Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Gebot des fairen Verfahrens -Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses. Heraufbeschwören einer Anschlussberufung. ausreichende Schilderung der prozessualen Situation. Sach- statt Prozessurteil. Unterscheidung zwischen Verstoß gegen Verfahrensnorm und falscher Auslegung einer verfahrensrechtlichen Vorschrift. sozialgerichtliches Verfahren. Zulässigkeit einer unselbstständigen Anschlussberufung durch Sachantrag in der mündlichen Verhandlung. Voraussetzung einer Berufungsanschlussschrift. Gehörsverstoß. Gehörsverschaffung. möglicher Antrag auf Unterbrechung oder Vertagung nach Stellung der Sachanträge. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Für die Prüfung, ob das LSG die Grenzen des im Rahmen der Verpflichtung zur Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses Statthaften überschritten hat (hier durch mögliches Heraufbeschwören einer Anschlussberufung), ist eine ausreichende Schilderung der prozessualen Situation erforderlich.
2. Eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen eines Verfahrensmangels nach §§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann nur auf den Verstoß gegen eine Verfahrensnorm, die den Weg zur Entscheidung betrifft (error in procedendo), nicht hingegen auf die "falsche" Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften, die den Inhalt der angefochtenen Entscheidung selbst bilden (error in iudicando), gestützt werden (stRspr, vgl zB BSG vom 14.6.2022 - B 8 SO 78/21 B und vom 2.10.2020 - B 9 SB 10/20 B).
3. Eine mögliche fehlerhafte Rechtsanwendung des Gerichts im Hinblick auf die Frage, ob durch einen Sachantrag während der mündlichen Verhandlung zulässigerweise eine unselbstständige Anschlussberufung erhoben werden kann, stellt deshalb keinen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG dar.
4. Wird eine Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so muss auch dargetan werden, dass der Beteiligte seinerseits vor dem LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich selbst rechtliches Gehör zu verschaffen (stRspr, zB BSG vom 23.2.2022 - B 9 V 35/21 B). Hierzu gehört es, ggf auch noch nach Stellung der Sachanträge eine Unterbrechung oder Vertagung der Verhandlung zu beantragen, um noch Gelegenheit zur Stellungnahme zu erhalten (hier: zu neuen Sachanträgen).
Normenkette
SGG § 112 Abs. 2 S. 2, §§ 62, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; ZPO § 524 Abs. 1 S. 2; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-sozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit über die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Infektionsschutzgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz.
Nach einer Verletzung wurde die Klägerin mit dem Kombinationsimpfstoff "Boostrix" geimpft. Auf ihren Antrag erkannte der Beklagte als Folge einer Impfschädigung eine 7 x 6 cm große, leicht verhärtete, druckdolente Fläche an. Die Gewährung einer Rente wurde abgelehnt, weil der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nur 10 betrage. Nach erfolglosem Widerspruch und Klage hat das SG den Beklagten verpflichtet, als weitere Folge des Impfschadens eine Reizsymptomatik von Hautästen des nervus radialis links anzuerkennen und die Klage im Übrigen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.12.2020). Mit ihrer Berufung hat die Klägerin weitere Schädigungsfolgen und eine Beschädigtengrundrente nach einem GdS von mindestens 50 geltend gemacht. Während der mündlichen Verhandlung hierüber hat das LSG auf Zweifel am Vorliegen eines Impfschadens hingewiesen. Daraufhin hat der Beklagte Anschlussberufung eingelegt. Das LSG hat auf die Anschlussberufung des Beklagten den Gerichtsbescheid des SG teilweise aufgehoben und die Klage vollumfänglich abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat es zurückgewiesen (Urteil vom 28.4.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und mit Verfahrensmängeln begründet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat die von ihr allein geltend gemachten Verfahrensmängel (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der danach vorgeschriebenen Weise bezeichnet.
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht (vgl zB BSG Beschluss vom 10.6.2021 - B 9 V 56/20 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16, jeweils mwN). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
a) Soweit die Klägerin geltend macht, die Berufung des Beklagten sei bereits unzulässig gewesen, weil die Berufungsfrist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LSG längst verstrichen gewesen und eine Anschlussberufung im sozialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehen sei, kann dieser Vortrag der Beschwerde von vornherein nicht zum Erfolg verhelfen. Dies gilt gleichermaßen für ihre Rüge, dass bei unterstellter Zulässigkeit einer unselbständigen Anschlussberufung diese gemäß § 524 Abs 1 Satz 2 ZPO jedenfalls durch Einreichung einer Berufungsanschlussschrift und nicht nur "indirekt" durch Formulierung des Sachantrags hätte eingelegt werden müssen. Denn damit rügt sie der Sache nach nur einen Rechtsanwendungsfehler des LSG, welches die Anschlussberufung des Beklagten - vermeintlich zu Unrecht - als zulässig angesehen hat. Eine Nichtzulassungsbeschwerde wegen eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann jedoch nur auf den Verstoß gegen eine Verfahrensnorm, die den Weg zur Entscheidung betrifft (error in procedendo), nicht hingegen auf die "falsche" Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften, die den Inhalt der angefochtenen Entscheidung selbst bilden (error in iudicando) gestützt werden (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 14.6.2022 - B 8 SO 78/21 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 2.10.2020 - B 9 SB 10/20 B - juris RdNr 18).
b) Darüber hinaus genügt die Beschwerdebegründung nicht den Anforderungen aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, soweit die Klägerin einen Verfahrensmangel darin sieht, dass ihr keine Gelegenheit gegeben worden sei, auf die Anschlussberufung des Beklagten zu reagieren. Hierzu habe das LSG die Verhandlung unterbrechen oder vertagen und ihrem Prozessbevollmächtigten Gelegenheit zur Stellungnahme/Berufungserwiderung einräumen müssen. Damit rügt die Klägerin neben einem Verstoß des LSG gegen das Gebot des fairen Verfahrens (Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK) sinngemäß auch eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Wird aber - wie hier - sinngemäß eine Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so muss auch dargetan werden, dass der Beteiligte seinerseits vor dem LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich selbst rechtliches Gehör zu verschaffen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 23.2.2022 - B 9 V 35/21 B - juris RdNr 17; BSG Urteil vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 36-37). Auch eine Verletzung des vom Recht auf ein faires Verfahren ua umfassten Gebots der Rücksichtnahme auf die Beteiligten in der konkreten Prozesssituation (vgl BSG Beschluss vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 4/20 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 23 RdNr 15 mwN) käme nur dann in Betracht, wenn die anwaltlich vertretene Klägerin vor dem LSG keine Möglichkeit gehabt hätte, auf eine Gelegenheit zur Stellungnahme hinzuwirken (vgl BSG Beschluss vom 23.2.2022 - B 9 V 35/21 B - juris RdNr 20). An Ausführungen hierzu mangelt es jedoch. Insbesondere wird nicht erkennbar, dass die Klägerin ihrerseits die Unterbrechung oder Vertagung der Verhandlung beantragt hätte. Die Gelegenheit hierzu - wie auch zu einer in der Beschwerdebegründung angesprochenen Berufungsrücknahme - hätte jedenfalls noch im Rahmen der Antragsaufnahme durch das LSG bestanden. Diese erfolgte der Beschwerdebegründung zufolge erst, nachdem die Beklagtenvertreterin erklärt hatte, sie lege Anschlussberufung ein.
c) Ob die Klägerin mit der Formulierung, dass "durch Erteilung des Hinweises, dass (überhaupt) kein Impfschaden vorliegen könnte eine Anschlussberufung des Beklagten provoziert wurde", ebenfalls einen Verstoß des LSG gegen das Gebot des fairen Verfahrens (Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK) rügen möchte, wird bereits nicht hinreichend deutlich. Jedenfalls fehlt es aber an einer ausreichenden Schilderung der prozessualen Situation, die dem Senat eine Prüfung ermöglichen würde, ob das LSG damit die Grenzen des im Rahmen der Verpflichtung zur Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses (§ 112 Abs 2 Satz 2 SGG) Statthaften überschritten hat.
Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 28.10.2020 - B 10 EG 1/20 BH - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).
d) Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Kaltenstein Othmer Ch. Mecke
Fundstellen
Dokument-Index HI15581810 |