Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Einholung einer berufskundlichen Stellungnahme. Verweisungstätigkeit. Verfahrensmangel
Orientierungssatz
1. Bei einer Entscheidung über einen Beweisantrag, ob aktuell genügend Arbeitsplätze in dem Bereich des aufgezeigten Verweisungsberufs bestehen, muss geprüft werden, ob die bereits vorliegenden Erkenntnisse (hier aufgrund der Angaben des Sachverständigen vom Mai 2000 mit ergänzender Stellungnahme vom Juni 2000) auch in zeitlicher Hinsicht auf den zu entscheidenden Fall (hier Januar 2006) anwendbar sind.
2. Hinsichtlich der Verweisungstätigkeit können auch Gutachten aus anderen Verfahren beigezogen werden. Prozessrechtlich sind sie dann aber keine Gutachten, weil sie nicht im Verfahren des Klägers eingeholt worden sind und können allenfalls im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden.
Normenkette
SGB 6 § 43; SGB 6 § 240; SGG §§ 103, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat mit Urteil vom 31. Januar 2006 einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Der Kläger sei - unter Beachtung von qualitativen Leistungseinschränkungen - noch in der Lage, vollschichtig zumindest leichte Tätigkeiten zu verrichten. Er sei auch nicht berufsunfähig iS der maßgeblichen Übergangsvorschrift. Zwar könne der Kläger, der als Facharbeiter einzustufen sei, seinen bisherigen Beruf als Gas- und Wasserinstallateur bzw Klempner nicht mehr ausüben. Ihm sei jedoch die Tätigkeit eines Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf sowohl sozial als auch fachlich und gesundheitlich zumutbar. Insoweit stütze sich der Senat auf das im erstinstanzlichen Verfahren aus einem anderen Verfahren eingeführte Gutachten des Dipl. Ing. P. vom 15. Mai 2000. Den Beweisanträgen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung habe nicht entsprochen werden müssen. Hinsichtlich der benannten Verweisungstätigkeit im Heizungs- und Sanitärverkauf sei eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht notwendig, denn aufgrund der Angaben des Dipl. Ing. P. sei geklärt, dass es in diesem Bereich in nennenswertem Umfang Bürotätigkeiten gebe. Anhaltspunkte dafür, dass es seit den Angaben des Sachverständigen bundesweit zu einer erheblichen Verminderung von Büroarbeitsplätzen in diesem Bereich gekommen sei, lägen nicht vor und seien auch vom Kläger nicht geltend gemacht worden.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil des LSG rügt der Kläger ua als Verfahrensfehler einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht. Das Berufungsgericht sei ohne hinreichende Begründung dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht gefolgt, "eine Auskunft des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg darüber einzuholen, dass hinsichtlich der Tätigkeit eines Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf keine Arbeitsplätze angeboten werden, die auf überwiegend Schreibtischarbeit beschränkt sind, sondern dass es sich bei der Schreibtischarbeit nur um einen kleinen Ausschnitt der abgeforderten Tätigkeit handelt". In dem Rechtsstreit, in dem der Dipl. Ing. P. seine gutachtliche Stellungnahme erstellt habe, sei es nicht darauf angekommen, welchen prozentualen Anteil an der Tätigkeit des Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf die Schreibtischtätigkeit ausgemacht habe und ob diese Sachbearbeitertätigkeit als überwiegende Schreibtischarbeit angeboten werde. Die Ablehnung des Beweisantrags durch das LSG gründe auf der unzulässigen Annahme, eine aktuelle Auskunft zum Arbeitsplatzprofil eines Sachbearbeiters für Heizungs- und Sanitärverkauf würde 2006 gleich lauten wie die des Dipl. Ing. P. im Jahre 2000.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt vor.
Der Kläger hat die Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG ist einem vom Kläger in der mündlichen Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag zu Unrecht nicht gefolgt. Der Kläger hat beantragt, eine Auskunft des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit darüber einzuholen, dass hinsichtlich der Tätigkeit eines Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf keine Arbeitsplätze angeboten würden, die auf überwiegend Schreibtischarbeit beschränkt seien. Hierbei handelte es sich um einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag, der Beweisgegenstand bzw Beweisthema ausreichend bezeichnet hat.
Das LSG ist dem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen aufzuklären, ob aktuell genügend Arbeitsplätze in dem Bereich des aufgezeigten Verweisungsberufs bestehen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) darf es sich bei einem benannten Verweisungsberuf nicht um einen sog Seltenheitsfall handeln, dh der Verweisungsberuf muss in nennenswerter Zahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sein (vgl zB BSGE 78, 207 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 26).
Das LSG durfte den Beweisantrag des Klägers nicht mit der Begründung übergehen, aufgrund der Angaben des Dipl. Ing. P. sei geklärt, dass es in diesem Bereich in nennenswertem Umfang Büroarbeitsplätze gebe; Anhaltspunkte dafür, dass es seit den Angaben des Sachverständigen bundesweit zu einer erheblichen Verminderung von Büroarbeitsplätzen in diesem Bereich gekommen sei, lägen nicht vor und seien vom Kläger auch nicht geltend gemacht worden.
Bei einer Entscheidung über einen Beweisantrag wie den genannten muss geprüft werden, ob die bereits vorliegenden Erkenntnisse (hier aufgrund der Angaben von Dipl. Ing. P. vom Mai 2000 mit ergänzender Stellungnahme vom Juni 2000) auch in zeitlicher Hinsicht auf den zu entscheidenden Fall (hier Januar 2006) anwendbar sind. Zwar begründet Zeitablauf als solcher allein nicht ohne weiteres die Notwendigkeit, ein neues Gutachten einzuholen (vgl zB zu medizinischen Gutachten BSG Urteil vom 9. April 2003 - B 5 RJ 34/02 R -, mwN, veröffentlicht bei Juris). Wie aber zB auch allgemeine Erfahrungssätze über die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in regelmäßigen Zeitabständen und ggf bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen daraufhin geprüft werden müssen, ob sie neuen Erkenntnissen anzupassen sind (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 23), so durfte das LSG mit der allgemeinen Formel, dass keine Anhaltspunkte für eine Veränderung des Arbeitsmarktes auf diesem Gebiet vorlägen, nicht die zeitliche Diskrepanz von ca 5 ½ Jahren zwischen der eingeholten ersten Auskunft in einem anderen Verfahren und dem jetzt zu beurteilenden Zeitraum übergehen. Durch die Stellung des Beweisantrages hat der Kläger gerade geltend gemacht, vom Vorhandensein des Verweisungsberufs in seiner konkreten Ausprägung könne angesichts des erheblichen Zeitablaufs nicht mehr ausgegangen werden.
Zwar können hinsichtlich der Verweisungstätigkeit auch Gutachten aus anderen Verfahren beigezogen werden (vgl zB BSG Urteil vom 30. Oktober 1985 - 4a RJ 69/84 -, mwN, veröffentlicht bei Juris). Dann aber sind sie prozessrechtlich gar keine Gutachten, weil sie nicht im Verfahren des Klägers eingeholt worden sind (vgl zB BSG Urteil vom 29. November 1984 - 5b RJ 8/84 -, veröffentlicht in Juris). Sie können allenfalls im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (zB BSG Urteile vom 21. Juli 1987 - 4a RJ 87/86 -, vom 24. Juni 1980 - 1 RJ 84/79 -, veröffentlicht jeweils in Juris). Hieraus wird aber deutlich, dass solcherart Beweismittel einen anderen Beweiswert und eine andere Beweiskraft haben als Beweismittel, die unmittelbar zum vorliegenden Verfahren beigezogen worden sind (vgl BSG Beschluss vom 26. Mai 2000 - B 2 U 90/00 B - zu ärztlichen Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren; vgl auch BSG SozR 1500 § 128 Nr 24 mwN). Dies kann uU auch die Notwendigkeit zur eigenen Beweiserhebung beeinflussen. Das BSG hat bereits entschieden, dass die Frage, ob das im Wege des Urkundsbeweises gewonnene Ergebnis ausreicht, einen weitergehenden Beweisantrag unberücksichtigt zu lassen, sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 33). Zu Recht weist die Beschwerdebegründung darauf hin, dass Dipl. Ing. P. ein auf den damaligen Kläger mit dessen individuellen Einschränkungen bezogenes berufskundliches Gutachten erstattet hat, nicht jedoch auf die jetzige konkrete Situation auf den Kläger und den jetzigen Arbeitsmarkt. Hinzu kommt, dass die Angaben des Dipl. Ing. P. hinsichtlich der für das LSG entscheidungserheblichen Aussagen kaum aussagekräftig sind, vielmehr führt dieser nur pauschal aus, dass alle in seinem damaligen Gutachten vom 15. Mai 2000 genannten Tätigkeiten (ua auch der Sachbearbeiter im Heizungs- und Sanitärverkauf) auf dem Arbeitsmarkt in nennenswerter Zahl vorhanden seien und erläutert in seinem Ergänzungsgutachten vom 7. Juni 2000, dass ein Sachbearbeiter im Heizungs- und Sanitärverkauf ua auch am Schreibtisch arbeiten könne. Hieraus ergibt sich jedoch nicht zwingend, dass hinsichtlich der Tätigkeit eines Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf genügend Arbeitsplätze angeboten werden, die überwiegend auf Schreibtischarbeit beschränkt sind. Vielmehr könnte es sich bei der Schreibtischarbeit auch nur um einen kleinen Ausschnitt der abgeforderten Tätigkeit handeln, wie der Kläger zu Recht geltend macht.
Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach weiteren Ermittlungen zum Umfang der benannten Verweisungsberufe zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1827805 |
AiSR 2007, 32 |