Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge und Gegenvorstellung
Leitsatz (amtlich)
Auch nach Einführung der Anhörungsrüge ist der außerordentliche Rechtsbehelf der Gegenvorstellung statthaft.
Orientierungssatz
1. Die Änderung eines an sich unanfechtbaren Beschlusses auf Gegenvorstellung hin ist vor allem möglich, wenn die getroffene Entscheidung in offensichtlichem Widerspruch zum Gesetz steht und insbesondere unter Verletzung von Grundrechten ergangen ist, so dass sie sonst nur im Wege der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnte, oder wenn die Entscheidung zu einem groben prozessualen oder sozialen Unrecht führen würde (vgl Senatsbeschluss vom 16.7.2003 - B 13 RJ 106/03 B).
2. Die Gegenvorstellung dient nicht dazu, außerhalb der Begründungsfrist des § 160a Abs 2 S 1 SGG versäumten Vortrag nachzuholen; ergänzender Vortrag kann daher nicht zu einer neuen Sachentscheidung führen (vgl BSG vom 10.3.1998 - B 8 KN 4/98 B = SozR 3-1500 § 160a Nr 24 mwN).
Normenkette
SGG § 178a Abs. 1, 2 S. 1, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
SG Dessau (Entscheidung vom 13.03.2002; Aktenzeichen S 6 (1) RJ 13/01) |
LSG Sachsen-Anhalt (Entscheidung vom 15.02.2005; Aktenzeichen L 3 RJ 102/02) |
Gründe
Mit Beschluss vom 6. Juni 2005 - B 13 RJ 104/05 B - hat der Senat die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (LSG) vom 15. Februar 2005 als unzulässig verworfen und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abgelehnt.
Hiergegen hat die Klägerin am 15. Juli 2005 Gegenvorstellung erhoben mit dem Vortrag, durch die nicht nachvollziehbare Begründung, die formellen Anforderungen hinsichtlich der Darlegung eines Beweisantrags seien nicht erfüllt, sei ihr, der Klägerin, grobes Unrecht zugefügt worden; Gleiches gelte, weil der Senat das tatsächliche Vorbringen hinsichtlich der gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs verkannt habe.
Die von der Klägerin erhobene Gegenvorstellung ist unzulässig.
Zwar ist eine Gegenvorstellung auch nach Einführung der Anhörungsrüge durch Einfügung des § 178a in das Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum 1. Januar 2005 mit Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004 (BGBl I 3220) weiterhin zulässig (vgl Schenke NVwZ 2005, 729 ff, 732, 739; anderer Ansicht offenbar: Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 8. Aufl 2005, RdNr 1 zu § 178a). Denn die Gegenvorstellung verfolgt das Ziel, den Fachgerichten die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Verhalten unter bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Demgegenüber beschränkt sich die Anhörungsrüge des § 178a Abs 1 SGG auf die Fortführung des Verfahrens, wenn ein Rechtsmittel oder ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Eine solche Rüge hat die Klägerin nicht erhoben; sie wäre auch schon deshalb nicht statthaft, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Zwei-Wochen-Frist (vgl § 178a Abs 2 Satz 1 SGG) erhoben worden ist.
Die Änderung eines an sich unanfechtbaren Beschlusses auf Gegenvorstellung hin ist vor allem möglich, wenn die getroffene Entscheidung in offensichtlichem Widerspruch zum Gesetz steht und insbesondere unter Verletzung von Grundrechten ergangen ist, so dass sie sonst nur im Wege der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnte, oder wenn die Entscheidung zu einem groben prozessualen oder sozialen Unrecht führen würde (vgl Senatsbeschluss vom 16. Juli 2003 - B 13 RJ 106/03 B - veröffentlicht bei Juris; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 24 mwN).
Die von der Klägerin vorgebrachten Gründe für die erhobene Gegenvorstellung zeigen keine derartige schwerwiegende Rechtsverletzung auf. Der Senat hat sich in seinem Beschluss vom 6. Juni 2005 an dem verfahrensrechtlichen Erfordernis der "Bezeichnung" (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) des Verfahrensmangels orientiert und in dem Beschluss im Einzelnen dargelegt, dass dem Sachvortrag die Stellung eines prozessordnungsgerechten Beweisantrags bzw dessen Aufrechterhaltung oder Wiederholung im Termin zur mündlichen Verhandlung entnommen werden können muss. Dass zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im Schriftsatz vom 27. Mai 2005 vorgetragen worden sei, ein prozessordnungsgerechter Beweisantrag sei im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 15. Februar 2005 gestellt oder zumindest aufrechterhalten bzw wiederholt worden, wird auch in der Gegenvorstellung nicht behauptet. Die Klägerin bezieht sich vielmehr darauf, dass eine entsprechende Antragstellung im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. Februar 2005 niedergelegt sei und "dass in Folge der Beiziehung der Verfahrensakten deutlich wird, dass der Antrag in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt worden ist". Damit verkennt die Klägerin die Anforderungen, die § 160a Abs 2 Satz 3 SGG an die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde stellt.
Bereits aus der Beschwerdebegründung müssen sich die tatsächlichen Umstände ergeben, aus denen, ihre Richtigkeit unterstellt, der geltend gemachte Verfahrensfehler folgt (stRspr, zB BSG Beschluss vom 29. September 1975, SozR 1500 § 160a Nr 14). Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus den Akten der Vorinstanz zu ermitteln, ob und ggf wann ein in der Beschwerdebegründung nicht näher gekennzeichneter Beweisantrag gestellt worden ist (BSG Beschluss vom 30. April 1997 - 9 BVs 57/96 - veröffentlicht bei Juris, mwN).
Bei einem behaupteten Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) kann die Verfahrensrüge - wie im Senatsbeschluss vom 6. Juni 2005 dargelegt - gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nur zum Erfolg führen, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Daher muss mit der Beschwerdebegründung dargetan werden, dass ein prozessordnungsgerechter Beweisantrag gestellt worden sei, welchen Inhalts dieser Beweisantrag gewesen und dass der Beweisantrag bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung aufrechterhalten worden sei (vgl Senatsbeschluss vom 11. November 1999 - B 13 RJ 173/99 B - veröffentlicht bei Juris, mwN; BSG SGb 2000, 269 mwN). Dies ist nicht geschehen.
Offen lassen kann der Senat, ob der - nachgeholte - Vortrag in der jetzigen Gegenvorstellung den gesetzlichen Anforderungen an die "Bezeichnung" des Verfahrensmangels genügen würde; denn die Gegenvorstellung dient nicht dazu, außerhalb der Begründungsfrist des § 160a Abs 2 Satz 1 SGG versäumten Vortrag nachzuholen; ergänzender Vortrag kann daher nicht zu einer neuen Sachentscheidung führen.
Hinsichtlich der vermeintlichen Verletzung rechtlichen Gehörs durch das LSG hat der Senat im Beschluss vom 6. Juni 2005 anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgezeigt, dass eine Gehörsverletzung immer erst dann erfolgreich gerügt werden kann, wenn der Betroffene aufzeigt, seinerseits alles Erforderliche dafür getan zu haben, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, und dass dies im Falle der - vermeintlich - unzureichenden Sachverhaltsaufklärung regelmäßig durch die Stellung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags geschieht. Fehlt es aber bereits an der Darlegung, dass ein solcher Beweisantrag in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt oder zumindest aufrechterhalten worden sei, kann dieses Versäumnis nicht - schon gar nicht nachträglich - durch die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs "aus der Welt geschafft" werden. Auch hier kann die Gegenvorstellung nicht dazu dienen, durch Nachholung versäumten Sachvortrags die Frist des § 160a Abs 2 Satz 1 SGG wieder zu "eröffnen".
Dieser Beschluss ergeht in entsprechender Anwendung des § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Fundstellen
NJW 2006, 860 |
AnwBl 2006, 18 |
NZS 2006, 276 |
SozR 4-1500 § 178a, Nr. 3 |