Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. März 2023 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1.10.2018 bis zum 30.6.2020 streitig.

Der 1971 geborene Kläger ist mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90 und anerkanntem Merkzeichen G schwerbehindert und bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Vom Beklagten erhält er laufend ergänzende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Nachdem der Beklagte mit Bescheid vom 5.6.2018 dem Kläger für die Zeit vom 1.7.2018 bis 30.6.2019 Leistungen bewilligt hatte, änderte der Beklagte mit Bescheid vom 19.3.2019 die Leistungsbewilligung für die Zeit von Oktober bis Dezember 2018 unter Anrechnung von erzieltem Einkommen ab und setzte für die Zeit ab Februar 2019 ein fiktives Einkommen von 60 Euro bzw ab März 2019 von monatlich 120 Euro an. Auf den Widerspruch des Klägers änderte der Beklagte die Höhe der Leistungen für den Zeitraum vom 1.10.2018 bis 30.6.2019 erneut ab(Bescheid vom 11.7.2019) und berücksichtigte zusätzliche Ausgaben für Versicherung und Arbeitsmittel, die vom angerechneten Einkommen abgesetzt wurden. Hiergegen legte der Kläger erneut Widerspruch ein. Mit einem weiteren Änderungsbescheid(vom 5.2.2020) erhöhte der Beklagte die Leistung der Grundsicherung für die Zeit vom 1.1.2020 bis 30.6.2020. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.5.2020 half die Regierung von Niederbayern dem Widerspruch des Klägers gegen den Änderungsbescheid vom 11.7.2019 insofern ab als ihm für Oktober bis Dezember 2018 und Januar bis April 2019 höhere Leistungen aufgrund der Anerkennung höherer Erwerbstätigenfreibeträge zugesprochen wurden.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Landshut mit Urteil vom 22.10.2020 unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 19.3.2019 in der Fassung der Bescheide vom 11.7.2019 und 5.2.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.5.2020 den Beklagten verurteilt, dem Kläger höhere Leistungen in unterschiedlicher Höhe für die Monate Oktober 2018, Januar 2019, Oktober 2019 und Januar 2020 zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen(Beschluss vom 9.3.2023) . Die Berufung sei unzulässig und daher nach § 158 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu verwerfen, weil weder der Wert des Beschwerdegegenstands 750 Euro übersteige, noch die Berufung wiederkehrende und laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betreffe. Wiederkehrenden und laufenden Leistungen seien die Wiederholung, die Gleichartigkeit und der Ursprung im selben Rechtsverhältnis gemeinsam. Leistungen beruhten auf demselben Rechtsverhältnis, wenn ihnen derselbe Leistungsfall zugrunde liege, auf den die Einzelansprüche zurückgeführt werden. Lediglich ein natürlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang oder dasselbe Sozialrechtsverhältnis reichten hierfür nicht aus. Ansprüche auf Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII aus verschiedenen Bewilligungszeiträumen blieben selbst bei Verbindungen oder objektiver Klagehäufung jeweils rechtlich selbstständig und hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzung voneinander unabhängig.§ 44 SGB XII schaffe eine zeitliche Zäsur, die den jeweiligen Streitgegenstand umschreibe und in zeitlicher Hinsicht begrenze. Bei mehreren Streitgegenständen sei eine Addition verschiedener Bezugszeiträume unzulässig. Nichts anderes könne gelten, wenn der Beklagte wie hier eine Änderung für einen zurückliegenden Bewilligungszeitraum und die Bewilligung für einen künftigen Zeitraum in einem Bescheid zusammenfasse. Hierbei handele es sich dann um eine Klagehäufung.

II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss des LSG ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet(§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) . Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG hat zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel(Revisionszulassungsgrund des§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) , denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung(stRspr, vgl nurBSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - RdNr 5 -6;BSG vom 5.6.2014 - B 4 AS 349/13 B - RdNr 9 ;BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - RdNr 5 jeweils mwN) .

Nach § 144 Abs 1 Satz 2 SGG bedarf es keiner Zulassung als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der Wert des Beschwerdegegenstands aber 750 Euro nicht übersteigt, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Ein solcher Fall liegt vor. § 86 Halbsatz 1 SGG bestimmt, dass ein während des Vorverfahrens den Ausgangsverwaltungsakt abändernder Bescheid Gegenstand des Vorverfahrens wird. Im vorliegenden Fall wurde damit der gesamte Zeitraum, den der Bescheid vom 19.3.2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 11.7.2019 und 5.2.2020 regelt, nämlich vom 1.10.2018 bis 30.6.2019 sowie vom 1.1.2020 bis zum 30.6.2020 Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids behält die Verwaltung das Verfahren in der Hand und darf bzw muss auf entsprechenden Widerspruch alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ergangenen Bewilligungen überprüfen(BSG vom 9.12.2016 - B 8 SO 14/15 R - RdNr 11 ;BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - RdNr 10 ) . Bereits mit Widerspruchsbescheid vom 26.5.2020 ist also über einen zusammenhängenden, laufenden Zeitraum von mehr als einem Jahr entschieden worden. Die Situation ist insoweit anders als im Fall des Erlasses eines Bescheids für Folgezeiträume erst während des laufenden Gerichtsverfahrens. Mit der Änderung des § 96 SGG zum 1.4.2008(Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes ≪SGG/ArbGGÄndG≫ vom 26.3.2008 ≪BGBl I 444≫) ist zudem dessen Anwendungsbereich - und damit das Verbot einer analogen Anwendung für nicht abändernde bzw nicht ersetzende Bescheide - ausdrücklich nur auf die Zeit nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstreckt worden(dazu BR-Drucks 820/07 S 23) ; hingegen kommt weder in der Neuregelung des § 96 SGG noch in den Materialien dazu zum Ausdruck, dass das von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Verständnis des unverändert gebliebenen § 86 SGG ebenfalls korrigiert werden sollte(BSG vom 9.12.2016 - B 8 SO 14/15 R - RdNr 11 ;BSG vom 28.8.2018 - B 8 SO 31/16 R - SozR 4-1500 § 86 Nr 4 RdNr 14) .

Dem steht die Rechtsprechung, wonach im Fall eines Überprüfungsverfahrens, in welchem über mehrere Bewilligungsabschnitte entschieden wird, die Zeiträume nicht zusammengerechnet werden dürfen, nicht entgegen(BSG vom 30.6.2021 - B 4 AS 70/20 R - BSGE 132, 255 = SozR 4-1500 § 144 Nr 11, RdNr 21 ff; s bereitsBSG vom 22.7.2010 - B 4 AS 77/10 B ; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 144 RdNr 24) . Unabhängig davon, ob der Senat dieser Rechtsprechung folgt, handelt es sich - wie hier - nicht um einen Fall des§ 86 SGG , wenn sich der Widerspruch von vornherein gegen eine ablehnende Entscheidung im Zugunstenverfahren nach§ 44 SGB X richtet, die mehrere Zeiträume betrifft.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten zu entscheiden haben.

Krauß 

Stäbler

Bieresborn

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16373327

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