Entscheidungsstichwort (Thema)
grundsätzliche Bedeutung. Verweisungsvorschrift. einheitliche Auslegung. “abgesenkte” Versorgungsleistungen. gefestigte Rechtsprechung
Leitsatz (amtlich)
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1; BVG §§ 31, 84a S. 1; OEG § 1 Abs. 1; AusglBGG § 2 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 93 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a; AlhiV § 11 Abs. 1 Nr. 2 J: 2002
Verfahrensgang
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 11.11.2004; Aktenzeichen L 3 VE 15/04) |
SG Schwerin (Entscheidung vom 09.02.2004; Aktenzeichen S 6 VE 23/03) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 11. November 2004 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (LSG) hat durch Urteil vom 11. November 2004 die Entscheidung des Beklagten und des – erstinstanzlichen – Sozialgerichts (SG) Schwerin bestätigt, wonach der Kläger als Ende 1992 im Beitrittsgebiet geschädigtes und dort am 18. Mai 1990 wohnhaftes Gewaltopfer nach § 84a Bundesversorgungsgesetz (BVG) nur “abgesenkte” Versorgungsleistungen erhält. Die Revision hat das LSG nicht zugelassen. Mit seiner dagegen eingelegten Beschwerde macht der Kläger grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie Verfahrensmängel geltend.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die behaupteten Zulassungsgründe liegen – soweit der Kläger sie formgerecht dargelegt und bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) – nicht vor.
Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 4, 11, 13, 39). Eine Frage ist grundsätzlich dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort darauf praktisch außer Zweifel steht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder sie bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65). Abweichend von dieser Regel kann die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage ausnahmsweise zu bejahen sein, wenn der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfange widersprochen worden ist und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; § 160a Nr 13).
Der Kläger hat (sinngemäß) folgende einfachrechtliche Frage aufgeworfen:
Enthält § 1 Abs 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) eine dynamische Rechtsfolgenverweisung auf die Regelungen des Wertes einer Grundrente in § 31 Abs 1 und 2 BVG in jeweiliger Höhe und entspricht der Wert der Grundrente deshalb nach der Rechtsänderung durch Einfügung des § 84a Satz 3 BVG ab 1. Januar 1999 Westniveau?
Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig, weil der Senat sie im Urteil vom 16. Dezember 2004 – B 9 VG 1/03 R – (SozR 4-3800 § 10a Nr 1) bereits im Sinne einer Verneinung beantwortet hat. Mit der vom Kläger für seine gegenteilige Auffassung in Anspruch genommenen Rechtsprechung anderer Senate des Bundessozialgerichts (BSG) zum Rentenversicherungsrecht (SozR 4-2600 § 93 Nr 2 und 3), zum Recht des Dienstbeschädigtenausgleichs (SozR 4-8855 § 2 Nr 1) und zur Arbeitslosenhilfe ≪Alhi≫ (SozR 4-4220 § 11 Nr 2) brauchte sich diese Entscheidung nicht auseinander zu setzen, weil dadurch keine Zweifel an Inhalt und Wirkung der in § 1 Abs 1 OEG ausgesprochenen Verweisung auf das BVG aufgeworfen werden. Gewaltopfer erhalten danach “Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes”. Zu diesen Vorschriften gehört § 84a Satz 1 BVG, der für Berechtigte des Beitrittsgebiets das Versorgungsniveau absenkt. Von der allgemein geltenden Absenkung sind nach § 84a Satz 3 BVG ab 1. Januar 1999 nur Beschädigtengrundrenten von bestimmten, abschließend aufgeführten Personenkreisen, insbesondere von “Berechtigten nach § 1” ausgenommen. Dazu gehört der Kläger nicht, auch nicht zu den weiteren in § 84a Satz 3 BVG genannten Berechtigten nach dem Häftlingshilfegesetz, dem Strafrechtlichen und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz. § 84a Satz 1 BVG ordnet mithin auch für die hier streitige Grundrente eines Berechtigten nach dem OEG “abgesenkte” Versorgung an.
Die vom Kläger herangezogenen Entscheidungen des BSG betreffen nicht nur andere Vorschriften, sondern stehen auch in anderen Auslegungszusammenhängen:
Nach § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), in der den Urteilen des 4. (SozR 4-2600 § 93 Nr 2) und 13. Senats (SozR 4-2600 § 93 Nr 3) zu Grunde liegenden Fassung, blieb bei der Ermittlung der Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge (aus der Renten- und Unfallversicherung) bei der Verletztenrente aus der Unfallversicherung der Betrag unberücksichtigt, der bei gleichem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als Grundrente nach dem BVG geleistet würde. Wenn die genannten Rentensenate des BSG den Begriff “Grundrente nach dem BVG” dahin verstanden haben, dass damit auch für Rentenbezieher im Beitrittsgebiet allein auf die in § 31 BVG festgelegten (nicht abgesenkten) Beträge Bezug genommen werde, beruht dies auf einer spezifisch rentenversicherungsrechtlichen Auslegung der Anrechnungsregelung des § 93 SGB VI.
Auch die Rechtsauffassung des 4. Senats zu § 2 Abs 1 Satz 1 Gesetz über einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet (DBAG), wonach Dienstbeschädigtenausgleich in Höhe der für das Beitrittsgebiet geltenden Grundrente nach dem BVG geleistet wird (vgl SozR 4-8855 § 2 Nr 1), wirkt sich nicht auf die Rechtsprechung des Senats zum OEG aus. Sie betrifft ein besonderes Sozialleistungssystem.
Entsprechend verhält es sich mit der Rechtsprechung des 7. Senats zu § 11 Satz 1 Nr 2 Alhi-Verordnung damaliger Fassung (SozR 4-4220 § 11 Nr 2). Nach dieser Vorschrift galt eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bis zur Höhe des Betrages nicht als Einkommen, der in der Kriegsopferversorgung bei gleicher MdE als Grundrente und Schwerstbeschädigtenzulage gewährt würde. Hier legte es die Bezugnahme auf die “Kriegsopferversorgung” nahe, im Hinblick auf § 84a Satz 3 BVG (“Berechtigte nach § 1” BVG) auch im Beitrittsgebiet Grundrentenbeträge ohne Absenkung in Ansatz zu bringen.
Der Kläger hält außerdem (sinngemäß) folgende verfassungsrechtliche Fragen für rechtsgrundsätzlich bedeutsam:
Verstößt es gegen Art 3 Abs 1 iVm Art 2 Grundgesetz (GG) in Gestalt des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Klarheitsgebots, Verweisungen verschiedener Gesetze (hier auf der einen Seite in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI und § 2 DBAG und auf der anderen Seite in § 1 Abs 1 OEG) auf ein und dieselbe Norm (hier § 31 BVG) unterschiedlich danach zu interpretieren, woher die Verweisung kommt?
Widerspricht es dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 GG, Gewaltopfern bei gleichen Schädigungsfolgen Leistungen in unterschiedlicher Höhe zu gewähren, je nach dem, wo sie am 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz hatten (im Beitrittsgebiet oder in den alten Bundesländern)?
Verstößt es gegen Art 3 Abs 1 GG, Gewaltopfern, die am 18. Mai 1990 im Beitrittsgebiet gewohnt haben, nur “abgesenkte” Grundrente zu gewähren, dagegen
– den Dienstbeschädigtenausgleich ehemaliger NVA-Soldaten,
– den nicht zu berücksichtigenden Betrag einer Verletztenrente bei Zusammentreffen mit einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung,
– die Zulage schwerst Kriegsbeschädigter,
– den als Einkommen nicht zu berücksichtigenden Teil einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beim Bezug von Alhi
stets nach “Westniveau” zu berechnen?
Die Beschwerdebegründung legt nicht ausreichend dar, weshalb diese Fragen höchstrichterlich geklärt werden müssen (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Verweisungen des SGB VI, des DBAG und des OEG auf versorgungsrechtliche Bestimmungen unterscheiden sich in Umfang und Wortlaut; die genannten Gesetze verfolgen unterschiedliche Zwecke. Der Kläger zeigt nicht auf, weshalb dennoch unterschiedliche Interpretationen dieser Verweisungsnormen verfassungsrechtlich verboten sein sollen.
Durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die seit 1991 geltende “Absenkung” des Versorgungsniveaus im Beitrittsgebiet wegen der – noch – unterschiedlichen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse in Ost und West weiterhin verfassungsgemäß ist und eine Ausnahme nur für die Beschädigtengrundrente von Kriegsopfern nach § 31 Abs 1 Satz 1 BVG gilt, weil das grundgesetzliche Gleichheitsgebot unterschiedliche Leistungen für schicksalhaft verbundene Personen, die ihr “Opfer im gleichen Krieg für den gleichen Staat erbracht haben”, nicht zulässt (vgl SozR 3-3100 § 84a Nr 3). Der Kläger legt nicht dar, weshalb die Grundrentenabsenkung bei Gewaltopfern des Beitrittsgebiets – ebenso wie bei Berechtigten nach § 1 BVG – ab 1. Januar 1999 gleichheitssatzwidrig sein soll, obwohl der Senat in einem Urteil vom 16. Dezember 2004 (SozR 4-3800 § 10a Nr 1) in der unterschiedlichen Rechtsnatur der beiden Leistungen einen sachlichen Grund für voneinander abweichende Regelungen erkannt hat: Ausgleich eines vom Staat im Krieg abgeforderten Gesundheitsopfers einerseits und Entschädigung für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen ungenügender staatlicher Verbrechensprävention andererseits.
Soweit der Kläger sich auf die Vergleichsgruppe der Rentenversicherungs-Rentner bezieht, lässt er die zwischenzeitliche Rechtsentwicklung unberücksichtigt. Jedenfalls hätte Anlass bestanden, Ausführungen dazu zu machen, ob der Gesetzgeber nicht der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des 4. und 13. Senats des BSG (SozR 4-2600 § 93 Nr 2, 3) den Boden entzogen hat, indem er die Verweisung in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI rückwirkend zum 1. Januar 1992 neu formuliert hat: “Grundrente nach § 31 iVm § 84a Satz 1 und 2 des Bundesversorgungsgesetzes” (vgl Art 1 Nr 19 und Art 15 Abs 2 RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21. Juli 2004 ≪BGBl I, 1791≫ sowie die Materialien hierzu ≪BT-Drucks 15/2678 S 22 f≫).
Hinsichtlich der Vergleichsgruppe der Bezieher von Alhi, die der Kläger anführt, fehlt ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich die Rechtslage – in Bezug auf die fragliche Entscheidung des 7. Senats des BSG (SozR 4-4220 § 11 Nr 2) – entscheidungserheblich geändert hat. Dabei wäre insbesondere darauf einzugehen gewesen, dass die Alhi mit dem 1. Januar 2005 durch eine Grundsicherung für Arbeitsuchende abgelöst worden ist. § 11 Abs 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch lässt nur noch die – tatsächlich gezahlte – Grundrente nach dem BVG “anrechnungsfrei”.
In Bezug auf die Vergleichsgruppe der ehemaligen NVA-Soldaten wären ebenfalls weitere Darlegungen erforderlich gewesen. Eine bloße Bezugnahme auf die vorliegende Entscheidung des 4. Senats des BSG (SozR 4-8855 § 2 Nr 1) reicht jedenfalls nicht aus. Denn aus der gesetzlichen Regelung in § 2 Abs 1 Satz 1 DBAG, wo auf die “Höhe der für das Beitrittsgebiet geltenden Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz” verwiesen wird, lässt sich eine sachwidrige Besserstellung jenes Personenkreises gegenüber Gewaltopfern nicht ohne weiteres entnehmen. Auch hier wäre ein näheres Eingehen auf die unterschiedliche Rechtsnatur und Zwecksetzung der betreffenden Leistungen erforderlich gewesen. Überdies liegt eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Auslegung dieser Vorschrift noch nicht vor, nachdem verschiedene Instanzgerichte dem 4. Senat des BSG, der diese Vorschrift im Ergebnis als Gleichstellung ausgleichsberechtigter ehemaliger NVA-Soldaten mit Kriegsbeschädigten nach § 1 BVG interpretiert hat, die Gefolgschaft versagt haben (vgl Urteile des SG Berlin vom 19. Oktober 2004 – S 7 RA 4235/04 – und vom 15. November 2004 – S 7 RA 5195/04 – sowie des SG Dresden vom 19. Januar 2005 – S 8 RA 1158/04 –; Revisionen anhängig unter B 4 RA 58 und 61/04 R sowie B 4 RA 11/05 R).
Einen als Zulassungsgrund weiter geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) hat der Kläger – auch nach Ablauf der Begründungsfrist – nicht ausreichend dargelegt. Er meint, ein Fachgericht verstoße gegen Art 100 GG, wenn es unterlasse, ein Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, obwohl die Vereinbarkeit einer entscheidungserheblichen gesetzlichen Bestimmung mit der Verfassung zweifelhaft sei. Den Ausführungen des Klägers ist nicht zu entnehmen, das LSG habe – wie von Art 100 Abs 1 Satz 1 GG vorausgesetzt – die Regelung des § 84a Satz 1 BVG im vorliegenden Anwendungszusammenhang selbst für verfassungswidrig gehalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
SozR 4-1500 § 160, Nr. 5 |
www.judicialis.de 2005 |