Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Anforderungen an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde, wenn Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts berührt sind und das LSG von einer Vorlage an den EuGH abgesehen hat

 

Orientierungssatz

1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich noch nicht daraus, daß das BSG bislang nicht entschieden hat, ob ein Beamter auf Widerruf im Vorbereitungsdienst eine Beschäftigungszeit iS des Art 67 EWGV 1408/71 zurücklegt.

2. Rechtsmittel iS des Art 177 Abs 3 EWGVtr ist neben der Revision jedenfalls hinsichtlich revisiblen Rechts, zu dem das Gemeinschaftsrecht gehört (vgl BSG vom 13.11.1980 - 7 RAr 44/78 = SozR 6050 Art 69 Nr 4), auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 160 Abs 2 SGG (vgl BVerwG vom 20.3.1986 - 3 B 3.86 und vom 22.7.1986 - 3 B 104.85 = Buchholz 451.90 EWG-Recht Nrn 59 und 64 zur Nichtzulassungsbeschwerde nach § 132 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung aF); auch Zweifelsfragen des Gemeinschaftsrechts begründen die die Zulassung der Revision rechtfertigende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage über den Einzelfall hinaus einer Klärung bedürftig und fähig ist.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3; EWGV 1408/71 Art. 67; EWGV 574/72 Art. 80 Abs. 1; EWGVtr Art. 177 Abs. 1, 3

 

Tatbestand

Der Kläger durchlief vom 1. Januar 1984 bis 31. Dezember 1986 den juristischen Vorbereitungsdienst; er war in dieser Zeit als Referendar Beamter auf Widerruf des Landes Nordrhein-Westfalen. Am 31. Dezember 1986 beantragte er bei dem für seinen Wohnsitz zuständigen niederländischen Versicherungsträger unter Berufung auf die Beamtenzeit und die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, vom 14. Juni 1971 (ABl Nr L 74/1 vom 27. März 1971) - EWGV 1408/71 - Arbeitslosenunterstützung und beim Arbeitsamt Köln eine Bescheinigung nach Vordruck E 301, wie sie Art 80 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 über die Durchführung der EWGV 1408/71 vom 21. März 1972 (ABl Nr L 230 vom 8. April 1972) - EWGV 574/72 - zur Durchführung des Art 67 EWGV 1408/71 vorsieht. Der niederländische Versicherungsträger lehnte den Antrag ab. Die Klage hatte keinen Erfolg. Über die beim Centrale Raad van Beroep in Utrecht anhängige Berufung ist nach den Angaben des Klägers noch nicht entschieden. Das Arbeitsamt lehnte ab, die Bescheinigung auszustellen, weil der Kläger weder Beitragszeiten noch diesen gleichgestellte Zeiten in der Arbeitslosenversicherung zurückgelegt habe. Klage und die - vom Sozialgericht zugelassene - Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Die auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) oder Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Der Kläger hat keinen der genannten Zulassungsgründe dargetan.

Wird die Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe, muß in der Begründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muß daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, daß diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und daß das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten läßt. Diesen Anforderungen ist hier nicht entsprochen worden.

Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich noch nicht daraus, daß das Bundessozialgericht bislang nicht entschieden hat, ob ein Beamter auf Widerruf im Vorbereitungsdienst eine Beschäftigungszeit iS des Art 67 EWGV 1408/71 zurücklegt, wie der Kläger geltend macht. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich nicht, daß im Revisionsverfahren hierüber zu entscheiden ist. Gegenstand des Rechtsstreits, über den die deutschen Sozialgerichte zu entscheiden haben, ist nicht, ob dem Kläger ein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung gegen den niederländischen Versicherungsträger zusteht, was allerdings von der Anwendung des Art 67 EWGV 1408/71 abhängen dürfte, sondern ob die Beklagte eine Bescheinigung auszustellen hat, in der die in der Bundesrepublik Deutschland als Beamter auf Widerruf zurückgelegten Zeiten als Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten aufzuführen sind. Das richtet sich unmittelbar nicht nach Art 67 EWGV 1408/71, sondern nach Art 80 EWGV 574/72 und setzt nach dem Wortlaut des Art 80 Abs 1 EWGV 574/72 voraus, daß die Beamtenzeiten Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten waren, die der Kläger nach den Rechtsvorschriften, die vorher zuletzt für ihn galten (dh den deutschen), als Arbeitnehmer zurückgelegt hat. Daß die Bejahung oder Verneinung dieser Voraussetzungen im Falle des Klägers die Klärung fordert, ob ein Beamter im Vorbereitungsdienst eine Beschäftigungszeit iS des Art 67 EWGV 1408/71 zurücklegt, hat der Kläger nicht dargetan. Dagegen spricht schon, daß für die Anwendung der EWGV 574/72 die in Art 1 der EWGV 1408/71 festgelegten Begriffsbestimmungen gelten (Art 1 EWGV 574/72). Dort sind aber sowohl der Begriff des Arbeitnehmers, der Versicherungszeiten und der Beschäftigungszeiten bestimmt. Es ist im übrigen auch nicht dargetan, daß die vom Kläger genannte Frage einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf, weil bei Zugrundelegung des Wortlauts der anzuwendenden Vorschriften, der dazu ergangenen Rechtsprechung und des Schrifttums ihre Antwort zweifelhaft sei. Dem Vorbringen des Klägers könnte nämlich im Gegenteil entnommen werden, daß angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), insbesondere dessen Beschlusses vom 12. Mai 1989 - RS 388/87 - EuGHE 1989, 1203 kein Zweifel bestehe, daß die aufgeworfene Frage zu seinen Gunsten zu bejahen sei.

Ebensowenig ist die Grundsätzlichkeit der Rechtssache wegen der Frage dargetan, ob und inwieweit der bei Arbeitslosigkeit zuständige Träger des Mitgliedsstaates, dessen Rechtsvorschriften vorher zuletzt für den Wanderarbeitnehmer gegolten haben, mit der Bescheinigung nach dem Vordruck E 301 oder ihrer Nichterteilung verbindlich für den zuständigen Träger des anderen Mitgliedsstaats entscheidet, ob eine in seinem Bereich zurückgelegte Zeit von Art 67 EWGV 1408/71 erfaßt wird. Ungeachtet ob dies nach den anwendbaren Rechtsvorschriften überhaupt zweifelhaft sein kann - auch dies hat der Kläger nicht aufgezeigt -, fehlen Darlegungen, weshalb in dem vom Kläger angestrebten Revisionsverfahren Anlaß bestehen könnte, diese Frage zu klären, in dem es nur darum geht, ob und wenn ja, mit welchem Inhalt eine Bescheinigung nach Vordruck E 301 zu erteilen ist. Die vom Kläger aufgeworfene Frage mag sich in dem beim Raad van Beroep in Utrecht anhängigen Verfahren stellen, in dem der Kläger Arbeitslosenunterstützung gegen den niederländischen Versicherungsträger einklagt. Weshalb sie indessen auch in dem vom Kläger angestrebten Revisionsverfahren geklärt werden müßte oder nur könnte, ist weder ersichtlich noch dargetan.

Schließlich ist auch ein Verfahrensmangel, auf dem das Urteil des LSG beruhen könnte, nicht bezeichnet, dh nicht in den den Mangel vermeintlich begründenden Tatsachen substantiiert dargetan worden. Der Kläger sieht den Mangel darin, daß das Berufungsgericht die Sache nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Nach Art 177 Abs 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 (BGBl II 766) - EWGVtr - entscheidet dieser im Wege der Vorabentscheidung ua über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft, dh auch des von dieser erlassenen Gemeinschaftsrechts. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedsstaates gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen (Art 177 Abs 2 EWGVtr). Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des EuGH verpflichtet (Art 177 Abs 3 EWGVtr). Aus diesen Vorschriften ergibt sich zweifelsfrei, daß ein nationales Gericht, dessen Entscheidung noch mit einem Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, zur Anrufung des EuGH nicht verpflichtet ist. Urteile der Landessozialgerichte sind mit dem Rechtsmittel der Revision anfechtbar, wenn die Revision zugelassen worden ist (§ 160 Abs 1 SGG). Insoweit stellt es also keinen Verfahrensverstoß gegen eine zwingende Vorschrift dar, wenn ein LSG von einer Vorlage absieht. Damit entfällt auch eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz, die nur bei Mißachtung der Vorlagepflicht in Betracht kommt (vgl BVerfG NJW 1988, 1456). Daß das LSG im vorliegenden Falle die Revision nicht zugelassen hat, macht insoweit keinen Unterschied. Rechtsmittel iS des Art 177 Abs 3 EWGVtr ist neben der Revision jedenfalls hinsichtlich revisiblen Rechts, zu dem das Gemeinschaftsrecht gehört (BSG SozR 6050 Art 69 Nr 4), auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 160 Abs 2 SGG (vgl BVerwG Buchholz 451.90 EWG-Recht Nrn 59 und 64 zur Nichtzulassungsbeschwerde nach § 132 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung aF); auch Zweifelsfragen des Gemeinschaftsrechts begründen die die Zulassung der Revision rechtfertigende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage über den Einzelfall hinaus einer Klärung bedürftig und fähig ist. Infolgedessen war das LSG nicht zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet. Es konnte lediglich gemäß Art 177 Abs 2 EWGVtr den EuGH anrufen, wenn es dessen Vorabentscheidung für erforderlich hielt. Die Vorlage stand damit im pflichtgemäßen Verfahrensermessen des LSG. Daß das LSG dieses Ermessen in unvertretbarer Weise ausgeübt hat, indem es von der Vorlage abgesehen hat, ist nicht dargetan. Welche Zweifelsfragen des Gemeinschaftsrechts sich dem LSG nach seiner Rechtsauffassung aufdrängen und zur Vorlage veranlassen mußten, ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.

Entspricht die Beschwerdebegründung hiernach nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, muß die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649817

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