Leitsatz (amtlich)

Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist im sozialgerichtlichen Verfahren nur dann ein zur Zulassung der Revision führender Verfahrensmangel (SGG § 160 Abs 2 Nr 3), wenn die angefochtene Entscheidung auf ihm beruhen kann.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1974-07-30, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr. 5

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 03.08.1977; Aktenzeichen L 14 Ar 366/76)

SG München (Entscheidung vom 19.12.1975; Aktenzeichen S 6 Ar 2751/74)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. August 1977 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde ist nicht zulässig, da in der Beschwerdebegründung keine Revisionszulassungsgründe dargelegt sind (§ 160 Abs 2 Nrn 1 - 3, § 160 a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Klägerin sieht eine Abweichung des Urteils von der Entscheidung in BSGE 18, 154 darin, daß das Landessozialgericht (LSG) nicht die Versicherungspflicht des Verstorbenen geprüft habe. Dabei beachtet sie nicht, daß jene Entscheidung zu einem Fall ergangen ist, in dem die Krankenkasse den Studierenden als versicherungspflichtig in Anspruch genommen hatte, während hier das LSG als rechtserheblich ansah, ob die Wartezeit von 60 Kalendermonaten als Voraussetzung der begehrten Rente erfüllt ist: "Für diese Wartezeit zählen alle Monate, die mit Versicherungszeiten (Beitrags- und Ersatzzeiten) belegt bzw für die Beiträge wirksam entrichtet worden sind. Diese Wartezeit ist im gegenständlichen Fall nicht erfüllt". (Urteil Seite 4). Es hat ausgeführt, es seien nur 12 Kalendermonate einer Beschäftigung bei der Firma A. AG anrechenbar; sämtliche angeschriebenen Firmen und Dienststellen hätten mitgeteilt, daß Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht abgeführt worden seien. Die Klägerin übersieht, daß das LSG nicht der Rechtsauffassung war, zur Anrechnung auf die Wartezeit genüge schon, daß eine Beschäftigung an sich versicherungspflichtig gewesen wäre, sondern daß es entscheidend darauf abgestellt hat, daß für die umstrittenen Tätigkeiten keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet sind, und daß mit den weiteren Ausführungen über die Versicherungsfreiheit von Studenten nur erklärt werden sollte, aus welchen Gründen die Betriebe wohl von einer Beitragsleistung abgesehen haben. In diesem Zusammenhang trägt die Klägerin auch nicht vor, daß sie in ihrem Schriftsatz vom 31. Januar 1977, den sie während des Berufungsverfahrens an das Sozialgericht (SG) gerichtet hat, weitere Beschäftigungsbetriebe des Verstorbenen benannt habe, die das LSG in seinem Urteil nicht aufgeführt habe, und die deshalb von dessen Feststellung, sämtliche angeschriebenen Firmen und Dienststellen hätten mitgeteilt, daß Rentenversicherungsbeiträge nicht abgeführt worden seien, nicht mitumfaßt seien.

Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung, daß der während des Berufungsverfahrens an das SG gerichtete Schriftsatz der Klägerin vom 31. Januar 1977 dem LSG nicht vorgelegen habe und deshalb im Urteil nicht berücksichtigt worden sei, sind als Geltendmachung eines Verfahrensmangels der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) zu verstehen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs bedeutet, daß das Gericht die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muß (BVerfGE 11, 218). Es kommt dieser Verpflichtung nicht nach, wenn es einen Schriftsatz des Beschwerdeführers offensichtlich bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt hat (BVerfG vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 566/76 - in MDR 1978, 201); auf ein Verschulden des Gerichts kommt es nicht an, wenn dieses einen in zulässiger Weise eingereichten Schriftsatz übersieht (BVerfGE 11, 218 - "in zulässiger Weise" bezog sich dort auf § 272 a ZPO; BVerfGE 34, 344, 347; 40, 105).

In diesem Zusammenhang soll unberücksichtigt bleiben, daß die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG anwesend war und daß laut Sitzungsniederschrift das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten erörtert wurde. Auch braucht nicht näher darauf eingegangen zu werden, ob der Schriftsatz der Klägerin vom 31. Januar 1977 "in zulässiger Weise eingereicht" worden ist, obwohl er von der Klägerin an das SG adressiert und gesandt wurde und dort verblieben ist; dh ob es dem LSG zuzurechnen ist, daß das SG den Schriftsatz, etwa unter Verletzung seiner Amtspflicht, nicht an das LSG weitergeleitet hat - § 151 Abs 2 SGG betrifft nur die Wahrung der Berufungsfrist, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim SG eingelegt wird; das Berufungsverfahren war hier aber schon seit September 1976 beim LSG anhängig -. Ein Verfahrensmangel führt nämlich nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nur dann zur Zulassung der Revision, wenn die angefochtene Entscheidung auf ihm beruhen kann. Daran fehlt es hier. Es besteht kein Anhalt dafür, daß das Urteil des LSG anders, dh im Sinn der Klägerin ausgefallen wäre, wenn das LSG von dem Schriftsatz vom 31. Januar 1977 hätte Kenntnis nehmen können.

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist nach § 138 Nr 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ein Urteil stets als auf Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das rechtliche Gehör versagt wurde; dh wenn festgestellt ist, daß das rechtliche Gehör tatsächlich versagt wurde, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann; das Vorliegen der Versagung des rechtlichen Gehörs genügt also, um die Revision nach § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO zuzulassen (vgl Eyermann/Fröhler, VwGO, 7. Aufl, Rdnr 1 zu § 133 Rdnr 1 zu § 138 VwGO).

Anders ist es im sozialgerichtlichen Verfahren. Das SGG enthält keine dem § 138 Nr 3 VwGO entsprechende Vorschrift. § 551 Zivilprozeßordnung - ZPO -, der gemäß § 202 SGG entsprechend anzuwenden ist (BSGE 4, 281, 287), führt die Versagung des rechtlichen Gehörs nicht unter den Rechtsverstößen auf, bei deren Vorliegen eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist. Die Versagung rechtlichen Gehörs ist auch nicht über § 179 SGG, §§ 579, 580 ZPO ein Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens. In der Literatur wird erwogen, ob § 551 Nr 5 ZPO - wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war - bei völliger Versagung des rechtlichen Gehörs entsprechend anzuwenden ist (Stein/Jonas, ZPO, 19. Aufl, Anm II 5a zu § 551 Nr 5). Henckel, Sanktionen bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, in Zeitschrift für Zivilprozeß, 77. Bd (1964), S 321, 349 bis 352, verneint dies: für eine ausreichende Verfahrenskontrolle bleibe genug Raum, wenn man verlange, daß die Entscheidung auf der Versagung des rechtlichen Gehörs beruhen könne (aaO S 351, 2. Abs). Von einer "völligen Versagung des rechtlichen Gehörs" kann jedoch hier nicht die Rede sein, da die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG anwesend war und das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten erörtert worden ist.

Hier beruht das Urteil des LSG nicht darauf, daß der Schriftsatz der Klägerin vom 31. Januar 1977 dem LSG nicht vorlag. Wie schon dargelegt, ging das LSG materiell-rechtlich davon aus, daß für die Erfüllung der Wartezeit nur Versicherungszeiten, dh Ersatzzeiten (§ 1251 RVO) und Beitragszeiten, angerechnet werden können. Dies bedeutet, negativ gesagt, daß das LSG nicht der Auffassung war, es seien auch Zeiten der Beschäftigung ohne Beitragsleistung anzurechnen, wenn Versicherungspflicht bestanden hätte, der Arbeitgeber aber aus irrigen Gründen Beiträge nicht geleistet habe, - abgesehen von den Fällen, in denen kraft Gesetzes eine Beitragsentrichtung vermutet wird, die aber hier nach dem festgestellten Sachverhalt nicht gegeben sind. Die Auffassung des LSG entspricht im übrigen der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Da das LSG festgestellt hat, daß alle angeschriebenen Firmen und Dienststellen mitgeteilt haben, daß keine Beiträge entrichtet wurden, und die Klägerin in dem Schriftsatz vom 31. Januar 1977 nicht noch weitere Beschäftigungsbetriebe als die schon vom Verwaltungs- und Klageverfahren her bekannten angegeben hat, kam eine weitere Beweiserhebung über die Entrichtung von Beiträgen nicht in Frage. Die Klägerin wußte aufgrund fehlender Versicherungsunterlagen und der vom SG eingeholten Arbeitgeberauskünfte, daß weitere als die nachgewiesenen Beiträge nicht entrichtet sind. Sie hat in dem Schriftsatz vom 31. Januar 1977 auch keine weitere Beitragsleistung behauptet, sondern sich nur auf das Bestehen von Versicherungspflicht berufen.

Nach alledem kann das angefochtene Urteil nicht auf einer Versagung des rechtlichen Gehörs beruhen. Die Beschwerde war somit entsprechend § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662390

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