Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Entscheidung über eine zulässige Berufung durch Beschluss. rechtliches Gehör. Anhörung. Änderung der Prozesssituation. erneute Anhörung. Entbehrlichkeit. unterlassene Berufungsbegründung. Missachtung richterlicher Fristen. Rechtliches Gehör. Erneute Anhörung. Unterlassene Berufungsbegründung. Privatärztliche Immuntherapie. Behandlung eines Tumorleidens
Leitsatz (amtlich)
1. Will ein Gericht durch Beschluss über eine zulässige Berufung entscheiden, muss es die Beteiligten nach ordnungsgemäßer Anhörung nur dann erneut anhören, wenn sich die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert.
2. Einer erneuten Anhörung der Beteiligten vor einer Gerichtsentscheidung über eine zulässige Berufung durch Beschluss bedarf es nicht, wenn der Berufungsführer die Begründung seines Rechtsmittels entgegen eigener Ankündigung und unter Missachtung richterlich gesetzter Fristen unterlässt.
Leitsatz (redaktionell)
Wird als Revisionsbegründung die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt, so ist substantiiert darzulegen, dass derjenige, der die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend macht, alles ihm Zumutbare getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4 Sätze 1-2, § 62; GG Art. 103 Abs. 1; MRK Art. 6 Abs. 1; SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 153 Abs. 4, §§ 109, 128 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 22.12.2011; Aktenzeichen L 4 KR 246/11) |
SG Stade (Entscheidung vom 31.01.2011; Aktenzeichen S 1 KR 141/05) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 22. Dezember 2011 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren, 14 660,63 Euro Kosten einer privatärztlichen Immuntherapie von Dr K. für die Behandlung eines Tumorleidens erstattet zu erhalten, bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, die Vorinstanz habe umfassend und zutreffend begründet, dass teilweise schon mangels Beachtung des Beschaffungswegs und im Übrigen mangels Naturalleistungsanspruchs kein Kostenerstattungsanspruch bestehe. Die verwendete Methode habe der Gemeinsame Bundesausschuss entweder ausgeschlossen (ATC-Methode) oder als neue Methode nicht positiv zugelassen. Sie sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch nicht wirksam, wohingegen schulmedizinische Behandlungen zur Verfügung gestanden hätten. Der Kläger habe seine Berufung trotz mehrfacher Erinnerung und Fristsetzung nicht begründet und sich auch nach Ablauf der von Dr K. erbetenen Stellungnahmefrist nicht zum Verfahren gemeldet (Beschluss vom 22.12.2011).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.
II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36). Daran fehlt es.
1. Der Kläger beruft sich - ohne eine Rechtsnorm zu benennen - auf eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention, § 62 SGG), legt dies aber nicht schlüssig dar. Er trägt lediglich vor, das LSG habe ihm unter Fristsetzung zum 24.10.2011 Gelegenheit gegeben, zu einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss Stellung zu nehmen. Das LSG habe seinem Prozessbevollmächtigten - nach Fristablauf - mit Schreiben vom 26.10.2011 ein auf den 24.10.2011 datiertes, am 23.10.2011 beim LSG eingegangenes Schreiben von Dr K. zugeleitet, in dem dieser angekündigt habe, innerhalb von sechs Wochen zur Begründetheit der Berufung vorzutragen. Am 15.12.2011, mehr als eine Woche nach fruchtlosem Verstreichen der bezeichneten sechs Wochen, habe Dr K. den Prozessbevollmächtigten des Klägers informiert, bis "Ende nächster Woche" sei mit der Fertigstellung einer ausführlichen medizinischen Stellungnahme zu rechnen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe unter dem 15.12.2011 daraufhin das Schreiben von Dr K. vom 15.12.2011 dem LSG übersandt und ihm den Zugang der angekündigten ausführlichen Stellungnahme bis zum 23.12.2011 in Aussicht gestellt. Es habe aber am 22.12.2011 entschieden.
Der Kläger legt indessen nicht dar, dass das Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 15.12.2011 dem LSG überhaupt zugegangen ist. Dessen hätte es aber bedurft. Voraussetzung für den Erfolg einer Rüge eines Gehörsverstoßes ist es nämlich ua, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles ihm Zumutbare getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl zB BSG Beschluss vom 5.10.1998 - B 13 RJ 285/97 B - juris RdNr 22; BSG Beschluss vom 1.6.2011 - B 4 AS 82/11 B - juris RdNr 14). Diese Grundsätze gelten auch bei Anwendung des hier einschlägigen § 153 Abs 4 S 2 SGG.
Gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach S 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs. Es darf bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5). Ist - wie vorliegend - eine korrekte erste Anhörung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG erfolgt, wird eine erneute Anhörung lediglich dann erforderlich, wenn sich die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; BSG Beschluss vom 25.5.2011 - B 12 KR 81/10 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 12.12.2011 - B 7 AL 29/11 BH - juris RdNr 7 mwN).
Kündigt ein Rechtsmittelführer zunächst die Begründung seines Rechtsmittels an, ohne anschließend trotz richterlich gesetzter Fristen und zutreffender Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG sein Rechtsmittel tatsächlich zu begründen, und lässt er anschließend eine selbst dem Gericht angekündigte weitere Frist zur Begründung des Rechtsmittels ungenutzt verstreichen, muss er damit rechnen, dass das Gericht nicht von einer entscheidungserheblichen Änderung der Prozesssituation ausgeht und ohne erneute Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 S 1 SGG entscheidet. Will er dennoch ein Zuwarten des Gerichts für weiteres Vorbringen erreichen, muss er zumindest sicherstellen, dass dieser Wunsch dem Gericht zugeht.
Stützt das Rechtsmittelgericht nach korrekter Anhörungsmitteilung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG und weiterem Zeitablauf seine Entscheidung nach § 153 Abs 4 S 1 SGG ua auch darauf, dass nach Ablauf einer vom Kläger selbst angekündigten Begründungsfrist trotz weiteren Zuwartens des Gerichts keine Äußerungen des Rechtsmittelführers bei ihm eingegangen sind, ist für die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zumindest darzulegen, dass dem Rechtsmittelgericht die Bitte des Rechtsmittelführers zugegangen ist, mit seiner angekündigten Entscheidung bis zum Zugang der Begründung des Rechtsmittels zu warten. Daran fehlt es.
Im Übrigen legt der Kläger auch nicht dar, dass er nach Eingang der angeblichen Stellungnahme von Dr K. bei seinem Prozessbevollmächtigten am 24.12.2011 diese unverzüglich dem LSG übermittelt hat. Auch insoweit fehlt es an einem Vorbringen, dass der Kläger alles Zumutbare getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
2. Der Kläger bezeichnet mit seinem Vorbringen auch keine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes in der gebotenen Weise. Er bezieht sich entgegen den dargelegten gesetzlichen Voraussetzungen nicht auf einen Beweisantrag, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 2012, 10 |
Breith. 2012, 1078 |