Verfahrensgang

SG Hildesheim (Entscheidung vom 02.05.2017; Aktenzeichen S 54 AS 1225/12)

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 28.09.2021; Aktenzeichen L 11 AS 416/17)

 

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. September 2021 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat den Klägern die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Damit erledigt sich der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

 

Gründe

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der bezeichneten Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Satz 2 SGG).

Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (Nr 3). Der Beklagte hat keinen dieser drei Zulassungsgründe in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG; so bereits BSG vom 28.2.2022 - B 7/14 AS 325/21 B - und BSG vom 30.3.2022 - B 4 AS 328/21 B - zu vergleichbaren Nichtzulassungsbeschwerden des Beklagten gegen Urteile des LSG vom selben Tag).

In den Vorinstanzen ging es um die Übernahme einer im März 2012 fälligen Nebenkostennachforderung. Von dem auf das Abrechnungsjahr 2011 entfallenden Betrag iHv 1045,48 Euro hatte das beklagte Jobcenter den - vollen - Heizkostenanteil iHv 348,20 Euro, aber nur einen Betriebskostenanteil iHv 402,30 Euro übernommen. Dabei war er von einer Wirkung seiner Kostensenkungsaufforderung aus Dezember 2010 ab dem 1.7.2011 ausgegangen und hatte das rechnerisch auf die zweite Jahreshälfte 2011 entfallende Abrechnungssoll nicht berücksichtigt. Der Beklagte hatte in seiner Kostensenkungsaufforderung angemessene Unterkunftsaufwendungen iHv 458,15 Euro/Monat mitgeteilt. Den Wert hatte er - bzw sein kommunaler Träger - im Jahr 2008 im Rahmen eines ab dem 1.1.2009 geltenden Konzepts nach Erhebungen aus den Jahren 2007 und 2008 festgesetzt. Das LSG ist mit dem SG davon ausgegangen, dass die tatsächliche Nachforderung zu übernehmen ist. Einer nur begrenzten Übernahme der Aufwendungen für Unterkunft liege kein schlüssiges Konzept des Beklagten zugrunde; ausgehend von dem Tabellenwert nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 vH (575,30 Euro) seien die tatsächlichen Aufwendungen (laufend monatlich 471 Euro) angemessen.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde wirft der Beklagte folgende Fragen auf, denen er als Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung beimisst:

1. Ist es für die Schlüssigkeit eines KdU Konzeptes notwendig, die konkrete Länge, den Beginn und das Ende des Datenerhebungszeitraumes festzulegen oder ist es zulässig, die Datenerhebung fortlaufend ab einem bestimmten Datenerhebungsbeginn durchzuführen?

2. Ist eine Nachbesserungsmöglichkeit hinsichtlich Beanstandungen des Gerichtes in Bezug auf ein schlüssiges Konzept i.S.d. § 22 SGB II auch dann dem Grundsicherungsträger einzuräumen, wenn aus Sicht des Gerichtes ein nicht planmäßiges Vorgehen vorliegt oder löst erst das Vorliegen eines planmäßigen Vorgehens die Möglichkeit der Nachbesserung aus?

3. Muss eine nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 2. HS SGG ausgeschlossene Rüge der fehlerhaften Beweiswürdigung im Rahmen der Sachaufklärung des § 103 SGG und der Hinweispflicht nach § 106 Abs. 1 SGG und 112 SGG Berücksichtigung finden, wenn die Überzeugung des Gerichtes auf gravierenden Denkfehlern beruht?

4. Ist es erforderlich grundsätzlich Wohnungen des einfachsten Standards aus dem für die Mietobergrenze heranzuziehenden Datenbestand vor Berechnung der Mietobergrenze auszusondern?

5. Muss die Verfügbarkeit von angemessenem Wohnraum bei Vorliegen eines schlüssigen Konzeptes konkret für den Kostensenkungszeitraum nachgewiesen werden?.

Das Vorbringen des Beklagten zu diesen Fragen genügt den im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu erfüllenden Darlegungsanforderungen nicht.

Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass eine konkrete Rechtsfrage klar formuliert wird. Weiter muss ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit im jeweiligen Rechtsstreit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) aufgezeigt werden (stRspr; vgl etwa BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage dann, wenn sie für den zu entscheidenden Fall rechtserheblich ist (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Über die aufgeworfene Rechtsfrage müsste das Revisionsgericht also - in Ergänzung zur abstrakten Klärungsfähigkeit - konkretindividuell sachlich entscheiden müssen (BSG vom 25.6.1980 - 1 BA 23/80 - SozR 1500 § 160 Nr 39 und BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Dies erfordert es, dass der Beschwerdeführer den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils und damit insbesondere den Schritt darlegt, der die Entscheidung der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage notwendig macht (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31).

Unabhängig von der Darstellung der Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit einzelner aufgeworfener Fragen legt der Beklagte nicht hinreichend dar, inwiefern diese im konkreten Fall entscheidungserheblich werden können. Ausgehend von seinem - im Zusammenhang mit einer behaupteten Divergenz der Entscheidung des LSG im Vergleich mit dem Urteil des BSG vom 12.12.2017 (B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93) erfolgten - Vorbringen verfügt der Beklagte ab dem 1.1.2009 über ein behördliches Konzept, das bis zum 31.12.2010 gegolten habe und danach "gem. Indexierung" habe fortgeschrieben werden können. Dieses Vorbringen zugrunde gelegt fehlt es an einer Auseinandersetzung mit den Folgen einer Indexfortschreibung. Angesichts des Unterschiedsbetrags von 12,85 Euro zwischen dem in der Kostensenkungsaufforderung mitgeteilten Angemessenheitswert und den tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft hätte es - die Richtigkeit der vom Beklagten vorgenommenen anteiligen Angemessenheitsberechnung im Nachhinein abgerechneter Nebenkosten vorausgesetzt - weiterer Ausführungen dazu bedurft, dass die tatsächlichen Aufwendungen der Kläger für Unterkunft auch in Ansehung einer Indexfortschreibung zum 1.1.2011 ab dem 1.7.2011 noch unangemessen wären. Nur dann käme es auf seine Ausgangsfragen zur Schlüssigkeit des Konzepts ab dem 1.1.2009 und dessen Nachbesserungsmöglichkeiten an.

Das übrige Vorbringen zur grundsätzlichen Bedeutung der im Einzelnen aufgeworfenen Fragen vermag die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht zu rechtfertigen, wozu der Senat auf seine Ausführungen im Beschluss vom 28.2.2022 (B 7/14 AS 325/21 B, RdNr 5-11, dokumentiert in juris) Bezug nimmt.

Auch wegen des Zulassungsgrunds der Abweichung (Divergenz, § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sind die Vorgaben an eine zulässige Beschwerdebegründung nicht erfüllt. Für die Bezeichnung einer Divergenz ist aufzuzeigen, mit welcher genau bezeichneten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angefochtene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage des BSG abweicht. Dessen rechtliche Aussage muss aus aktueller Rechtsprechung gewonnen werden. Insoweit ist darzulegen, dass die Divergenz auf einer solchen Rechtsprechung des BSG beruht und keine Änderung oder Modifizierung der einschlägigen Rechtsprechung eingetreten ist (vgl BSG vom 14.3.2007 - B 11a AL 143/06 B - RdNr 10), jedenfalls wenn eine Modifizierung oder weitere Konkretisierung naheliegt (vgl zur dem Jobcenter vorbehaltenen Erstellung eines schlüssigen Konzepts BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - BSGE 127, 214 = SozR 4-4200 § 22 Nr 101, RdNr 29). Eine Abweichung liegt nicht schon vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG aufgestellt hat. Nicht die - behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die fehlende Übereinstimmung im Grundsätzlichen vermag die Zulassung der Revision wegen Abweichung zu begründen. Die Beschwerdebegründung muss deshalb erkennen lassen, dass das LSG dem BSG widersprochen und von den bezeichneten rechtlichen Aussagen des BSG abweichende, dh mit diesen unvereinbare eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (vgl BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34; Krasney in Krasney/Udsching, Hdb SGG, 7. Aufl 2016, IX. Kap, RdNr 196 mwN).

Diesen Maßstäben genügt die Beschwerdebegründung nicht. Der Beklagte formuliert schon keinen konkreten Rechtssatz des BSG, dem das LSG - ausgehend von seinem eigenen rechtlichen Standpunkt - ausdrücklich widersprochen haben soll, indem es ausführe: "Bei gänzlichen Fehlen von für die Schlüssigkeit eines KdU-Konzepts unverzichtbaren vorgelegten Festlegungen handelt es sich nicht um ein im Sinne der BSG-Rechtsprechung planmäßiges, sondern um ein rein tatsächliches und letztlich planloses Vorgehen. Ein solch planloses Vorgehen kann nicht nachträglich in ein planmäßiges nachgebessert werden". Die vom Beklagten zur Begründung einer angeblichen Divergenz benannten Rechtssätze des BSG setzen sich nicht damit auseinander, wie im Fall eines "planlosen" Vorgehens zu verfahren ist. Die behauptete (divergierende) Aussage des BSG, bei jeglichen Mängeln eines schlüssigen Konzepts sei dem Jobcenter eine Nachbesserungsmöglichkeit zu geben, findet sich darin ebenfalls nicht. Letztlich behauptet auch die Beschwerdebegründung nicht, dass eine Nachbesserung auch aus Sicht des LSG zur Schlüssigkeit seines Konzepts hätte führen können. Denn in ihr wird darauf abgestellt, dass es aus Sicht des Beklagten eine zutreffende Datengrundlage gegeben habe, die eine Nachbesserung zulasse. Demgegenüber hat das LSG bei seiner Beurteilung, das Konzept des Beklagten sei unschlüssig, auch auf Fehler in der Datenerhebung abgestellt. Damit bleibt fraglich, ob eine Nachbesserung auf der Grundlage des vorhandenen Datenbestands dazu führen wird, dass das LSG das behördliche Konzept als schlüssig bewertet, wozu die Beschwerde nichts ausführt.

Soweit der Beklagte eine Divergenz in Bezug auf die Berechnung der kalten Nebenkosten geltend macht, gibt die Beschwerdebegründung schon keine Entscheidung des BSG wieder, von der das LSG abgewichen sein soll. Ähnliches gilt für eine genau bezeichnete rechtliche Aussage des LSG, die wegen der Validität der Daten von einer rechtlichen Aussage des BSG abweicht. Zur Begründung führt der Beklagte nur seine eigene Interpretation verschiedener BSG-Entscheidungen an, was zu kurz greift.

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision weiter dann zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Insoweit genügt die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels nicht.

Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels stützt, muss zu seiner Bezeichnung die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; siehe bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung, ausgehend von der Rechtsansicht des LSG, auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (zu den Anforderungen vgl etwa BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 169/15 B - juris, RdNr 9 mwN).

Der Vortrag, dass die Ausführungen in einem im Auftrag des Beklagten im Jahr 2014 eingeholten Gutachten zu seinem Konzept aus dem Jahr 2008 übergangen worden seien und das LSG damit gegen den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 GG) verstoßen habe, reicht für eine im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde berücksichtigungsfähige Bezeichnung eines Verfahrensmangels nicht aus. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt erst vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr; vgl etwa BVerfG vom 1.8.2017 - 2 BvR 3068/14 - NJW 2017, 3218 ff, 3219; BSG vom 13.3.2018 - B 11 AL 79/17 B - juris, RdNr 5; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 62 RdNr 8b). Der Verfahrensmangel ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt (zu den Anforderungen vgl etwa BSG vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - juris, RdNr 9).

Daran fehlt es schon deshalb, weil nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten das LSG das Gutachten berücksichtigt hat, wenn auch inhaltlich nicht in der von ihm für geboten erachteten Art und Weise. Letztlich stellt das Gutachten aus dem Jahr 2014 nach dem Gesamtzusammenhang des Beschwerdevorbringens bereits einen - wenn auch von einzelnen gerichtlichen Verfahren unabhängigen - Versuch des Beklagten dar, Einwendungen gegen sein Konzept aus dem Jahr 2008 entgegenzutreten und dessen Mängel auch für das seit 2012 laufende Gerichtsverfahren nachzubessern. Allein der Umstand, dass das LSG der Rechtsauffassung des Beklagten zum Erfolg seiner Nachbesserung nicht gefolgt ist, begründet aber keinen Gehörsverstoß und auch nicht den ebenfalls geltend gemachten Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass ein Kläger "gehört" wird, verpflichtet aber nicht dazu, dem Vorbringen eines Beteiligten zu folgen (stRspr; vgl zuletzt BSG vom 19.8.2021 - B 10 ÜG 11/20 B - RdNr 7 mwN; zur Wertung eines vom Beklagten eingeholten Gutachtens vgl BSG vom 3.9.2020 - B 14 AS 34/19 R - BSGE 131, 10 = SozR 4-4200 § 22 Nr 110, RdNr 24).

Soweit der Beklagte einen Verstoß gegen § 103 SGG, §§ 106, 112 SGG geltend macht, weil das LSG keinen Hinweis erteilt habe, wie es das Gutachten aus dem Jahr 2014 werte, ist auch dieser vermeintliche Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß gerügt. Zum einen können die Einschränkungen des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht über den "Umweg" der Rüge einer Verletzung der §§ 106, 112 SGG oder des rechtlichen Gehörs umgangen werden (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 18c mit zahlreichen Nachweisen). Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss zudem ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (vgl zB BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Hierzu gehört nach ständiger Rechtsprechung des BSG die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN).

Dazu trägt der Beklagte, der im Übrigen im Termin rechtskundig vertreten war und einen Sachantrag gestellt hat, nichts vor. Er meint zwar, beruhe die Entscheidung des LSG auf Denkfehlern, sei ein darauf beruhender materiell-rechtlicher Standpunkt nicht schützenswert und gälten auch die Einschränkungen des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht; da er aber schon nicht formgerecht dargelegt hat, dass die Entscheidung des LSG auf Denkfehlern beruht, ist auch das darauf gestützte weitere Vorbringen zu vermeintlichen Ausnahmen von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht schlüssig.

Wenn der Beklagte außerdem meint, es hätten Hinweise des LSG erfolgen müssen, wie es das Gutachten verstehe, damit "ggf. ein entsprechender Beweisantrag" hätte gestellt werden können, fehlt es bereits an Ausführungen, über welche im Einzelnen bezeichneten Tatsachen Beweis erhoben werden sollte. Merkmal eines substantiierten Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl nur BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Dafür ist die behauptete Tatsache möglichst präzise und bestimmt zu behaupten und zumindest hypothetisch zu umreißen, was die Beweisaufnahme ergeben hätte. Darüber hinaus fehlt es an einer nachvollziehbaren Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsauffassung - auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen könnte. Allein der Vortrag, dass sich "das Gericht mit diesem Sachvortrag" dann hätte "auseinandersetzen müssen", genügt dafür nicht.

Die Rüge einer Verletzung von § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 Var 2 SGG - nach nichtzulassungsbeschwerderechtlichen Regeln - von vornherein nicht zur Zulassung der Revision führen. Deshalb kommt es an dieser Stelle nicht auf den revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab bei der Verletzung dieser Vorschrift an (vgl zur tatrichterlichen Bewertung von Repräsentativität und Validität der Datenerhebung im Rahmen der Revision BSG vom 3.9.2020 - B 14 AS 34/19 R - BSGE 131, 10 = SozR 4-4200 § 22 Nr 110).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Durch die Verpflichtung des Beklagten, die Kosten der Kläger zu tragen, hat sich deren Antrag auf PKH erledigt.

S. Knickrehm

Harich

Neumann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15292029

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