel, weil nicht erkennbar ist, aufgrund welcher neuen Tatsachen oder Rechtsansichten der wiederholte PKH-Antrag erfolgreich gewesen sein könnte (vgl dazu BSG Urteil vom 17.2.1998 - B 13 RJ 83/97 R - SozR 3-1500 § 62 Nr 19; vgl auch BGH Beschluss vom 16.12.2008 - VIII ZB 78/06 - Juris RdNr 12), nachdem das LSG das vorangegangene PKH-Gesuch mit Beschluss vom 15.10.2018 abgelehnt hatte.
Weder die bevorstehende Haftentlassung des Klägers noch die Ablehnung seiner Anträge auf Gewährung eines Einzeltransports oder Sonderausgangs und auch nicht die Verfügung zur Überstellung per Sammeltransport durch die JVA O. stellten "erhebliche Gründe" iS des § 202 S 1 SGG iVm § 227 Abs 1 S 1 ZPO dar, die die Ablehnung der Terminverlegung als verfahrensfehlerhaft erscheinen lassen könnte. Mit der beabsichtigten Überstellung des Klägers per Sammeltransport in die JVA S. (und von dort zum anberaumten Gerichtstermin) hat die Strafvollzugsbehörde ausreichende Vorkehrungen getroffen, um ihm den Zugang zum Gericht zu ermöglichen (vgl dazu BVerfG ≪Kammer≫ vom 30.4.1993 - 2 BvR 1605/92 - NJW 1994, 3087 mwN). Indem er den Sammeltransport verweigerte, wirkte er nicht mit und tat nicht alles ihm Zumutbare, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. In dieser Situation konnte das Berufungsgericht trotz Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden, weil er auf diese Möglichkeit in der Terminsmitteilung hingewiesen worden ist (vgl zum Ganzen Senatsbeschluss vom 30.8.2018 - B 2 U 230/17 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 38 = Juris RdNr 5, vom 17.5.2011 - B 5 R 10/11 BH - BeckRS 2011, 73754 RdNr 7, vom 31.10.2005 - B 7a AL 14/05 B - Juris und vom 21.6.1983 - 4 RJ 3/83 - VdKMitt 1983, 12, 46 mwN).
Da dem Kläger somit keine PKH zu bewilligen ist, hat er nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO auch keinen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Fundstellen
Dokument-Index HI13144558 |