Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Bestellung eines besonderen Vertreters für einen nicht prozessfähigen Beteiligten. Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung. Ablehnung der Teilnahmebedingungen aus datenschutzrechtlichen Gründen. keine offensichtliche Haltlosigkeit des Rechtsmittels
Orientierungssatz
1. Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176, 178 f). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R = SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10).
2. Geht es dem Kläger insbesondere darum, an einem integrierten Versorgungsangebot der beklagten Krankenkasse teilnehmen zu können, ohne den Teilnahmebedingungen - gegen die er datenschutzrechtliche Einwände erhebt - uneingeschränkt zustimmen zu müssen, handelt es sich hierbei nicht um ein offensichtlich haltloses Klagebegehren ohne jeglichen Rückhalt im Gesetz. Allein der Umstand, dass der geltend gemachte Anspruch aus Sicht des LSG nicht besteht, macht das Begehren nicht haltlos.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 4; BGB § 104 Nr. 2; SGB V § 140a; EUV 2016/679 Art. 4 Nr. 11; EUV 2016/679 Art. 7 Abs. 4
Verfahrensgang
SG Mainz (Gerichtsbescheid vom 24.09.2018; Aktenzeichen S 7 KR 503/15) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.12.2019; Aktenzeichen L 5 KR 253/18) |
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2019 - L 5 KR 253/18 - gewährt.
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung.
Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger bat diese im Oktober 2014, seine Teilnahme am "NetzWerk psychische Gesundheit", einem Angebot im Rahmen eines Vertrages zur integrierten Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, vorzubereiten. Nachfolgend teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei mit dem Formular "Teilnahmeerklärung und Einverständnis zur Datenverarbeitung" nicht einverstanden. Die Beklagte lehnte eine Änderung des Formulars nach den Wünschen des Klägers ab und entschied, dass ohne seine uneingeschränkte Zustimmung zu der Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung, wie sie die Teilnahmeerklärung vorsehe, eine Teilnahme an der integrierten Versorgung nicht möglich sei (Bescheid vom 6.7.2015, Widerspruchsbescheid vom 15.9.2015). Das SG hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Es bestünden keine Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers. Die Beklagte mache die Teilnahme an der integrierten Versorgung zulässigerweise davon abhängig, dass der Kläger den notwendigen Datenschutzbestimmungen zustimme und die Teilnahmeerklärung unterschreibe. Hinsichtlich der weiteren von dem Kläger geltend gemachten Klagebegehren sei die Klage unzulässig (Gerichtsbescheid vom 24.9.2018). Der Kläger hat im Berufungsverfahren unter anderem geltend gemacht, die Frage der Prozessfähigkeit und ordnungsgemäßen Vertretung sei nicht geklärt. Das LSG hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.12.2019 bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Der Kläger hat um Umwandlung des Termins in einen Erörterungstermin und Prüfung seiner Prozessfähigkeit gebeten und darauf hingewiesen, dass er sich aktuell nicht selbst voll vertreten könne. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger abermals geltend gemacht, er sei nur teilweise prozessfähig. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Es könne offenbleiben, ob der Kläger prozessunfähig sei. Der Bestellung eines besonderen Vertreters habe es nicht bedurft, weil sein Begehren offensichtlich haltlos sei. Er habe aus den vom SG ausgeführten Gründen keinen Anspruch auf Teilnahme an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten zu den von ihm vorgegebenen Bedingungen (Urteil vom 19.12.2019).
Der Kläger, für den der Senat Rechtsanwalt B als besonderen Vertreter bestellt und unter Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordnet hat, wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und rügt einen Verfahrensmangel sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
II. 1. Dem Kläger war ungeachtet seiner Prozessunfähigkeit jedenfalls deshalb gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von PKH gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von PKH fristgerecht eingelegt und begründet hat.
2. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu b), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu a).
a) Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) hinreichend.
b) Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des LSG liegt auch vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat. Dieser war in der mündlichen Verhandlung am 19.12.2019 nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.
Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 23/18 B - juris RdNr 6 mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65 = juris RdNr 9).
Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht grundsätzlich von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig (§ 71 Abs 1 SGG) ist. Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) Prozessunfähigkeit des Beteiligten als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit muss das Gericht den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte prozessunfähig ist (vgl BSG vom 17.12.2019 - B 1 KR 73/18 B - SozR 4-1500 § 56a Nr 1 RdNr 8 mwN). Würde in einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG; vgl dazu BVerfG ≪Kammer≫ vom 16.8.2017 - 1 BvR 1584/17 - juris RdNr 3), rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) und ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten. Dies gilt in jedem Falle dann, wenn der Kläger wie hier selbst geltend macht, er sei nicht uneingeschränkt prozessfähig .
Das LSG durfte nicht davon absehen, einen besonderen Vertreter zu bestellen, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass der Kläger prozessfähig ist. Es hat hingegen ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger prozessunfähig ist. Es hätte in diesem Fall nur nach Bestellung eines besonderen Vertreters iS von § 72 Abs 1 SGG über den Rechtsstreit entscheiden dürfen.
Hiervon ist das LSG im Ergebnis auch ausgegangen. Zu Unrecht hat es jedoch angenommen, es liege ein Ausnahmefall vor, bei dem von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden könne.
Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 - BSGE 5, 176, 178 f). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R - SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Gleiches gilt aber auch dann, wenn das Rechtsmittel unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann, weil es schlechterdings nicht statthaft ist (vgl BSG vom 18.1.2017 - B 1 KR 1/17 S - juris RdNr 4; BSG vom 22.1.2019 - B 1 KR 32/18 S - juris RdNr 5).
Das LSG legt diesen Maßstab seiner Entscheidung zwar zugrunde, richtet seine Prüfung aber nicht daran aus. Dem Kläger ging es nach den Feststellungen des LSG insbesondere darum, an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten "NetzWerk psychische Gesundheit" teilnehmen zu können, ohne den Teilnahmebedingungen - gegen die er datenschutzrechtliche Einwände erhebt - uneingeschränkt zustimmen zu müssen. Hierbei handelt es sich nicht um ein offensichtlich haltloses Klagebegehren ohne jeglichen Rückhalt im Gesetz. Allein der Umstand, dass der geltend gemachte Anspruch aus Sicht des LSG nicht besteht, macht das Begehren nicht haltlos. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die zwingende Verknüpfung der Teilnahme an einer besonderen Versorgungsform mit der Zustimmung zur Datenübermittlung im Hinblick auf die von Art 4 Nr 11 und Art 7 Abs 4 Datenschutz-Grundverordnung geforderte Freiwilligkeit der Einwilligung schwierige rechtliche Fragen aufwerfen kann (vgl dazu etwa Michels in Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl 2020, § 295a RdNr 3; Bieresborn/Giesberts-Kaminski, SGb 2018, 449, 452 f; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 10/2018, § 67b RdNr 48 mwN).
3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob die Rechtssache auch - wie von der Beschwerde zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche Bedeutung hat. Selbst bei Bejahung einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen, da das Urteil des LSG aufgrund des Verfahrensfehlers, bei dem der Einfluss auf die Sachentscheidung zudem unwiderleglich vermutet wird, keinen geeigneten Gegenstand für eine revisionsrechtliche Überprüfung bildet (vgl BSG vom 2.11.2007 - B 1 KR 72/07 B - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 13; BSG vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - juris RdNr 10; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 160a SGG, Stand 4.5.2020, RdNr 221, jeweils mwN). Der Kläger macht zudem geltend, mit der pauschalen Unterstellung, er habe die Teilnahme- und Datenschutzerklärung nicht unterzeichnen wollen, hätten das SG und das LSG sein tatsächliches Begehren nicht zutreffend erfasst. Er verlange lediglich, diejenigen Teile, die seiner Auffassung nach rechtswidrig seien, aus der Erklärung zu entfernen, und stütze sich dabei auf § 295a SGB V. Auf diesen Aspekt sind weder das SG noch das LSG eingegangen. Insofern erscheint auch offen, welche tatsächlichen Feststellungen das LSG bei der gebotenen Bestellung eines besonderen Vertreters getroffen hätte (vgl auch - zu § 133 Abs 6 VwGO - BVerwG vom 3.2.1993 - 11 B 12/92 - juris RdNr 6).
4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI14226189 |