Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtsverfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Fragerecht an Sachverständigen
Orientierungssatz
1. Unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erläuterungsbedürftig hält, soll das Fragerecht dem Antragsteller erlauben, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss nehmen und die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können (vgl BSG vom 23.6.2016 - B 3 P 1/16 B = juris RdNr 9 sowie vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B = juris RdNr 14).
2. Insofern steht beim Fragerecht nach § 116 S 2 SGG ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der - grundsätzlich im Ermessen des Gerichts stehenden - Rückfrage an den Sachverständigen nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO; diese dient in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl BSG vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 60/07 B = SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 11).
Normenkette
SGG §§ 62, 103, 109, 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 3-4; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 2020 - L 13 R 54/19 - wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt im zugrunde liegenden Rechtsstreit die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin mit der Begründung ab, diese sei nicht erwerbsgemindert (Bescheid vom 31.1.2017; Widerspruchsbescheid vom 20.6.2017). Die Klage ist erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid vom 11.12.2018). Im Berufungsverfahren ist auf Antrag der Klägerin ein Sachverständigengutachten der Neurologin und Psychiaterin P eingeholt worden. Diese hat die Klägerin für nur noch in der Lage gehalten, drei bis vier Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der von Amts wegen beauftragte Sachverständige B, ebenfalls ein Neurologe und Psychiater, hat im Gutachten vom 2.7.2020 keine quantitativen Leistungseinschränkungen bei der Klägerin gesehen. Das LSG hat die Klägerin darauf hingewiesen, nach einem Vergleich beider Gutachter sei nicht zu erwarten, dass der Senat dem Gutachten der Sachverständigen P folgen werde. Die Klägerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 8.8.2020 beantragt, die Sachverständige P zum Gutachten des Sachverständigen B "ergänzend zu hören und zwar von Amts wegen oder hilfsweise nach § 109 SGG". Hierauf hat sie in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG Bezug genommen. Das LSG ist dem nicht gefolgt und hat die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte Erwerbsminderungsrente, weil sie nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weder teilweise noch voll erwerbsgemindert iS von § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 1 bzw Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI sei. Die davon abweichende Leistungseinschätzung der Sachverständigen P vermöge nicht zu überzeugen. Weitere Ermittlungen wie insbesondere die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen seien auch angesichts der unterschiedlichen Gutachtenergebnisse nicht erforderlich. Daraus würden sich keine aufklärungsbedürftigen Tatsachen ergeben, vielmehr seien die sich widersprechenden Beweisergebnisse vom Gericht zu würdigen (Urteil vom 29.10.2020).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil. Sie macht eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend, indem das LSG eine Befragung der Sachverständigen P unterlassen habe.
II. 1. Die noch zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die als Verfahrensmangel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) allein gerügte Gehörsverletzung liegt nicht vor.
Es entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass - zur Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 Satz 1 SGG) - unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (vgl BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 13 mwN; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - juris RdNr 12 mwN; BSG Beschluss vom 16.10.2019 - B 13 R 153/18 B - juris RdNr 8). Dies gilt auch dann, wenn der Sachverständige ein Gutachten auf Antrag eines Beteiligten gemäß § 109 SGG erstellt hat (vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1750 § 411 Nr 1 - juris RdNr 22; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - juris RdNr 12 mwN; BSG Beschluss vom 15.9.2015 - B 13 R 201/15 B - juris RdNr 7 mwN; anders und isoliert für Zusatz- und ergänzende Fragen, die in untrennbarem Zusammenhang zur Beweiserhebung nach § 109 SGG selbst stehen: vgl BSG Beschluss vom 7.10.2005 - B 1 KR 107/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 9 RdNr 14). Unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erläuterungsbedürftig hält, soll das Fragerecht dem Antragsteller erlauben, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss nehmen und die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können (BSG Beschluss vom 23.6.2016 - B 3 P 1/16 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 17.4.2012 - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 14). Insofern steht beim Fragerecht nach § 116 Satz 2 SGG ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der - grundsätzlich im Ermessen des Gerichts stehenden - Rückfrage an den Sachverständigen nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO; diese dient in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs (BSG Beschluss vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 60/07 B - SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 11 mwN). Vorliegend hat das LSG jedoch keinen Antrag der Klägerin auf Befragung der Sachverständigen P übergangen, weil die Klägerin einen solchen Antrag schon nicht gestellt hat. Insbesondere im Schriftsatz vom 4.8.2020 ist keine Befragung der Sachverständigen beantragt worden, sodass der Senat nicht zu entscheiden braucht, ob die Klägerin einen etwaigen Antrag bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG aufrechterhalten hätte.
Die Klägerin hat im Schriftsatz vom 4.8.2020 keine Fragen formuliert. Es ergeben sich auch weder aus ihrem Vorbringen in diesem Schriftsatz noch aus ihrem sonstigen Berufungsvorbringen Anhaltspunkte dafür, dass es der Klägerin darum gegangen sein könnte, in der mündlichen Berufungsverhandlung eigene - noch zu formulierende - Fragen an die Sachverständige richten zu lassen oder eine entsprechende Befragung schriftlich durchführen zu lassen. Die Klägerin hat mit ihrem Ansinnen, die Sachverständige P ergänzend zum Gutachten des Sachverständigen B zu hören, vielmehr erkennbar eine schriftliche Ergänzung des Gutachtens der Sachverständigen P erstrebt, damit diese sich noch mit dem - erst zeitlich später erstellten - Gutachten des Sachverständigen B auseinandersetze und sich ergänzend zu dessen Ausführungen äußere. Letzteres hat sie am Ende ihres Schriftsatzes vom 4.8.2020 selbst formuliert. Damit hat die Klägerin aber allenfalls beantragt, gegenüber der Sachverständigen P eine schriftliche Ergänzung ihres Gutachtens nach § 118 Abs 1 Satz 2 SGG iVm § 411 Abs 3 Satz 2 Alt 2 ZPO anzuordnen.
Einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), indem das LSG diesem Antrag nicht gefolgt sei, hat die Klägerin schon nicht gerügt. Auf eine Verletzung des § 109 SGG könnte die Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Halbsatz 2 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14668841 |