Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Zurückverweisung. multiple Sklerose. Kostentragung für ein Medikament. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. notwendige Beiladung der Krankenkasse. Berufung und zugleich Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung. Entscheidung über die Nichtzulassung. Berufungssumme bei Medikamentenversorgung. soziales Entschädigungsrecht. Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln im Rahmen der Heilbehandlung
Orientierungssatz
1. Die in § 75 Abs 2 SGG geregelte Verpflichtung zur Beiladung besteht nicht nur im Rahmen einer zulässigen Klage, sondern grundsätzlich auch bei deren Unzulässigkeit.
2. Bei einem Streit um eine Versorgung mit einem Medikament zur Behandlung einer als Impfschaden anerkannten multiplen Sklerose kommt die Krankenkasse als anderer leistungspflichtiger Versorgungsträger iS von § 75 Abs 2 Alt 2 SGG in Betracht und ist daher notwendig beizuladen.
3. Die Beiladung der Krankenkasse hat nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG im Hinblick auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung auch dann zu erfolgen, wenn der nach § 14 SGB 9 erstangegangene Rehabilitationsträger den Antrag nicht nach § 14 Abs 2 SGB 9 weitergeleitet hat und die Krankenkasse deshalb nicht vorläufig leistungspflichtig, sondern nur im Einzelfall erstattungspflichtig ist.
4. Hängt die Statthaftigkeit der Berufung von der Höhe der Berufungssumme ab, ist im Falle eines Streits um die Versorgung mit einem Medikament zu prüfen, ob nur die einmalige Verordnung des Medikaments bzw Kostenerstattung oder nicht vielmehr die Klärung eines Daueranspruchs auf Versorgung mit diesem Mittel streitig ist.
5. Legt der Kläger Berufung und zugleich Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung ein, muss das Landessozialgericht eine Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde fällen, wenn es die Beschwerde (hier möglicherweise unter einer Bedingung eingelegt) als unzulässig ansieht.
6. Ob die rechtlichen Maßstäbe der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln im Rahmen der Heilbehandlung nach §§ 10ff BVG noch klärungsbedürftig sein könnten, bedarf gegebenenfalls einer vertieften Betrachtung.
Normenkette
SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1, § 75 Abs. 2 Alt. 2, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, Abs. 2 Nr. 3, § 145 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 5; BVG §§ 10, § 10ff, § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2, § 18c Abs. 1 Sätze 1-3, §§ 19-20; SGB 9 § 14 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; SGB 9 § 26 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 20.07.2010; Aktenzeichen L 13 VK 9/10) |
SG Aachen (Urteil vom 22.04.2010; Aktenzeichen S 12 VK 6/10) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Kostentragung für das Medikament "Wobenzym".
Den entsprechenden Antrag des Klägers vom 3.10.2009 lehnte das beklagte Land mit Bescheid vom 13.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.2.2010 ab, weil Wobenzym zur Behandlung der als Schädigungsleiden anerkannten Multiplen Sklerose weder notwendig noch geeignet sei (Hinweis auf § 10 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫). Eine Kostenübernahme nach § 10 Abs 2 BVG scheide aus, weil Wobenzym im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen nicht aufgeführt sei.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht Aachen (SG) hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 5.3.2010 und danach aufgrund - vom Kläger beantragter - mündlicher Verhandlung durch Urteil vom 22.4.2010 als unbegründet abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Dagegen hat sich der Kläger an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) gewandt und "Berufung als zutreffendes Rechtsmittel eingelegt". Nur "äußerst hilfsweise" hat er Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
Nachdem der Berichterstatter des erkennenden Senats des LSG mit Schreiben vom 7.6.2010 den Kläger auf die Unzulässigkeit der Berufung wegen des Nichterreichens des Berufungsstreitwerts und darauf hingewiesen hatte, dass der "äußerst hilfsweise" gestellte Antrag auf "Zulassung der Berufung" als bedingter Rechtsbehelf nicht zulässig sei, hat das LSG die Berufung durch Beschluss vom 20.7.2010 als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es dargelegt: Die Berufung sei unzulässig, weil die Berufungssumme des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG von 750 Euro nicht erreicht sei und keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs 1 S 2 SGG) betroffen seien. Eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des SG habe der Kläger nicht wirksam erhoben, da er nur "äußerst hilfsweise einen Antrag auf Zulassung der Berufung" gestellt habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen eines Verfahrensmangels (Unterlassung der notwendigen Beiladung der Krankenkasse ≪KK≫) begründet. Zudem habe das LSG die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, weil er wirksam Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt habe.
II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Der hinreichend bezeichnete (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) Verfahrensfehler der Unterlassung einer notwendigen Beiladung liegt vor.
Entgegen der Ansicht des Klägers durfte das LSG allerdings über dessen Berufung entscheiden, ohne zuvor über die Nichtzulassungsbeschwerde befunden zu haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (s Beschluss vom 24.4.1975 - 2 RU 63/75 - SozR 1500 § 160 Nr 1; Beschluss vom 10.3.2010 - B 14 AS 71/09 R - juris) kann die Revision verworfen werden, bevor über die Beschwerde wegen deren Nichtzulassung entschieden ist. In diesem Fall ist Revision nach deren Zulassung statthaft. Gleiches muss für eine von der Zulassung abhängige Berufung gelten.
Die Verwerfung der Berufung des Klägers beruht auf einem Verfahrensmangel. Das LSG hätte die Krankenkasse, der der Kläger angehört, vor seiner Entscheidung über die Berufung gemäß § 75 Abs 2 SGG beiladen müssen.
Nach dieser Vorschrift sind Dritte zu einem Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (1. Alt) oder sich im Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt (2. Alt).
Anders als im Verfahren B 9 V 14/10 B (vorgehend LSG NRW - L 13 VE 10/10 -) ist im vorliegenden Rechtsstreit anhand der Begründung des angefochtenen Bescheides ersichtlich, dass es um eine Versorgung mit dem Medikament "Wobenzym" zur Behandlung mit der als Impfschaden anerkannten Multiplen Sklerose (MS) des Klägers geht. Gemäß § 18c Abs 1 S 1 BVG werden die §§ 10 bis 24a BVG (Heilbehandlung, Versehrtenleibesübungen und Krankenbehandlung) von der Verwaltungsbehörde (gemäß § 2 KOVVfG das Versorgungsamt) "durchgeführt". Vom Versorgungsamt "erbracht" werden gemäß § 18c Abs 1 S 2 BVG indes nur die dort im einzelnen aufgeführten Leistungen wie zB Zahnersatz oder Arbeitstherapie. Die "übrigen Leistungen" iS der §§ 10 bis 24a BVG werden dagegen gemäß § 18c Abs 1 S 3 BVG von den KKen "erbracht". Zu den übrigen Leistungen zählen die in § 18c Abs 1 S 2 BVG nicht genannten Leistungen, insbesondere der ambulanten ärztlichen Behandlung und der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln (s § 11 Abs 1 Nr 1 und 2 BVG). Die Zuständigkeit der KK zur Erbringung der hier beanspruchten Leistung und damit auch deren Leistungspflicht kommt daher "in Betracht" (§ 75 Abs 2 2. Alt SGG).
Allerdings kann sich eine Zuständigkeit des Beklagten selbst aus § 14 SGB IX ergeben. Denn es handelt sich bei der Versorgung mit Arzneimitteln begrifflich auch um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs 2 Nr 3 SGB IX und damit um eine Leistung zur Teilhabe iS der §§ 4, 5 Nr 1 SGB IX. Hat der Beklagte den Antrag nicht gemäß § 14 Abs 2 SGB IX weitergeleitet, ist er als sog erstangegangener Träger anzusehen und vorläufig leistungspflichtig, die Krankenkasse auch unter Berücksichtigung von § 18c Abs 1 S 3, §§ 19, 20 BVG (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 16.2.2012 - B 9 VG 1/10 R - zur Veröffentlichung in BSGE 110, 104 und SozR 4-1300 § 112 Nr 1 vorgesehen) im Einzelfall erstattungspflichtig. In diesem Fall besteht die Notwendigkeit einheitlicher Entscheidung gegenüber der KK iS des § 75 Abs 2 1. Alt SGG (s BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R - BSGE 93, 283 = SozR 4-3250 § 14 Nr 1).
Die Pflicht zur Beiladung der KK bestand für das LSG, auch wenn es die Berufung des Klägers wegen Nichterreichens der Berufungssumme des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG als unzulässig angesehen hat. Die in § 75 Abs 2 SGG geregelte Verpflichtung ist stark ausgeprägt, weil die Beiladung nicht nur den Interessen der Hauptbeteiligten, sondern auch dem öffentlichen Interesse einer umfassenden und zügigen Klärung des streitigen Rechtsverhältnisses dient (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 75 RdNr 13a; Hommel in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand September 2010, § 75 RdNr 54). Sie besteht daher nicht nur im Rahmen einer zulässigen Klage, sondern grundsätzlich sogar auch bei deren Unzulässigkeit (BFHE 128, 142, juris RdNr 16; Leitherer, aaO, § 75 RdNr 13; Hommel, aaO, RdNr 54; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl 2012, § 65 RdNr 16; aA BVerwGE 80, 228, juris RdNr 11; Littmann in Lüdtke, SGG, 4. Aufl 2012, § 75 RdNr 4). Da hier das SG die Klage zutreffend als zulässig angesehen hat, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung zur Beiladungspflicht bei unzulässiger Klage. Die vorliegende Verletzung der Beiladungspflicht durch das SG führt im Berufungsverfahren zu der Verpflichtung des LSG, die unterlassene Beiladung nachzuholen, selbst wenn das LSG die Berufung - zu Recht oder Unrecht - für unzulässig hält. Nur so ist der einer umfassenden Klärung des streitigen Anspruchs dienende Zweck einer notwendigen Beiladung zu erreichen. Immerhin kann die Beteiligung eines Beigeladenen auch zu einer Änderung der Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels führen.
Im Übrigen kann die Beurteilung der (fehlenden) Statthaftigkeit der Berufung durchaus schwierig sein. Hier könnte immerhin fraglich sein, ob aus der Sicht des Klägers nur die einmalige Verordnung von bzw Kostenerstattung für Wobenzym oder die - auch im Interesse des Beklagten, nicht für jede Einzelverordnung durch Verwaltungsakt entscheiden zu müssen, liegende - Klärung eines Daueranspruchs auf Versorgung mit diesem Mittel streitig ist. Im letzteren Fall wäre die Berufung gemäß § 144 Abs 1 S 2 SGG statthaft.
Die Verletzung des § 75 Abs 2 SGG bleibt hier auch nicht ausnahmsweise deshalb ohne Folgen, weil die Berufung unter keinen Umständen zum Erfolg führen kann (allgemeiner Rechtsgedanke, der zB die Zulassung der Revision trotz vorliegendem Grund ausschließt, wenn der verfolgte Anspruch dem Kläger eindeutig nicht zusteht, vgl Hommel in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand September 2010, § 75 RdNr 57; BVerwGE 80, 228, das in einem Fall einer unzulässigen Klage schon die Notwendigkeit der Beiladung des Drittbetroffenen in Frage stellt).
Ob eine Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG - und damit auch seine Klage - ohne Erfolg bleiben muss, ist derzeit nicht absehbar. Jedenfalls wird das LSG nach der Zurückverweisung, sofern es die vorliegende Berufung nicht nach § 144 Abs 1 S 2 SGG als statthaft ansieht, noch über die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zu entscheiden haben. Selbst wenn sie, weil nur unter einer Bedingung eingelegt, unzulässig wäre, muss darüber entschieden werden. Eine ausdrückliche Entscheidung des LSG darüber fehlt. Der Hinweis im angefochtenen Berufungsbeschluss, die Beschwerde sei nicht wirksam erhoben, stellt weder formal noch inhaltlich eine entsprechende Entscheidung dar. Das LSG scheint insoweit der Ansicht zu sein, dass es über eine "nicht wirksam erhobene" Nichtzulassungsbeschwerde nicht entscheiden muss.
Kommt das LSG bei Berücksichtigung des wohlverstandenen Interesses des Klägers (s dazu insgesamt Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 145 RdNr 3b) zur Annahme der Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde, weil diese nicht bedingt "hilfsweise", sondern vorsorglich neben der Berufung eingelegt ist, müsste diese allein schon deswegen zur Zulassung der Berufung führen, weil das SG die Beiladung der KK verfahrensfehlerhaft unterlassen hat (vgl § 144 Abs 2 Nr 3 SGG). Ob daneben der Fall einer grundsätzlichen Bedeutung gegeben ist, weil die rechtlichen Maßstäbe der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln im Rahmen der Heilbehandlung nach §§ 10 ff BVG noch klärungsbedürftig sein könnten, bedarf ggfs einer vertieften Betrachtung. Jedenfalls betreffen die vorliegenden höchstrichterlichen Entscheidungen zu § 11 Abs 1 S 2 BVG (BSG Urteile vom 8.7.1969 - 9 RV 412/66 - USK 6958; vom 28.5.1997 - 9 RV 18/96 - SozR 3-3100 § 13 Nr 2; vom 28.6.2000 - B 9 VG 4/99 R - BSGE 86, 253 = SozR 3-3100 § 18 Nr 5; vom 10.12.2003 - B 9 VS 1/01 R - BSGE 92, 19 = SozR 4-3100 § 18 Nr 1) nicht die Verordnung von Arzneimitteln.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen