Entscheidungsstichwort (Thema)
Minderung der Erwerbsfähigkeit bei beruflicher Lärmschwerhörigkeit. "Königsteiner Merkblatt". Nichtzulassungsbeschwerde wegen klärungsbedürftiger Rechtsfrage
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Frage, welche MdE vorliegt, ist nicht ausschließlich medizinischer Art. Insoweit besteht eine gefestigte Rechtsprechung, so daß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht gegeben ist. Ebenfalls ist geklärt, daß trotz der oft großen Bedeutung der ärztlichen Sachverständigen keine Bindung an die ärztlichen Gutachten besteht. Schließlich ist auch nicht mehr klärungsbedürftig, daß bei der Bewertung der MdE auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten sind. Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, wie höchstrichterlich ebenfalls bereits mehrfach entschieden worden ist. Sie sind aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis.
2. Die Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit - "Königsteiner Merkblatt" - berücksichtigen auch die allgemeinen Erfahrungen über die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit durch Lärmschwerhörigkeit im allgemeinen Erwerbsleben.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO Anl 1 Nr. 2301; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 1 S. 1
Gründe
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche des Klägers wegen einer Lärmschwerhörigkeit ab, da es sich nur um eine geringgradige Beeinträchtigung des Hörvermögens handele (Bescheid vom 26. Oktober 1976). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Aurich vom 12. August 1980; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Niedersachsen vom 5. Oktober 1981).
Zur Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung. Klärungsbedürftig sei die Rechtsfrage, ob es genüge, den durch Berufslärm hervorgerufenen Hörverlust ausschließlich anhand der von der medizinischen Wissenschaft erarbeiteten MdE-Tabelle zu bewerten. Bei der Bemessung der MdE handele es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Seine ureigenste Pflicht könne das Gericht nicht auf den Sachverständigen abwälzen.
Wie der Beschwerdeführer nicht verkennt, setzt die grundsätzliche Bedeutung einer Sache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) voraus, daß die Rechtsfrage klärungsbedürftig ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17, § 160a Nr 4). Das ist hier jedoch entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht der Fall.
Den Ausführungen des LSG auf Seite 5 seiner Urteilsgründe ist zu entnehmen, daß das Berufungsgericht bei der - hier maßgebenden - Bewertung der MdE von den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Zustimmung des Schrifttums (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, Seite 566y ff mwN) erarbeiteten Grundsätzen ausgegangen ist. Das LSG hat hierbei und im folgenden auch nicht verkannt, daß die Frage, welche MdE vorliegt, nicht ausschließlich medizinischer Art ist. Auch insoweit besteht eine gefestigte Rechtsprechung (s ua BSGE 41, 99, 101; Brackmann aaO Seite 570a mwN), so daß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht gegeben ist. Ebenfalls geklärt ist, daß trotz der oft großen Bedeutung der ärztlichen Sachverständigen (s BSGE 41, 99, 101) keine Bindung an die ärztlichen Gutachten besteht (s ua BSGE 4, 147, 149; 41, 99, 101; BSG SozR Nr 2 zu § 128 SGG; Brackmann aaO Seite 570a/570b). Schließlich ist nicht mehr klärungsbedürftig, daß bei der Bewertung der MdE auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten sind (s Brackmann aaO Seite 570b). Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, wie höchstrichterlich ebenfalls bereits mehrfach entschieden worden ist (s ua BSGE 4, 147, 149; 31, 185, 186; BSG SozR Nr 9 zu § 581 RVO; Brackmann aaO). Sie sind aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (s ua BSGE 43, 53, 55; BSG SozR 2200 § 622 Nr 19; BSG Urteile vom 18. Februar 1979 - 2 RU 70/79 - und 30. September 1980 - 2 RU 31/80 -; Brackmann aaO). Ob im Einzelfall bei der Anwendung dieser nicht mehr klärungsbedürftigen Grundsätze richtig verfahren wird, ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.
Als Verfahrensfehler rügt der Beschwerdeführer, das LSG habe unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 2 und § 136 Abs 1 Nr 6 SGG keine Feststellungen hinsichtlich des Umfanges der dem Kläger verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gebiet des Erwerbslebens getroffen. Auch diese Verfahrensrüge ist nicht begründet. Nach § 313 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 202 SGG entsprechend anzuwenden ist (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 136 RdNr 7), enthalten die Entscheidungsgründe eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Diesem Erfordernis entspricht das Urteil des LSG auch soweit es die Feststellung des Grades der MdE des Klägers begründet. Insbesondere die vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegten Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit - "Königssteiner Merkblatt" - berücksichtigen auch die allgemeinen Erfahrungen über die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit durch Lärmschwerhörigkeit im allgemeinen Erwerbsleben. Der Beschwerdeführer hat nicht substantiiert gerügt, daß er vor dem Berufungsgericht dargelegt hat, besondere Umstände rechtfertigen bei ihm eine abweichende Beurteilung und daß er hierfür die gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG für die Zulassung der Revision ua erforderlichen Beweisanträge gestellt hat und das LSG diesen Anträgen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Es ist nicht verfahrensfehlerhaft, daß das LSG nicht im einzelnen dargelegt hat, wie sich die Lärmschwerhörigkeit des Beschwerdeführers im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt, insbesondere in welchem Umfang dem Kläger auf dem Gebiet des Erwerbslebens Arbeitsmöglichkeiten verblieben sind. Abgesehen davon, daß der Kläger weiterhin (seit Februar 1944) als Schlosser bei den im Schiffbau tätig war, werden die vom Kläger vermißten Feststellungen auch bei anderen Unfallfolgen (zB bei der Amputation eines Beines) jedenfalls solange nicht gefordert, als im Einzelfall besondere Umstände dies nicht gebieten.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen