Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Verneinung des Feststellungsinteresse nach § 55 SGG. kein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG
Orientierungssatz
1. Eine Verletzung des § 169 S 1 GVG liegt nur dann vor, wenn eine Beschränkung oder der Ausschluss der Öffentlichkeit mit Wissen und Wollen des Vorsitzenden oder des Gerichts geschieht, nicht aber, wenn der - möglicherweise - gesetzwidrige Zustand dem Gericht infolge unverschuldeter Unkenntnis verborgen geblieben ist.
2. Die Frage, ob ein Feststellungsinteresse iS des § 55 SGG besteht oder nicht, ist eine des materiellen Rechts; die Verneinung des Feststellungsinteresses stellt für sich genommen keinen Verfahrensmangel dar.
Normenkette
GVG § 169 S. 1; SGG § 55 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der im Mai 1935 geborene Kläger begehrt von der beklagten Freien und Hansestadt Hamburg die Genehmigung zur Durchführung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nach § 121a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Den im November 1991 gestellten Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Februar 1995 ab. Das von dem Kläger gegen diesen Bescheid angerufene Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit an das Sozialgericht (SG) verwiesen. Dieses hat die Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens mit Urteil vom 27. September 2000 mit der Begründung abgewiesen, der Kläger biete nicht die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Durchführung von Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, dem Kläger könne die begehrte Genehmigung nicht mehr erteilt werden, weil das Kalendervierteljahr abgelaufen sei, in dem er das 68. Lebensjahr vollendet habe (Urteil vom 30. Juli 2003).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger Verfahrensmängel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und macht die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen geltend (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.
Soweit der Kläger als Verfahrensmangel rügt, das Verfahren sei insgesamt nicht fair gewesen und habe unzumutbar lange gedauert, ist die Beschwerde nicht begründet. Von den 11 1/2 Jahren, die zwischen der Antragstellung des Klägers und der Entscheidung des LSG im Berufungsrechtszug vergangen sind, ist im Hinblick auf § 160 Abs 2 Nr 3 SGG von vornherein nur die Zeitspanne von Bedeutung, die auf das gerichtliche Verfahren entfällt.
Hinsichtlich der Dauer des Verwaltungsverfahrens wäre es Sache des Klägers gewesen, ggf durch Erhebung einer Untätigkeitsklage auf eine Verfahrensbeschleunigung hinzuwirken. Davon hat der Kläger Anfang 1995 auch Gebrauch gemacht. Im Übrigen ergeben die gerichtlichen Feststellungen (vgl § 163 SGG), dass sich die Beklagte intensiv mit dem Begehren des Klägers befasst und ihn vor einer abschließenden Entscheidung mehrfach auf die Umstände hingewiesen hat, die aus ihrer Sicht einer positiven Entscheidung entgegenstehen. Der Kläger hat auf diese Hinweise und Mitteilungen der Beklagten jeweils reagiert und nicht deutlich gemacht, dass er auf einer sofortigen Entscheidung bestehe.
Die Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens ist dadurch wesentlich beeinflusst, dass zunächst das unzuständige Gericht angerufen worden ist und dass anschließend Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden haben, ob im Hinblick auf die bereits erhobene Untätigkeitsklage noch ein Widerspruchsbescheid zu erlassen ist oder nicht. Im Übrigen hat das SG den Sachverhalt durch ein Gutachten von Prof. M. von der C.-A.-Universität in K. aufgeklärt und den Rechtsstreit nach Vorlage des Gutachtens und dem sachgerechten Abwarten auf die Äußerungen der Verfahrensbeteiligten zu dem eingeholten Gutachten entschieden. Das sozialgerichtliche Urteil vom 27. September 2000 ist dem Kläger am 20. März 2001 zugestellt worden. Er hat am 19. April 2001 Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 28. Juli 2003 begründet, nachdem ihm bereits seit längerem die Ladung für den Verhandlungstermin am 30. Juli 2003 vorgelegen hatte. Im Juni 2001 hatte der Kläger über seine Bevollmächtigten Akteneinsicht genommen und die Akte am 13. Juni 2001 an das Gericht zurückgesandt. Der Kläger ist sodann mit gerichtlichen Verfügungen vom 13. Juli 2001, 6. September 2001 und 5. November 2001 schriftlich an die Vorlage einer Berufungsbegründung erinnert worden. Auf telefonische Nachfrage hat der Bevollmächtigte des Klägers dem Gericht unter dem 10. Januar 2002 und 28. Februar 2002 jeweils mitgeteilt, derzeit keinen Kontakt zu dem Kläger aufnehmen zu können. Der Kläger ist sodann unter dem 18. April 2002 noch einmal an die Vorlage einer Berufungsbegründung erinnert worden. Eine solche hat er erst nach Zustellung der Ladung vom 16. Juli 2003 vorgelegt. Dieser Ablauf lässt erkennen, dass das Verhalten des Klägers wesentlich zur Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits im Berufungsrechtszug beigetragen hat. Deshalb ist ungeachtet der Verfahrensdauer insgesamt das Gebot eines fairen Verfahrens hier nicht verletzt.
Der Kläger macht weiterhin als Verfahrensmangel geltend, entgegen § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) iVm § 61 SGG sei die Öffentlichkeit während der Durchführung der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 30. Juli 2003 nicht hergestellt worden. Insoweit ist die Beschwerde unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Begründungsanforderungen. Der Kläger hat lediglich dargelegt, dass bei Verhandlungsbeginn der Haupteingang des Gerichtsgebäudes gesperrt gewesen und auf einen Nebeneingang hingewiesen worden sei. Dort habe sich ein Schild mit der Aufschrift "Eingang nur für Bedienstete" befunden. Dieser Vortrag allein reicht für die Darlegung des Verfahrensmangels der Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit iS von § 547 Nr 5 Zivilprozessordnung (ZPO) iVm § 202 SGG nicht aus. Die Schilderung der Umstände seitens des Klägers lässt schon nicht hinreichend erkennen, ob für die interessierte Öffentlichkeit der Hinweis "Eingang nur für Bedienstete", der sich möglicherweise seit Jahren oder Jahrzehnten in der Nähe des Nebeneingangs befunden hat, im Hinblick auf die Schließung des Haupteingangs nach den tatsächlichen Gegebenheiten erkennbar - jedenfalls für die Zeit der Sperrung des Haupteingangs - gegenstandslos war. Im Übrigen liegt eine Verletzung des § 169 Satz 1 GVG nur dann vor, wenn eine Beschränkung oder der Ausschluss der Öffentlichkeit mit Wissen und Wollen des Vorsitzenden oder des Gerichts geschieht, nicht aber, wenn der - möglicherweise - gesetzwidrige Zustand dem Gericht infolge unverschuldeter Unkenntnis verborgen geblieben ist (vgl Zöller/Gummer, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, 2004, § 169 GVG, RdNr 11). Dazu ist der Beschwerdebegründung nichts zu entnehmen, insbesondere nicht dazu, ob der Senat des Berufungsgerichts zu Beginn der mündlichen Verhandlung von der Sperrung des Haupteingangs und der Öffnung des Nebeneingangs gewusst hat bzw hätte wissen können. Dazu hätte es näheren Vortrags über den Zeitraum der Sperrung des Haupteingangs, der Art der Hinweise auf den Nebeneingang und die Kenntnisse des Gerichts von diesen Umständen bedurft.
Soweit der Kläger einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG) rügt, ist seine Beschwerde ebenfalls unzulässig. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann der Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ausweislich der Niederschrift in der mündlichen Verhandlung vom 30. Juli 2003 hat der Kläger zwar ua beantragt, über seine Qualifikation zur Durchführung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung Beweis zu erheben, doch lässt sich dem Berufungsurteil mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, weshalb das Gericht die Durchführung einer entsprechenden Beweisaufnahme von seinem insoweit maßgeblichen Rechtsstandpunkt nicht für erforderlich gehalten hat. Das LSG hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass dem Kläger die begehrte Genehmigung nicht mehr erteilt werden kann, weil er die Altersgrenze für die vertragsärztliche Tätigkeit überschritten hat. Von dieser Rechtsauffassung ausgehend kommt es auf die Qualifikation des Klägers für die Durchführung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nicht mehr an.
Einen Beweisantrag speziell hinsichtlich des Feststellungsinteresses hat der Kläger ausweislich der Niederschrift der mündlichen Verhandlung nicht gestellt. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf seine Berufungsbegründung vom 28. Juli 2003 und das in dieser Berufungsbegründung enthaltene Zitat aus einem Schreiben der Beigeladenen an die Beklagte vom 6. September 1993 hinweist, ist ein Zusammenhang mit einem Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht ersichtlich. Der Beschwerdebegründung ist nicht zu entnehmen, ob das zitierte Schreiben tatsächlich vorgelegt worden ist bzw warum davon ggf Abstand genommen worden ist. Die Beschwerdebegründung enthält weiterhin keinen Hinweis darauf, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich darauf bestanden habe, dass das Gericht das zitierte Schreiben vom 6. September 1993 zu den Gerichtsakten nimmt. Im Übrigen ist die Frage, ob ein Feststellungsinteresse iS des § 55 SGG besteht oder nicht, eine solche des materiellen Rechts; die Verneinung des Feststellungsinteresses stellt deshalb für sich genommen keinen Verfahrensmangel dar.
Unbegründet ist die Beschwerde schließlich, soweit sich der Kläger auf die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen stützt. Er hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob ein Kläger noch über sein offensichtliches wirtschaftliches Interesse hinaus ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung darlegen müsse, wenn ein Rechtsstreit ohne sein Zutun mehr als 8 Jahre dauert und er seinen Verpflichtungsantrag wegen Überschreitens der Altersgrenze nicht weiter verfolgen kann und deswegen hilfsweise ein Feststellungsinteresse geltend macht". Wenn es sich insoweit überhaupt um eine der Entscheidung des Revisionsgerichts zugängliche Rechtsfrage handeln sollte, besteht jedenfalls kein Bedürfnis nach einer rechtsgrundsätzlichen Klärung. Schon in der ihr vom Kläger gegebene Formulierung enthält die Rechtsfrage Wertungen, die teilweise unzutreffend sind, soweit etwa formuliert ist, das Verhalten des Klägers habe die Dauer des Rechtsstreits nicht beeinflusst. Im Übrigen ist die Rechtsfrage so stark auf die konkreten Umstände des Einzelfalls - lange Verfahrensdauer, Überschreitung der Altersgrenze für die vertragsärztliche Tätigkeit, langwierige Ermittlungen hinsichtlich der Qualifikation des Klägers für die Durchführung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nach § 121a SGB V - zugeschnitten, dass ein Bedürfnis für eine rechtsgrundsätzliche Klärung von vornherein nicht besteht.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Absätze 1 und 4 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung.
Fundstellen