Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Durchführung der mündlichen Verhandlung vor Beginn der eigentlich mitgeteilten Terminstunde
Orientierungssatz
1. Kann mithin im Fall einer vor Beginn der eigentlich mitgeteilten Terminstunde durchgeführten mündlichen Verhandlung das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO nur angenommen werden, wenn die Nichtteilnahme eines Beteiligten auf der fehlerhaften Terminmitteilung beruht, so muss ein Beschwerdeführer zur hinreichenden Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels auch Umstände vortragen, aus denen sich dieses Beruhen ergibt (vgl BSG vom 19.2.1986 - 7 RAr 21/85 = SozR 4100 § 104 Nr 14).
2. Dem ist jedenfalls Genüge getan, wenn vorgebracht wird, dass der Beschwerdeführer zu dem in der Terminmitteilung genannten späteren Zeitpunkt bei Gericht erschienen ist und feststellen musste, dass seine Sache bereits entschieden war (vgl BSG vom 7.10.2009 - B 11 AL 95/09 B = juris RdNr 4 sowie vom 16.12.2014 - B 9 SB 56/14 B = juris RdNr 6).
Normenkette
SGG §§ 62, 110 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 4
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 26.02.2015; Aktenzeichen L 22 R 745/12) |
SG Berlin (Urteil vom 23.08.2012; Aktenzeichen S 1 R 5126/10) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. Februar 2015 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die im Jahr 1972 geborene, an spinaler Muskelatrophie leidende Klägerin begehrt vom beklagten Rentenversicherungsträger die Versorgung mit einer Treppensteighilfe als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Die Beklagte lehnte den darauf gerichteten Antrag der Klägerin ab, weil das Hilfsmittel auch ohne Arbeitsbezug zum Bestandteil der persönlichen Lebensführung gehöre und überdies bei ihrem Arbeitgeber ein Fahrstuhl vorhanden sei (Bescheid vom 15.1.2010). Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 20.7.2010, Urteil des SG Berlin vom 23.8.2012, Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 26.2.2015). Im Urteil des LSG ist ausgeführt, das Hilfsmittel sei zur Erreichung des Arbeitsplatzes nicht mehr erforderlich, denn die Klägerin verfüge nach Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses bei einem Steuerberater zum 31.12.2014 (zutreffend: 31.1.2014) und - ungeachtet der noch beim Landesarbeitsgericht anhängigen Kündigungsschutzklage - nicht erfolgter Weiterbeschäftigung derzeit nicht mehr über einen Arbeitsplatz, den sie nur mit einer Treppensteighilfe erreichen könne. Zudem hat das LSG der Klägerin "Missbrauchskosten" in Höhe von 337,50 Euro auferlegt, weil sie den Rechtsstreit trotz Belehrung über die völlige Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung fortgeführt habe.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG rügt die Klägerin als Verfahrensmangel eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG).
II. Die Beschwerde ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung der Klägerin vom 9.6.2015 genügt nicht der vorgeschriebenen Form, denn sie hat einen Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).
Hierzu müssen die tatsächlichen Umstände, welche den geltend gemachten Verfahrensverstoß begründen sollen, substantiiert und schlüssig dargelegt und darüber hinaus muss - von bestimmten Ausnahmen abgesehen (insbesondere bei absoluten Revisionsgründen gemäß § 202 S 1 SGG iVm § 547 ZPO) - aufgezeigt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4, Nr 21 RdNr 4 - jeweils mwN; Krasney in Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX, RdNr 202 ff).
Diesen Erfordernissen wird das Vorbringen der Klägerin nicht gerecht. Sie trägt vor, das LSG habe sie und ihren Prozessbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung am 26.2.2015 um 11.45 Uhr geladen. Ausweislich des Terminprotokolls habe die mündliche Verhandlung jedoch von 11.00 Uhr bis 11.30 Uhr stattgefunden, ohne dass sie darüber informiert worden sei. Aufgrund dieses Verstoßes gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren liege der absolute Revisionsgrund des § 202 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO vor, sodass "unwiderruflich" vermutet werde, dass die Rechtsverletzung für die Entscheidung des LSG ursächlich geworden sei.
Damit hat die Klägerin zwar schlüssig dargestellt, dass das Berufungsgericht die Regelung in § 110 Abs 1 S 1 SGG missachtet hat, der zufolge den Beteiligten der Ort und die (zutreffende) Zeit der mündlichen Verhandlung in der Regel zwei Wochen vorher mitzuteilen ist (BSG Urteil vom 19.2.1986 - 7 RAr 21/85 - Juris RdNr 14 ≪insoweit in SozR 4100 § 104 Nr 14 nicht abgedruckt≫; BSG Beschluss vom 2.3.2010 - B 5 R 440/09 B - Juris RdNr 5). Ihrem Vorbringen kann jedoch nicht entnommen werden, inwiefern die Entscheidung des LSG hierauf beruhen kann. Dies gilt in gleicher Weise, soweit sie mit der Rüge der Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der festgesetzten und ihr mitgeteilten Terminstunde eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) geltend macht. Zwar ist die Darstellung, inwiefern das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann, entbehrlich, wenn nach den vorgetragenen Umständen ein absoluter Revisionsgrund iS von § 202 S 1 SGG iVm § 547 ZPO vorliegt (stRspr - vgl BSG Urteil vom 19.2.1986 - 7 RAr 21/85 - Juris RdNr 14; BSG Urteil vom 10.12.1992 - 11 RAr 81/92 - Juris RdNr 12 ff; BSG Urteil vom 28.1.1993 - 2 RU 45/92 - Juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 9.4.1997 - 9 RV 17/96 - Juris RdNr 11 f; BSG Beschluss vom 2.3.2010 - B 5 R 440/09 B - Juris RdNr 6). Das ist hier jedoch nicht der Fall.
Der absolute Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO (bis zum 31.12.2001: § 551 Nr 5 ZPO) liegt vor, wenn ein Beteiligter in dem Verfahren nicht nach den Vorschriften der Gesetze vertreten war, sofern er nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat. Das kommt in der hier zu beurteilenden Konstellation, in der das LSG die Terminstunde vorgezogen und die mündliche Verhandlung noch vor dem in der Terminmitteilung genannten Zeitpunkt ihres Beginns vollständig abgeschlossen hat, aber nur dann in Betracht, wenn gerade die Vorverlegung der Terminstunde dazu geführt hat, dass ein Beteiligter nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen konnte (so ausdrücklich BSG Urteil vom 19.2.1986 - 7 RAr 21/85 - Juris RdNr 16: dort verneint, weil der Prozessbevollmächtigte zuvor mitgeteilt hatte, an der mündlichen Verhandlung nicht teilzunehmen). Auch den Entscheidungen des BSG, die bei entsprechenden Sachverhalten das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds bejaht haben, lagen jeweils Fallgestaltungen zugrunde, in denen einem Beteiligten gerade wegen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Ladung die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verunmöglicht worden war (BSG Urteil vom 15.10.1986 - 5b RJ 48/85 - Juris RdNr 9 ≪"wenn deshalb"≫; BSG Urteil vom 10.12.1992 - 11 RAr 81/92 - Juris RdNr 13; BSG Urteil vom 28.1.1993 - 2 RU 45/92 - Juris RdNr 3, 10; BSG Urteil vom 9.4.1997 - 9 RV 17/96 - Juris RdNr 2, 11; BSG Beschluss vom 2.3.2010 - B 5 R 440/09 B - Juris RdNr 6; in diesem Sinne auch BVerwG Urteil vom 6.2.1987 - 4 C 2/86 - NJW 1987, 2694 - Juris RdNr 9). Soweit im Urteil des BSG vom 22.4.1998 (B 9 SB 3/97 R - Juris RdNr 12) hiervon abweichend und ohne nähere Begründung ausgeführt ist, es komme auf einen etwaigen Ursachenzusammenhang zwischen der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung und einer unterbliebenen Änderung der Ladung nicht an, war das für die dort getroffene Entscheidung nicht tragend; eine Anfrage beim 9. Senat nach § 41 SGG ist daher nicht erforderlich.
Kann mithin im Fall einer vor Beginn der eigentlich mitgeteilten Terminstunde durchgeführten mündlichen Verhandlung das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO nur angenommen werden, wenn die Nichtteilnahme eines Beteiligten auf der fehlerhaften Terminmitteilung beruht, so muss ein Beschwerdeführer zur hinreichenden Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels auch Umstände vortragen, aus denen sich dieses Beruhen ergibt (vgl BSG Urteil vom 19.2.1986 - 7 RAr 21/85 - Juris RdNr 16 am Ende). Dem ist jedenfalls Genüge getan, wenn vorgebracht wird, dass der Beschwerdeführer zu dem in der Terminmitteilung genannten späteren Zeitpunkt bei Gericht erschienen ist und feststellen musste, dass seine Sache bereits entschieden war (vgl zB BSG Beschluss vom 7.10.2009 - B 11 AL 95/09 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 16.12.2014 - B 9 SB 56/14 B - Juris RdNr 6).
Im hier zu beurteilenden Fall fehlen entsprechende Darlegungen. Der Beschwerdebegründung kann nicht entnommen werden, ob die Klägerin und/oder ihr Prozessbevollmächtigter zu der in der Terminmitteilung benannten Terminstunde um 11.45 Uhr bei Gericht erschienen sind, um der mündlichen Verhandlung beizuwohnen, sie aber gerade wegen der unzutreffenden Mitteilung an einer Teilnahme gehindert worden sind. Inhalt und Grundlage ihres Vorbringens sind vielmehr allein die Angaben zu Beginn und Ende der mündlichen Verhandlung in der Niederschrift; dass sie trotz ihres am 25.2.2015 um 17.30 Uhr dem LSG übermittelten Befangenheits- und Terminaufhebungsantrags an der mündlichen Verhandlung am 26.2.2015 habe teilnehmen wollen, ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin jedoch nicht. Damit ist das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds nicht schlüssig aufgezeigt. Ebenso fehlen - dann jedenfalls erforderliche - Darlegungen, inwiefern die Entscheidung des LSG auf den gerügten Verfahrensmängeln beruhen kann (§ 160a Abs 2 S 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 1 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen