Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Beschlussverfahren. Anhörung. Fristsetzung zur Abgabe einer Stellungnahme. rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. Ein Verfahrensfehler ist nicht schon darin zu erblicken, dass ein Gericht eine Stellungnahme zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss nicht abgewartet hat (vgl BSG vom 22.6.1998 - B 12 KR 85/97 B). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn den Beteiligten hinreichend Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme gegeben war.
2. Dagegen ist nicht vorgeschrieben, wenn auch zweckmäßig, bei Anhörungen eine Frist zu setzen, binnen deren eine Stellungnahme abzugeben sei (BSG Beschluss vom 22.5.2000 - B 2 U 80/00 B).
3. Auch wenn die Anhörungsmitteilung sinnvollerweise erst dann zu ergehen hat, wenn sich der Vorsitzende oder der Berichterstatter des Senats nach der Vorlage der Berufungsbegründung mit der Frage befasst hat, ob die Anwendung des vereinfachten Verfahrens sachgerecht sein kann, kann die Anhörung auch dann erfolgen, wenn der Rechtsmittelführer eine zur Vorlage der Berufungsbegründung gesetzte Frist ungenutzt hat verstreichen lassen (vgl BSG vom 9.1.2003 - B 13 RJ 199/02 B = HVBG-INFO 2003, 685) und mit dem Eingang einer Stellungnahme nicht mehr zu rechnen war.
Normenkette
SGG § 153 Abs. 4 S. 2, § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 18.08.2003; Aktenzeichen L 7 RJ 12/03) |
SG Rostock (Urteil vom 20.09.2002; Aktenzeichen S 6 RJ 222/00) |
Gründe
Mit Beschluss vom 18. August 2003 hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils gemäß § 153 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Bezug genommen. Zu Recht sei das Sozialgericht bei Beachtung von im Einzelnen aufgeführten Leistungseinschränkungen von einem vollschichtigen Leistungsvermögen der Klägerin für leichtere Tätigkeiten ausgegangen. Als so genannte untere angelernte Arbeiterin könne sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt und für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt R. beantragt. Sie beruft sich auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln.
Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht, weil keiner der in § 160 Abs 2 SGG genannten Zulassungsgründe ordnungsgemäß bezeichnet worden ist.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36; BVerwGE 13, 338, 339; BVerfG NJW 1976, 1705; BVerfG NVwZ 1982, 433, 434; BGH NJW 1987, 2442, 2443). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Wird - wie vorliegend - die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) geltend gemacht, so liegt ein solcher Verstoß nur vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BVerfGE 25, 137, 140) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12). Dem entsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 7. Aufl, § 62 RdNr 8 mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Darüber hinaus ist für den Erfolg einer entsprechenden Rüge Voraussetzung, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 62 RdNr 11c).
Die Klägerin trägt vor, sie habe mit der Berufungseinlegung am 20. Januar 2003 eine Berufungsbegründung angekündigt und dies mit Schreiben vom 5. März 2003 wiederholt. Sie habe sich zunächst einer Rehabilitationsmaßnahme unterziehen müssen und dem Gericht den Entlassungsbericht vom 14. März 2003 überlassen. Zwar sei sie dann mit Schreiben vom 13. Mai 2003 zur Vorlage der Berufungsbegründung innerhalb von vier Wochen aufgefordert worden. Dem LSG sei aber bekannt gewesen, dass ihr sozietätsangehöriger Bevollmächtigter R. in der Zeit von Mai bis August 2003 insgesamt dreimal über längere Zeiträume von mehreren Wochen Wehrdienst habe ableisten müssen. Deshalb habe sie die Fristsetzung nicht als echte richterliche Frist verstehen müssen, und es habe ohne Vorlage der Berufungsbegründung eine Entscheidung nicht ergehen dürfen. Mit diesem Vorbringen ist die Klägerin den og Darlegungserfordernissen nicht gerecht geworden.
Es fehlt bereits an der Bezeichnung eines Verstoßes gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Aus dem von ihr selbst vorgelegten Schreiben des LSG vom 13. Mai 2003 ergibt sich unmissverständlich, dass die Klägerin - nachdem sie die Begründung der Berufung nach eigenem Vorbringen zweimal angekündigt, aber nicht eingereicht hatte - durch das LSG zur Übersendung der Berufungsbegründung binnen vier Wochen aufgefordert wurde. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang rügt, die vom Gericht gesetzten Fristen seien zu kurz gewesen, kann sie damit keinen Erfolg haben. Hinsichtlich der Frist zur Berufungsbegründung hat sie nicht ausreichend vorgetragen, warum die Frist von vier Wochen zu kurz bemessen gewesen sein sollte. Der Hinweis auf ihren schlechten Gesundheitszustand reicht insoweit nicht aus, zumal sie selbst vorträgt, die Rehabilitationsmaßnahme sei bereits vor Fristsetzung beendet gewesen. Dass sie unter Hinweis auf Hinderungsgründe auf Seiten ihres sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten R. um Fristverlängerung gebeten habe, wird von ihr nicht behauptet. Selbst nach Ablauf der Frist hätte sie noch einen Antrag auf Fristverlängerung stellen können (Meyer-Ladewig, aaO, § 65 RdNr 3 f). Dass sie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, wird von ihr nicht vorgetragen. Schließlich hat die Klägerin nicht geltend gemacht, dass Rechtsanwalt H. weiterer kanzleiangehöriger Rechtsanwalt und wie Rechtsanwalt R. von der Klägerin mit entsprechender Vollmacht ausgestattet - zur Beantragung einer Fristverlängerung nicht in der Lage gewesen sei.
Die Klägerin vermag auch nicht mit ihrem Vortrag durchzudringen, die mit Schreiben des LSG vom 16. Juni 2003 gesetzte einmonatige Anhörungsfrist zur Absicht, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden, sei nicht als Fristsetzung zu verstehen gewesen; das Berufungsgericht hätte ohne Eingang ihrer angekündigten Stellungnahme bzw Berufungsbegründung nicht durch Beschluss entscheiden dürfen. Ein Verfahrensfehler ist nicht schon darin zu erblicken, dass ein Gericht eine Stellungnahme zu der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss nicht abgewartet hat (vgl BSG Beschluss vom 22. Juni 1998 - B 12 KR 85/97 B). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn den Beteiligten hinreichend Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme gegeben war. Dagegen ist nicht vorgeschrieben, wenn auch zweckmäßig, bei Anhörungen eine Frist zu setzen, binnen deren eine Stellungnahme abzugeben sei (BSG Beschluss vom 22. Mai 2000 - B 2 U 80/00 B). Nach eigenem Vorbringen der Klägerin war ihr bereits mit Schreiben vom 16. Juni 2003 Gelegenheit gegeben worden, binnen einem Monat Stellung zu nehmen zu der Absicht des Berufungssenats, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG entscheiden zu wollen. Weshalb dies bis zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nicht möglich gewesen sein soll, ist von der Klägerin nicht näher dargelegt worden. Auch wenn die Anhörungsmitteilung sinnvollerweise erst dann zu ergehen hat, wenn sich der Vorsitzende oder der Berichterstatter des Senats nach der Vorlage der Berufungsbegründung mit der Frage befasst hat, ob die Anwendung des vereinfachten Verfahrens sachgerecht sein kann, kann die Anhörung auch dann erfolgen, wenn der Rechtsmittelführer eine zur Vorlage der Berufungsbegründung gesetzte Frist ungenutzt hat verstreichen lassen (vgl BSG Beschluss des erkennenden Senats vom 9. Januar 2003 - B 13 RJ 199/02 B - mit Bezug auf BVerwG vom 28. Juni 1983 - 9 C 15/83 - Buchholz 312 EntlG Nr 32) und mit dem Eingang einer Stellungnahme nicht mehr zu rechnen war. Dies war, wie dargelegt, hier der Fall. Im Übrigen hat die Klägerin nicht vorgetragen, das LSG habe vor Ablauf der Frist entschieden, was auch mit ihrem weiteren Vorbringen nicht in Übereinstimmung stünde.
Im Übrigen lässt die Beschwerdebegründung jegliche Ausführungen dazu vermissen, inwieweit die Klägerin ihrerseits alles getan habe, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
Ungeachtet der fehlenden Bezeichnung eines Verstoßes gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hat die Klägerin nicht dargelegt, welcher Vortrag durch die angebliche Nichtgewährung rechtlichen Gehörs verhindert worden sein soll. Ebenso mangelt es an Ausführungen dazu, inwieweit die angefochtene Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen könnte.
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Da ihre Nichtzulassungsbeschwerde keinen Erfolg hat, kann die Klägerin gemäß § 73a SGG iVm §§ 114, 121 der Zivilprozessordnung auch keine Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt R. beanspruchen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen