Leitsatz (amtlich)
Hat ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit einen Verwaltungsakt zu überprüfen, bei dessen Erlaß die Verwaltung einen - nur beschränkt überprüfbaren - Ermessensspielraum hat (in Kassenarztsachen zB einen Bescheid über einen Arzneikostenregress) und hält das Gericht nicht alle für die Entscheidung erheblichen Tatsachen für festgestellt, so darf es die Sache deswegen nicht an die Verwaltung "zurückverweisen", sondern hat die erforderlichen Ermittlungen selbst durchzuführen. Ergeben diese allerdings, daß noch weitere, von der Verwaltung bisher nicht berücksichtigte Tatsachen vorliegen, die den Ermessensspielraum der Verwaltung berühren, so muß das Gericht zunächst die Verwaltung über die Bewertung der neuen Tatsachen entscheiden lassen.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1-2
Tenor
Die Revision der beteiligten Krankenkasse gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1966 wird als unzulässig verworfen.
Die Revisionsklägerin hat dem klagenden Arzt die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Arzneikostenregresses, den die Prüfungsinstanzen der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung gegen den klagenden Kassenarzt, den Kläger zu 1), wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise zu Lasten der Allgemeinen Ortskrankenkasse Memmingen, der Klägerin zu 2) und Revisionsklägerin, verhängt haben.
Ein Prüfungsausschuß der Beklagten setzte im März 1962 gegen den Kläger zu 1), weil dieser im Jahre 1960 bei den Mitgliedern der Revisionsklägerin die durchschnittlichen Verordnungskosten um 77 v. H. (= 13.566 DM) überschritten hatte, einen Regress von 10 v. H. des Überschreitungsbetrages (= 1.356 DM) fest. Die Beschwerden des Arztes und der Krankenkasse wurden vom RVO-Beschwerdeausschuß der Bezirksstelle Schwaben der Beklagten vom 30. Mai 1962 zurückgewiesen, und zwar die Beschwerde der Kasse, die auf Festsetzung eines höheren Regressbetrages gerichtet war, mit der Begründung, daß es sich um den ersten spürbaren Regress gegen den Kläger zu 1) handele und die geltend gemachten Besonderheiten seiner Praxis großzügig zu berücksichtigen gewesen seien.
Auf die Klage der Krankenkasse - die des Arztes hatte in dieser Instanz keinen Erfolg - hob das Sozialgericht (SG) München den Bescheid des Beschwerdeausschusses auf, weil darin eine ausreichende Begründung dafür fehle, warum der Regressbetrag nicht höher festgesetzt worden sei. Der Beschwerdeausschuß habe nicht dargelegt, was er unter den "geltend gemachten Besonderheiten der Praxis" des klagenden Arztes verstanden habe. Wenn dieser als Besonderheiten die Behandlung von überdurchschnittlich vielen schweren und schwersten Fällen behaupte, müsse er die Fälle namentlich bezeichnen und die Behandlungsunterlagen vorlegen. Erst nachdem dies geschehen sei, werde der Beschwerdeausschuß die Frage der Praxisbesonderheiten zutreffend beurteilen und die Höhe des Regressbetrages angemessen festsetzen können (Urteil vom 22. Januar 1964).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) gab der Berufung des Klägers zu 1) statt und verwies den Rechtsstreit an das SG zurück: Wenn dieses dem klagenden Arzt aufgegeben habe, sich zu den Besonderheiten seiner Praxis zu äußern, und den Beschwerdeausschuß verpflichtet habe, sich sodann erneut mit der Sache zu befassen, habe es den Grundsatz verletzt, daß eine Zurückverweisung an diejenige Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen habe, nicht zulässig sei. Das Verfahren des SG leide somit an einem wesentlichen Mangel, wegen dessen sein Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zurückzuverweisen sei. Vor seiner neuen Entscheidung werde das SG im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gegebenenfalls eigene Ermittlungen über die Praxisbesonderheiten des Klägers zu 1) anstellen müssen. Dabei könne sich ergeben, daß der Regress auch in der bisherigen Höhe nicht ermessensfehlerfrei festgesetzt worden sei; das Urteil des SG müsse deshalb in vollem Umfange, auch soweit es die Klage des Arztes abgewiesen habe, aufgehoben werden (Urteil vom 21. Juni 1966).
Gegen dieses Urteil, in dem die Revision nicht zugelassen worden ist, hat die beteiligte Krankenkasse gleichwohl Revision eingelegt und geltend gemacht: Entgegen der Ansicht des LSG habe das SG die Sache nicht an die Verwaltung zurückverwiesen, sondern den angefochtenen Verwaltungsakt lediglich aufgehoben. Auch habe es sich sehr wohl mit den Praxisbesonderheiten des klagenden Arztes auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, daß diese keineswegs ausreichten, um die Entscheidung des Beschwerdeausschusses, den Regressbetrag nicht zu erhöhen, zu rechtfertigen. Im übrigen hätte der Kläger zu 1) ihn entlastende Besonderheiten seiner Praxis und deren ursächlichen Zusammenhang mit seinen Verordnungskosten beweisen müssen. Schließlich sei es prozessual unzulässig, daß das LSG die vom SG ausgesprochene Abweisung der Klage des Arztes aufgehoben habe, ohne insoweit eigene Feststellungen zu treffen. Die beteiligte Krankenkasse beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 21. Juni 1966 aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der beteiligte Kassenarzt beantragt,
die Revision der Krankenkasse zurückzuweisen.
Er bestreitet deren Aktivlegitimation zur Einlegung eines Rechtsmittels, da sie das Urteil des SG nicht angefochten habe. Außerdem beschwere sie das Berufungsurteil nicht, da dieses den Rechtsstreit auch in ihrem Interesse an das SG zurückverwiesen habe.
Die - vom LSG nicht zugelassene - Revision ist unzulässig, da keine der von der Revisionsklägerin erhobenen Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Das gilt zunächst für die Rüge, das SG habe die Sache - entgegen der Ansicht des LSG - nicht an die Verwaltung zurückverwiesen. Richtig ist allerdings, daß das SG in der Urteilsformel den angefochtenen Beschwerdebescheid lediglich aufgehoben hat. Damit hat es jedoch nicht, wie auch die Revisionsklägerin nicht annimmt, die Festsetzung eines Arzneikostenregresses gegen den Kläger zu 1) in jedem Falle für unrechtmäßig erklärt - eine solche Entscheidung wäre in der Tat abschließend und keine "Zurückverweisung" an die Verwaltung gewesen -; vielmehr hat es entsprechend dem Klagebegehren der Krankenkasse durch die Aufhebung des Beschwerdebescheides den Weg für eine nochmalige Beschlußfassung des Beschwerdeausschusses über die Höhe des Regressbetrages, insbesondere dessen Erhöhung, freimachen wollen. Das ist aber der Sache nach nichts anderes als eine Zurückverweisung an die Verwaltung, die, wie das LSG zutreffend entschieden hat, im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig ist (vgl. BSG 2, 94; 9, 277, 280 und 285, 288; 19, 112, 113 f).
Wenn es nach Ansicht des SG für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Regressbescheides auf die Feststellung weiterer, im Verwaltungsverfahren zwar behaupteter, aber bisher nicht genügend aufgeklärter Besonderheiten in der Praxis des Klägers ankam, dann mußte das SG - unter Heranziehung der Beteiligten, insbesondere des Klägers - darüber von Amts wegen Ermittlungen anstellen, und durfte diese nicht der Verwaltung übertragen (§ 103 SGG). Im Falle eines positiven Ausgangs der gerichtlichen Ermittlungen, d. h. bei Feststellung neuer, die Herabsetzung oder die Erhöhung des Regressbetrages rechtfertigender Tatsachen, wäre allerdings die weitere Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfange diese Tatsachen eine Änderung des Regressbescheides notwendig machten, von den Prüfungsinstanzen der Beklagten zu treffen gewesen; denn die Festsetzung der Höhe des Regressbetrages ist eine Frage des Verwaltungsermessens und kann nur in bestimmten Grenzen von den Gerichten überprüft, von diesen jedoch nicht ersetzt werden (vgl. BSG 11, 102, 117 ff; 17, 79, 88 f und für die insoweit vergleichbaren Disziplinarentscheidungen BSG 15, 167 f; vgl. ferner BSG 9, 277, 280: keine eigenmächtige Heranziehung neuer Tatsachen durch die Gerichte, soweit sie dadurch in den Ermessensspielraum der Verwaltung eindringen). Im anderen Falle, d. h. bei negativem Ausgang der Ermittlungen, hätte dagegen das Gericht über den streitigen Regress abschließend zu entscheiden gehabt. In jedem Falle mußte sich somit das SG zunächst selbst Klarheit darüber verschaffen, von welchen Tatsachen bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Regressbescheides auszugehen ist.
Unzutreffend ist ferner die Rüge der Revisionsklägerin, das SG habe sich sehr wohl mit den Praxisbesonderheiten des Klägers zu 1) auseinandergesetzt, diese jedoch nicht für ausreichend gehalten, um mit ihnen allein die großzügige Behandlung des Klägers durch die Verwaltung zu begründen. Wie dem Urteil des SG zu entnehmen ist, hat es die Frage, ob der klagende Arzt überdurchschnittlich viel schwere und schwerste Fälle behandelt habe, noch für klärungsbedürftig gehalten, die Klärung aber nicht selbst vorgenommen, wie es seine Pflicht gewesen wäre, sondern in unzulässiger Weise dem Beschwerdeausschuß überlassen. Entgegen der Ansicht der Revisionsklägerin war dieses Verfahren auch nicht deswegen zulässig, weil der Kläger zu 1) etwaige ihn entlastende Besonderheiten seiner Praxis und deren Ursächlichkeit für seine überhöhten Verordnungskosten nicht "bewiesen" habe. Eine solche "Beweislast" hatte der beteiligte Arzt nicht. Das SG hätte vielmehr die von ihm für erheblich erachteten Umstände, wie ausgeführt, von Amts wegen aufklären müssen, wobei der Kläger allerdings eine Mitwirkungspflicht hatte (vgl. BSG 11, 102, 115 f).
Das LSG hat somit das Verfahren des SG mit Recht für fehlerhaft gehalten, und, wozu es nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG befugt war, den Rechtsstreit an das SG zurückverwiesen.
Nicht zu beanstanden ist schließlich, daß das LSG das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfange aufgehoben hat. Es ist in der Tat nicht völlig ausgeschlossen, wenn vielleicht auch nicht wahrscheinlich, daß sich nach Abschluß der Ermittlungen ergibt, daß - entgegen dem Begehren der Revisionsklägerin - der Regressbetrag nicht nur nicht zu erhöhen, sondern entsprechend dem Verlangen des Klägers zu mindern oder der Regressbescheid ganz aufzuheben ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen