Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Divergenz. Grundsätzliche Bedeutung. Vertriebeneneigenschaft. Krankenversicherungszeit. Versicherungszeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Darlegung eines Verfahrensmangels ist aufzuzeigen, weshalb die Entscheidung des LSG – ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht – auf dem Mangel beruhen kann.
2. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz; sie liegt daher nicht schon dann vor, wenn das angefochtene Urteil nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG entwickelt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien auch widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe bei seiner Entscheidung herangezogen hat.
3. Soweit der Kläger die inhaltliche Richtigkeit des Urteils in Frage stellt, wird dadurch ein Grund für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht in zulässigkeitsbegründender Weise dargelegt.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 162-163, 169 Sätze 2-3; BVFG § 1 a.F., § 7 a.F., § 90 Abs. 1, § 100 Abs. 2 S. 3; FRG §§ 15-16; SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 11; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3, 19 Abs. 4, Art. 20, 103
Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 15.05.2020; Aktenzeichen S 14 KR 1506/19) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.04.2022; Aktenzeichen L 11 KR 1746/20) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. April 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten um die Feststellung der Mitgliedschaft des Klägers in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR).
Der 1950 in der Sowjetunion geborene Kläger war vom 15.11.1968 bis 1991 Berufssoldat in der sowjetischen Armee. Anträge beim Bundesverwaltungsamt auf Aufnahme als Aussiedler waren erfolglos. Er reiste nach Erhalt eines Staatsangehörigkeitsausweises im September 2000 aus Weißrussland in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Ab dem 18.9.2000 war er versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 1.12.2015 erhält er Regelaltersrente.
Die Beklagte stellte fest, dass der Kläger mangels ausreichender Vorversicherungszeiten nicht Mitglied in der KVdR sei, sondern eine freiwillige Mitgliedschaft in der Krankenversicherung bestehe, sobald er nicht mehr beschäftigt sei (Bescheid vom 8.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 12.7.2017). Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten von sechs Jahren für seine beiden Kinder (Bescheid vom 7.2.2018).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 15.5.2020); das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Eine Beiladung des Bundesverwaltungsamts sei nicht erforderlich; die Entscheidung über die Vertriebeneneigenschaft sei unselbstständiger Teil des Verwaltungsverfahrens, an das die Sozialgerichte nicht gebunden seien. Eine Anerkennung als Vertriebener scheide allerdings von vorneherein aus, da der Kläger die Aussiedlungsgebiete erst im Jahr 2000 verlassen habe und daher keine Person iS des § 1 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) sei. Vorliegend komme es überdies auf die Vertriebeneneigenschaft des Klägers auch nicht an. Der Kläger erfülle die sog 9/10-Belegung in der zweiten Hälfte (ab 3.3.1992) innerhalb der Rahmenfrist vom 15.11.1968 bis zum 17.6.2015, dem Tag vor der Rentenantragstellung, nicht. Ausländische Versicherungszeiten seien nur insoweit zu berücksichtigen, als diese der Mitgliedschaft bei einem bundesdeutschen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gleichgestellt seien. § 90 BVFG in der bis zum 31.12.1992 geltenden Fassung (aF), wonach die Krankenversicherungszeiten von Vertriebenen in ihren Herkunftsländern gleichgestellt würden, komme im Fall des Klägers nicht zur Anwendung. Abgesehen davon, dass er die Aussiedlungsgebiete erst im Jahr 2000 verlassen habe, habe er auch als Berufssoldat keine solchen Krankenversicherungszeiten in der Sowjetunion zurückgelegt. Solche Zeiten würden für Vertriebene selbst im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht als Beitragszeiten gewertet (§ 15 Abs 3 Satz 3 Buchst d Fremdrentengesetz ≪FRG≫). Zeiten einer Beschäftigung von Zeit- oder Berufssoldaten könnten gemäß § 16 Abs 2 FRG lediglich rentenrechtliche Zeiten in Form von Beschäftigungszeiten sein. Auch insoweit komme es deshalb nicht darauf an, ob der Kläger als Vertriebener anzuerkennen sei. Die Voraussetzungen der Sondervorschrift des § 5 Abs 12 Nr 12 SGB V erfülle der Kläger schon deshalb nicht, weil er seinen Wohnsitz im September 2000 und damit mehr als 10 Jahre vor seinem Rentenantrag in das Inland verlegt habe (Urteil vom 26.4.2022).
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil.
II
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG). Der Kläger hat die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht entsprechend § 160a Abs 2 Satz 3 SGG hinreichend dargelegt oder bezeichnet.
1. Soweit der Kläger unter II. der Beschwerdebegründung ausführt, dass sich das Berufungsgericht nicht mit der von ihm geltend gemachten Eigenschaft als Vertriebener iS des § 1 iVm § 7 BVFG in der bis zum 31.12.1992 geltenden Fassung (aF) befasst und damit Art 19 Abs 4, Art 20 iVm Art 2 Abs 1 GG und Art 3 GG sowie Art 103 GG verletzt habe, genügen diese Ausführungen nicht zur Darlegung eines Verfahrensmangels. Denn hierfür wäre aufzuzeigen gewesen, weshalb die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 3.3.2022 - B 9 V 37/21 B - juris RdNr 8). Der Kläger teilt hierfür jedoch weder mit, von welchem entscheidungserheblichen Sachverhalt das Berufungsgericht ausgegangen ist, noch setzt er sich damit auseinander, dass es nach der - insoweit auch von ihm zitierten - Rechtsansicht des LSG nicht auf die Vertriebeneneigenschaft des Klägers angekommen ist. Mit der Behauptung, das Urteil des LSG sei inhaltlich rechtsfehlerhaft, lässt sich die Zulassung der Revision im sozialgerichtlichen Verfahren nicht erreichen (vgl BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass das angefochtene Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage zum Bundesrecht die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Insoweit genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass das LSG seiner Entscheidung nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt hätte. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz. Sie liegt daher nicht schon dann vor, wenn das angefochtene Urteil nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG entwickelt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien auch widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe bei seiner Entscheidung herangezogen hat (vgl BSG Beschluss vom 12.5.2005 - B 3 P 13/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 6 RdNr 5 und BSG Beschluss vom 16.7.2004 - B 2 U 41/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 6, jeweils mwN).
Der Kläger behauptet unter III. der Beschwerdebegründung eine Abweichung des LSG von dem Rechtssatz des BSG:
"Hat der Rentenversicherungsträger die Feststellung von Versicherungszeiten abgelehnt, weil die Vertriebenenbehörde auf sein Ersuchen gem. § 100 Abs. 2 S. 3 BVFG in der seit dem 1.1.1993 geltenden Fassung die Vertriebeneneigenschaft des Betroffenen verneint hat, ist die Feststellung der Vertriebenenbehörde im sozialgerichtlichen Verfahren auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen".
Das LSG habe hiervon abweichend entschieden:
"Die von Vertriebenen in ihren Herkunftsländern zurückgelegten Krankenversicherungszeiten werden durch § 90 Abs. 1 BVFG in der bis zum 31.12.1992 geltenden Fassung zwar den Versicherungszeiten im Geltungsbereich des SGB V gleichgestellt. Dieses kommt aber dann nicht zur Anwendung, wenn die im BVFG genannten Aussiedlungsgebiete nach dem 31.12.1992 verlassen worden sind".
Der Kläger hat mit diesen Zitaten jedoch schon keinen schlüssigen Widerspruch aufgezeigt. Er zeigt nicht auf, dass das LSG die Erforderlichkeit einer eigenen Prüfung der Vertriebeneneigenschaft im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich in Abrede gestellt hätte. Vielmehr rügt der Kläger im Kern erneut eine seiner Meinung nach bestehende inhaltliche Unrichtigkeit der Rechtsanwendung des LSG. Hiermit lässt sich eine Divergenz jedoch nicht begründen.
3. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine abstrakt-generelle Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - allgemeine Bedeutung hat und aus Gründen der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf (Klärungsbedürftigkeit) und fähig (Klärungsfähigkeit) ist. Mit der Beschwerdebegründung ist daher aufzuzeigen, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten Norm des Bundesrechts iS des § 162 SGG stellt. Hierzu ist anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszuführen, weshalb eine Klärung erforderlich und im angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Schließlich ist darzulegen, dass der angestrebten Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Breitenwirkung zukommt (vgl BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger stellt die Fragen,
"ob für Vertriebene, die in den Aussiedlungs-/Vertreibungsgebieten (nicht immer Herkunftsgebiete) eine Beschäftigung ausgeübt hat, nur Beitragszeiten im Sinne des § 15 FRG krankenversicherungsbeitragsbegründend sind",
"ob die Personen, denen einen Vertriebenenausweis oder eine Spätaussiedlerbescheinigung ausgestellt worden ist, bei der Anerkennung der im Vertreibungs-/Aussiedlungsgebiet zurückgelegten Erwerbstätigkeitszeiten, anders behandelt werden dürfen als Personen, die die Eigenschaft als Vertriebener über § 100 BVFG geltend machen dürfen", und
"ob nach dem 1.1.1993 Personen, die keine Spätaussiedler sondern nur Vertriebene im Sinne des § 1 BVFG sind und nach diesem Datum in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, in der KVdR die im Aussiedlungs-/Vertreibungsgebiet zurückgelegten Zeiten einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Begründung der Mitgliedschaft anrechnen lassen können, wenn sie nicht auch Spätaussiedler sind."
Damit hat der Kläger jeweils schon keine abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Anwendung, Auslegung oder Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) mit höherrangigem Recht (vgl BSG Beschluss vom 23.12.2015 - B 12 KR 51/15 B - juris RdNr 11 mwN) formuliert. Die Bezeichnung einer hinreichend bestimmten, aus sich heraus verständlichen Rechtsfrage ist aber unverzichtbar, damit das Beschwerdegericht an ihr die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen kann (vgl BSG Beschluss vom 10.9.2014 - B 10 ÜG 3/14 B - juris RdNr 11 mwN).
Unabhängig davon ist die Klärungsfähigkeit nicht hinreichend dargelegt. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht mit der notwendigen Klarheit, ob über die aufgeworfenen Fragen nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) überhaupt tragend entschieden werden könnte. Ohne Darlegung des vom LSG festgestellten Sachverhalts kann die vom Kläger in seinen Fragen zugrunde gelegte Vertriebeneneigenschaft durch Geburt "nach der Vertreibung" eines Elternteils (§ 7 BVFG aF) und seine Berechtigung nach § 100 Abs 1 BVFG iVm § 90 Abs 1 BVFG aF nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Der Kläger zeigt insbesondere auch nicht substantiiert auf, aufgrund welcher vom LSG festgestellter Tatsachen die Vorversicherungszeit in der zweiten Hälfte des nach § 5 Abs 1 Nr 11 SGB V maßgeblichen Zeitraums hier im notwendigen Umfang erfüllt sein soll. Für die behauptete Gleichstellung nach § 90 BVFG aF wäre zumindest die konkrete Darlegung erforderlich gewesen, dass und in welchem Umfang der Kläger (ggf aufgrund welcher Beschäftigung) in dieser Zeit einem staatlichen Gesundheitssystem angehört hat, das eine der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbare Funktion erfüllt hat (vgl BSG Urteil vom 25.10.1994 - 3 RK 6/94 - SozR 3-2500 § 54 Nr 1 S 6). Soweit der Kläger sich stattdessen pauschal auf die rentenversicherungsrechtliche Regelung des § 16 FRG über Beschäftigungszeiten "vor der Vertreibung“ (vgl zu diesem Erfordernis BSG Urteil vom 17.10.2006 - B 5 RJ 21/05 R - SozR 4-5050 § 15 Nr 3 RdNr 26 ff) bezieht, setzt er sich nicht damit auseinander, ob und inwieweit diese Vorschrift im vorliegenden Fall überhaupt einschlägig und erfüllt ist.
Soweit der Kläger mit diesen Ausführungen erneut die inhaltliche Richtigkeit des Urteils in Frage stellt, wird dadurch ein Grund für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht in zulässigkeitsbegründender Weise dargelegt (vgl BSG Beschluss vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18).
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15718934 |