Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsbeitragspflicht
Leitsatz (redaktionell)
Unterhaltsbeitragspflicht:
Ist die Unterhaltsbeitragspflicht nach EheG § 60 aF eine Unterhaltspflicht iS des RVO § 1265 S 2 (= AVG § 42 S 2)?
Normenkette
EheG § 60 Fassung: 1946-02-20; AVG § 42 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1972-10-16
Tenor
Es wird dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 42 Sozialgerichtsgesetz folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
"Ist die Unterhaltsbeitragspflicht: nach § 60 Ehegesetz aF eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der §§ 1265 Satz 2 Reichsversicherungsordnung, 42 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz?"
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine sogenannte Geschiedenenwitwenrente nach § 42 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zusteht.
Die Klägerin war bis Januar 1970 mit dem kaufmännischen Angestellten H.-J. Sch. (Versicherter) verheiratet. Nach der Ehescheidung, die gemäß § 43 Ehegesetz (EheG) aus beiderseitigem Verschulden erfolgte, blieb der Versicherte unverheiratet. Er starb im August 1972. Bis zu seinem Tode bezog er ein monatliches Bruttoeinkommen von ca 2.100,-- DM. die seit 1955 ebenfalls als kaufmännische Angestellte tätige Klägerin hatte zur Zeit des Todes des Versicherten ein monatliches Bruttoeinkommen von annähernd 1.600,-- DM. Eigenen Angaben zufolge hatte sie gegen den Versicherten keinen Unterhaltstitel.
Ein erster Antrag der Klägerin auf Geschiedenenwitwenrente vom November 1972 wurde von der Beklagten abgelehnt, weil ihrer Ansicht nach weder die Voraussetzungen des § 42 Satz 1 AVG noch diejenigen des § 42 Satz 2 AVG in der Fassung vor dem Rentenreformgesetz (RRG) vorlagen. Diese Ablehnung wurde durch rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts (SG) Frankfurt vom 30. Januar 1974 bestätigt, dabei hielt das SG einen Anspruch auch nach der Fassung des § 42 Satz 2 AVG durch das RRG nicht für gegeben, weil die Klägerin zur Zeit weder berufs- noch erwerbsunfähig sei und auch das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, sie könne im Dezember 1974 einen neuen Antrag stellen.
Im Oktober 1974 beantragte die Klägerin erneut Geschiedenenwitwenrente, da sie meinte, nunmehr erfülle sie die Voraussetzungen des § 42 Satz 2 AVG nF. Die Beklagte lehnte jedoch auch diesen Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, eine Unterhaltsverpflichtung des Ehemannes im Sinne des § 42 Satz 2 AVG nF habe nicht bestehen können, weil die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden sei. Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom SG Frankfurt abgewiesen. Auch die Berufung der Klägerin an das Hessische Landessozialgericht (LSG) bliebt erfolglos. In seinem Urteil führte das LSG aus, das erste Urteil des SG (vom 30. Januar 1974) sei insofern bindend, als die Klägerin keinen Anspruch nach § 42 Satz 1 oder 2 AVG in der bis zum 31. Dezember 1972 geltenden Fassung habe. Auch nach der Neufassung des § 42 Satz 2 AVG durch das RRG stehe der Klägerin aber keine Rente zu. Eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber der Klägerin, die im übrigen die Voraussetzungen des § 42 Satz 2 Nrn 2 und 3 AVG erfülle, habe nicht bestehen können. Da die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden sei, habe die Klägerin den Versicherten nur über § 60 EheG auf Unterhalt in Anspruch nehmen können. Die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG sei aber keine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 42 Satz 2 Nr 1 AVG. Hierzu verweist das LSG auf die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) (SozR Nr 63 zu § 1265 Reichsversicherungsordnung -RVO-; vgl ferner SozR 2200 Nr 21 zu § 1265 RVO; Urteil vom 26. Oktober 1976 - 4 RJ 117/76 -).
Mit der zugelassenen Revision vertritt die Klägerin weiterhin den Standpunkt, daß der Anspruch aus § 60 EheG eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 42 Satz 2 AVG darstellt. Sie beantragt (sinngemäß).
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Ablehnungsbescheide zur Gewährung der Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Der 11. Senat hat beschlossen, dem Großen Senat des BSG gemäß § 42 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen, ob die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG nF eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der §§ 1265 Satz 2 RVO, 42 Satz 2 AVG darstellt.
Der Senat will die Rechtsfrage bejahen und damit von der entgegenstehenden Rechtsprechung des 4. Senats abweichen. Er hat am 10. Januar 1978 beim 4. Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhalte (Anlage 1). Der 4. Senat hat das am 14. März 1978 bejaht (Anlage 2).
Von der Entscheidung der Rechtsfrage hängt die Entscheidung über die Revision der Klägerin ab. Wird die Rechtsfrage bejaht, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen; wird sie verneint, muß die Revision zurückgewiesen werden.
Auch nach der Antwort des 4. Senats hält der 11. Senat die Rechtsprechung des 4. Senats nicht für überzeugend. Insoweit kann der 11. Senat auf seine Ausführungen in der Anlage 1 verweisen. Ergänzend dazu möchte er zum Begriff der "Unterhaltsverpflichtung" nur noch bemerken:
Der 4. Senat hat in SozR 2200 Nr 21 zu § 1265 RVO selbst eingeräumt, daß sich seine Auslegung "nicht etwa ausschließlich oder auch nur überwiegend am Wortlaut des Gesetzes" orientiert. Schon die systematische Einordnung des § 60 EheG unter der amtlichen Überschrift "Unterhaltspflicht bei Scheidung wegen Verschuldens" (Untertitel a vor §§ 58 bis 60 EheG) dürfte es aber rechtfertigen, die in § 60 festgelegte Unterhaltsbeitragspflicht als Unterhaltsverpflichtung aufzufassen, da für eine Unterscheidung zwischen "Pflicht" und "Verpflichtung" keine Gründe ersichtlich sind.
In der amtlichen Begründung des 1938 eingeführten § 60 EheG (damals § 68) heißt es ferner: "Die Voraussetzungen für den Unterhaltsanspruch sollen deshalb künftig nur insoweit erleichtert werden, als eine Unterhaltspflicht unter geschiedenen Ehegatten auch dann in Betracht kommt, wenn beide für schuldig, keiner von ihnen aber überwiegend schuldig erklärt ist" (vgl DJ 1938, S. 1111). Die amtliche Begründung spricht also hinsichtlich des § 60 EheG ebenfalls von einer Unterhaltspflicht und von einem Unterhaltsanspruch.
Ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente bestand nach der seit 1957 geltenden Fassung des § 1265 RVO auch dann, wenn die frühere Ehefrau einen Anspruch aus § 60 EheG gehabt hat (vgl BSG 13, 166 ff; SozR Nr 29 zu § 1265 RVO). Die Neufassung der §§ 1265 RVO, 42 AVG durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) brachte mit dem neuen Satz 2 keine Änderung, die zur Differenzierung zwischen dem Anspruch aus § 60 EheG und den sonstigen Unterhaltsansprüchen zwingt. In der amtlichen Begründung steht nur: "Nunmehr soll es nicht mehr auf das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung ankommen, wenn neben der früheren Ehefrau eine Witwe nicht vorhanden ist" (vgl BT-Drucks IV/3233 zu § 1265 RVO). Nach Ansicht des Gesetzgebers kam es also bisher auf das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung an. Bisher fiel aber die Unterhaltspflicht nach § 60 EheG unter den § 1265 RVO (§ 42 AVG).
Fundstellen