Orientierungssatz
Will ein Senat eines LSG die Klage gegen einen Versicherungsträger der Unfallversicherung abweisen, weil er ein Land für verpflichtet hält, Leistungen der Kriegsopferversorgung zu gewähren, obwohl der Anspruch gegen das Land bereits durch ein Urteil eines anderen Senats desselben LSG rechtskräftig abgewiesen worden ist, so hat das LSG den zuständigen Spruchkörper zu bestimmen; das BSG ist in einem solchen Fall nicht das "gemeinsam nächsthöhere" Gericht (Anschluß an BSG 1966-12-14 8 RV 1049/65 = BSGE 26, 38).
Normenkette
SGG § 181 Fassung: 1953-09-03, § 180 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Der Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Januar 1965 wird aufgehoben.
Gründe
I
In dem Rechtsstreit, den das Landessozialgericht (LSG) nach § 181 i. V. m. § 180 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Bundessozialgericht (BSG) zur Entscheidung vorgelegt hat, ist streitig, ob der Kläger gegen die beklagte Tiefbau-Berufsgenossenschaft (BG) Ansprüche auf Entschädigung für die Folgen eines Unfalles vom 1. Oktober 1951 hat.
Der Kläger hatte im Jahre 1950 bei der Landesversicherungsanstalt B eine Kriegsbeschädigtenrente beantragt. Zur Begründung gab er u. a. an, daß er im Jahre 1943 eine Verwundung durch Granatsplitter erlitten habe und im Jahre 1944 beim Einsatz zur Partisanenbekämpfung in der Slowakei eine Treppe hinuntergestürzt und anschließend bewußtlos gewesen sei. Später hat er sich ergänzend auf einen Sturz als Meldereiter bezogen. Das Versorgungsamt Braunschweig stellte durch Bescheid vom 13. Juni 1952 als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) fest: "Hanfkorngroßer reizloser eingeheilter Granatsplitter im linken Oberkiefer" und lehnte die Gewährung einer Rente mit der Begründung ab, daß diese Gesundheitsstörung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Mindestgrad von 25 v. H. nicht bedinge. In dem Bescheid ist u. a. ausgeführt: Die 1944 erlittene Gehirnerschütterung sei folgenlos ausgeheilt, ebenso das Wollhynische Fieber. Den Einspruch gegen diesen Bescheid wies der Beschwerdeausschuß des Versorgungsamtes durch Entscheidung vom 3. Oktober 1952 zurück. Die Berufung (alten Rechts) hiergegen ist auf das Sozialgericht (SG) Braunschweig übergegangen, das durch Urteil vom 25. August 1955 die Klage abgewiesen hat. Im Verfahren über die Berufung hiergegen hat der 10. Senat des LSG Niedersachsen u. a. ein von Medizinaldirektor Prof. Dr. K erstattetes Gutachten des Niedersächsischen Landeskrankenhauses in G vom 6. Oktober 1957 beigezogen und durch Urteil vom 15. November 1957 die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Erst seit dem Arbeitsunfall sei die Leistungsfähigkeit des Klägers meßbar abgesunken. Der Senat habe deshalb keine Wahrscheinlichkeit dafür zu finden vermocht, daß die nachgewiesene Hirnprellung auf den Wehrdienst zurückzuführen sei. Es bleibe dem Kläger unbenommen, seine Rechte bei der Tiefbau-BG geltend zu machen.
Dieses Urteil ist vom Kläger nicht angefochten worden.
Am 1. Oktober 1951 verunglückte der Kläger bei der Arbeit in dem der Tiefbau-BG als Mitglied angehörenden Unternehmen der Hoch- und Tiefbau-Gesellschaft Gebr. Sch. Beim Ausschalen einer Brücke fiel dem Kläger ein Brett aus 5 Meter Höhe auf den Kopf. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 8. Mai 1953 vom 22. Januar (dem Tag nach dem Wegfall des Krankengeldes) eine Rente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente und vom 1. Mai 1952 bis 31. August 1952 eine Rente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente. Über den 31. August 1952 hinaus lehnte sie die Gewährung einer Rente ab, weil die unfallbedingte MdE nur noch 10 v. H. betrage. In der Begründung des Bescheides ist u. a. ausgeführt, der Unfall habe zu einer Gehirnerschütterung geführt. Der Kläger habe jedoch schon vor dem Unfall am 1. Oktober 1951 über lebhafte Kopfschmerzen, gesteigerte Erregbarkeit und Schwindel geklagt. Im Hinblick auf diese Vorerkrankungen könnten die jetzigen Beschwerden nur zu einem Teil als Folge des Unfalls angesehen werden. Diesen Bescheid hat der Kläger nicht angefochten.
Am 18. Dezember 1957 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihm "die Rente zu gewähren", und verwies zur Begründung auf das Gutachten des Prof. Dr. K und das Urteil des 10. Senats des LSG Niedersachsen vom 15. November 1957.
Die Betriebskrankenkasse Salzgitter AG zeigte der Beklagten unter dem 19. Dezember 1957 an, daß der Kläger aufgrund von Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. Oktober 1951 seit dem 3. Dezember 1957 wieder arbeitsunfähig sei. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 3. Juli 1958 den Antrag des Klägers auf Wiedergewährung einer Rente mit der Begründung ab, in den für den Bescheid vom 8. Mai 1953 maßgebend gewesenen Verhältnissen in den Folgen des Unfalles sei eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten; es sei unwahrscheinlich, daß der Schwindelanfall, der am 3. Dezember 1957 zu einem Sturz geführt habe, mit dem Unfall vom 1. Oktober 1951 in ursächlichem Zusammenhang stehe.
In dem Verfahren über die Klage gegen diesen Bescheid, mit der der Kläger die Gewährung einer Rente in Höhe von 40 v. H. beantragt hat, ist vom SG Braunschweig die Betriebskrankenkasse der S AG beigeladen worden. Das SG hat durch Urteil vom 30. Januar 1961 den Bescheid vom 3. Juli 1958 aufgehoben und die Beklagte verurteilt,
Hirndurchblutungsstörungen nach Hirnprellung als Folge des Arbeitsunfalls vom 1. Oktober 1951 anzuerkennen und dem Kläger vom 22. Januar 1952 an Rente nach einer MdE von 40 v. H. zu gewähren.
Den Antrag der beigeladenen Betriebskrankenkasse, dem Grunde nach festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, Ersatz nach § 1509 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit zu leisten, in der der Kläger wegen der Folgen der Hirnprellung arbeitsunfähig krank war, hat das SG als in diesem Verfahren unzulässig abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat die beklagte BG Berufung eingelegt. Auf Veranlassung des Berichterstatters des 3. Senats des LSG Niedersachsen hat sie dem Kläger einen Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 1963 erteilt, in dem u. a. ausgeführt ist: Der Kläger habe nur eine einfache, unkomplizierte Gehirnerschütterung erlitten. Hierfür spreche die nur verhältnismäßig kurze Dauer der echten Bewußtlosigkeit nach dem Unfall, das Fehlen von Brechreiz oder Erbrechen sowie von äußerlich sichtbaren Verletzungen im Schädelbereich. Der von Prof. Dr. K erhobene Luft- und Elektroencephalographiebefund erlaube keine Aussage darüber, welcher Herkunft diese Abweichungen seien, da sich auch bei äußerlich völlig gesunden Menschen häufig solche Abweichungen fänden. Auch der Elektroencephalographiebefund vermöge die Diagnose einer Hirnprellung weder auszuschließen noch zu bestätigen. Der klinische Befund erlaube keinen Schluß darauf, daß es bei dem Arbeitsunfall vom 1. Oktober 1951 zu einer Hirnprellung gekommen sei. Es liege kein Anhaltspunkt dafür vor, daß eine Leistung zu Unrecht nicht gewährt worden sei. Der Bescheid vom 3. Juli 1958 sei in eine Ablehnung des Antrages auf Neufeststellung nach § 619 RVO aF umzudeuten. Der 3. Senat des LSG hat u. a. ein Gutachten des Obermedizinalrats Dr. B, Leitender Oberarzt der Klinischen Abteilung für Nerven- und Gemütskrankheiten in H vom 23. Juni 1954 beigezogen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 1965 hat der 3. Senat des LSG Niedersachsen folgenden Beschluß verkündet:
Der Rechtsstreit wird gemäß § 181 i. V. m. § 180 Abs. 2 SGG dem BSG zur Entscheidung vorgelegt, weil der beschließende Senat auf Grund der gesamten Vorgeschichte des Klägers und der in seinen Schlußfolgerungen überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. A und insbesondere des Sachverständigen Dr. B - und entgegen der Annahme des Sachverständigen Prof. Dr. K - die in Frage stehenden Gesundheitsstörungen für Schädigungsfolgen im Sinne des BVG und nicht als Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. Oktober 1951 und somit nicht die Beklagte, sondern das Land Niedersachsen, vertreten durch das Landesversorgungsamt, für leistungspflichtig hält, das Land Niedersachsen aber durch rechtskräftig gewordenes Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. November 1957 von dieser Verpflichtung befreit worden ist.
Im Verfahren vor dem BSG beantragt das Landesversorgungsamt Niedersachsen,
den Wiederaufnahmeantrag als unzulässig zu verwerfen.
Es ist der Auffassung, daß die Voraussetzungen des § 181 SGG nicht gegeben seien, weil die beklagte Tiefbau-BG die Unfallfolgen bereits durch den Bescheid vom 8. Mai 1953 anerkannt habe.
Die beklagte BG beantragt,
den Vorlagebeschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die beigeladene Betriebskrankenkasse der Salzgitter AG beantragt,
das Land Niedersachsen als den Leistungspflichtigen zu bestimmen und die beim Kläger vorhandenen Hirnschädigungsfolgen als Schädigung im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen und festzustellen, daß der Kläger für diese Schädigungsfolgen Anspruch auf Heilbehandlung nach § 10 Abs. 1 BVG hatte und dadurch die Beigeladene Anspruch auf Kostenersatz nach § 19 BVG für die ab 1953 in diesem Zusammenhang gewährten Leistungen hat.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat im Verfahren vor dem BSG keine Erklärungen abgegeben.
II
Durch den Beschluß des 3. Senats des LSG Niedersachsen vom 19. Januar 1965 ist das vor dem LSG anhängig gewesene Verfahren vor dem BSG anhängig geworden. An dem Verfahren vor dem BSG ist auch das Land Niedersachsen, vertreten durch das Landesversorgungsamt Niedersachsen, dadurch als - weiterer - Beklagter beteiligt, daß der 3. Senat des LSG außer den am Berufungsverfahren Beteiligten und dem 10. Senat des LSG auch das Landesversorgungsamt von der Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens durch Übersendung einer Abschrift der Sitzungsniederschrift vom 19. Januar 1965 "verständigt" hat (vgl. § 181 SGG und BSG 14, 177, 179).
Gegenstand des vor dem 3. Senat des LSG anhängigen Berufungsverfahrens war der - durch den Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 1958 und den Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 1962 abgelehnte - Anspruch des Klägers auf Entschädigung für die Folgen von Gesundheitsstörungen - in erster Linie der Folgen von Hirndurchblutungsstörungen -, den der Kläger bei der beklagten Tiefbau-BG mit der Begründung geltend gemacht hat, daß diese Gesundheitsstörungen Folge des Unfalls vom 1. Oktober 1951 seien. Für die Entscheidung ist deshalb der 2. Senat des BSG zuständig.
Wie sich aus dem - im übrigen nicht näher begründeten - Beschluß des 3. Senats des LSG vom 19. Januar 1965 ergibt, ist der Senat des LSG aufgrund der Würdigung der ihm vorliegenden Beweise zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Gesundheitsstörungen nicht Folge des Arbeitsunfalles vom 1. Oktober 1951 seien, sondern vielmehr Schädigungsfolgen im Sinne des BVG. Nach diesem Ergebnis der Beweiswürdigung müßte also unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 30. Januar 1961 die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der beklagten BG vom 3. Juli 1958 idF des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1963 abgewiesen und das Land Niedersachsen, vertreten durch das Landesversorgungsamt, verurteilt werden (vgl. hierzu § 75 Abs. 2 und 5 SGG). Der 3. Senat des LSG ist jedoch der Auffassung, daß einer Beiladung und Verurteilung des Landes Niedersachsen die Rechtskraft des Urteils des 10. Senats des LSG vom 15. November 1957 entgegenstehen würde und deshalb die Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 181 SGG (i. V. m. § 180 Abs. 2 SGG) erforderlich sei.
Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Rechtsauffassung zutrifft, denn für eine Abgabe der Sache zur Entscheidung an das BSG nach § 181 SGG fehlt es an der Voraussetzung, daß dieses "das gemeinsame nächsthöhere Gericht" ist. § 181 SGG gehört zu den Vorschriften, die es über den Rahmen des 4. Buches der Zivilprozeßordnung (ZPO) hinaus ermöglichen, unter Durchbrechung der Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils eine sachlich und rechtlich zutreffende Entscheidung herbeizuführen. Wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 27. April 1961 (2 S 1/60 - BSG 14, 177) ausgeführt hat, ist auch bei der Auslegung der Sondervorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (§§ 180 ff SGG) die Tendenz der Vorschriften des 4. Buches der ZPO zu berücksichtigen, die dahin geht, die Zuständigkeit für Wiederaufnahmeverfahren, in denen neue Tatsachenfeststellungen in Betracht kommen, von den höchstinstanzlichen Gerichten fernzuhalten. Der 8. Senat des BSG hat für ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 SGG bereits entschieden, daß das BSG nicht das "gemeinsame nächsthöhere" Gericht ist, wenn zwei Senate eines LSG rechtskräftig über je eine Leistung aus der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung entschieden haben (Beschluß vom 14. Dezember 1966 - 8 RV 1049/65 - BSG 26, 38). In dieser Entscheidung, auf die im einzelnen Bezug genommen wird, ist näher dargelegt, daß unter Gericht nur die Gerichtsstelle als Ganzes, nicht aber der einzelne Spruchkörper zu verstehen ist, so daß es sich, wenn zwei Senate desselben Gerichts entschieden haben, nur um Entscheidungen eines Gerichts, nicht aber um die Entscheidungen verschiedener Gerichte handelt. Ein gemeinsames nächsthöheres Gericht kann aber nur in Betracht kommen, wenn Entscheidungen verschiedener Gerichte vorliegen. Deshalb ist nach der Auffassung des erkennenden Senats eine Abgabe an das BSG auch nicht erforderlich, wenn ein Senat eines LSG eine Klage gegen den Versicherungsträger der Unfallversicherung abweisen will, weil es ein Land für verpflichtet hält, Leistungen aus der Kriegsopferversorgung zu gewähren, das Land aber bereits durch ein Urteil eines anderen Senats desselben LSG von der Leistungspflicht nach den Vorschriften des BVG rechtskräftig befreit worden ist. Es ist vielmehr in einem solchen Falle Sache der Geschäftsverteilung innerhalb des LSG, den Senat zu bestimmen, der in einem solchen Falle nach der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des § 181 SGG i. V. m. § 180 Abs. 2 SGG für die Entscheidung zuständig ist.
Der Senat hat deshalb den Beschluß des 3. Senats des LSG Niedersachsen vom 19. Januar 1965 aufgehoben.
Fundstellen