Verfahrensgang
SG Mainz (Entscheidung vom 23.04.2021; Aktenzeichen S 16 KR 111/18) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 03.02.2022; Aktenzeichen L 5 KR 110/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die an einem chronischen Schmerzsyndrom mit multiplen Gelenkschmerzen und Analgesie leidende Klägerin ist mit ihrem Begehren auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis-Blüten bei der beklagten Krankenkasse und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG führt zur Begründung seiner Entscheidung aus, der Anspruch scheitere bereits daran, dass keine den Anforderungen des § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V entsprechende begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes der Klägerin vorgelegt worden sei. Erforderlich sei danach eine Darstellung der zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden Standardtherapie und der Therapie mit Cannabinoiden, eine Dokumentation des Krankheitszustands des Versicherten und eine Abwägung mit der zum Ausdruck gebracht werde, inwieweit und warum die Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen könne. Daran fehle es hier (Urteil vom 3.2.2022).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde der Klägerin, mit der diese allein die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), ist jedenfalls unbegründet.
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (stRspr; vgl zB BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 89/18 B - SozR 4-2500 § 291 Nr 3 RdNr 4). Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache beruft, muss deshalb eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 ff mwN). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist bei einer Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts (vgl BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 57/22 B - juris RdNr 10 mwN).
Die Klägerin formuliert folgende Fragen:
1. "Welche Anforderungen sind bei der Auslegung des § 31 Abs. 6 Nr. 1. b) SGB V an eine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes zu stellen, wonach eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann?"
2. "Muss sich die Begründung der Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes oder der behandelnden Vertragsärztin im Rahmen des § 31 Abs. 6 Nr. 1. b) SGB V mit allen denkbaren dem medizinischen Standard entsprechende Leistung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten auseinandersetzen, auch wenn erkennbar der Arzt auch anderweitige Behandlungsmöglichkeiten in seine Erwägung mit aufgenommen hat?"
3. "Muss die begründete Einschätzung des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin nach § 31 Abs. 6 Nr. 1. B) SGB V bereits im Verwaltungsverfahren vorliegen oder genügt deren Vorliegen im Klageverfahren bis zur mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz?"
a) In Bezug auf die zu 2. aufgeworfene Frage ist die Beschwerde jedenfalls unbegründet. Die Rechtsfrage ist in dem vom LSG bereits mit seinem Urteil vom 3.2.2022 entschiedenen Sinn mittlerweile höchstrichterlich geklärt. Aus der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes muss hervorgehen, warum verfügbare Standardtherapien unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes im konkreten Fall nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V). Der erkennende Senat hat entschieden, dass die begründete Einschätzung dafür Folgendes enthalten muss:
• Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,
• Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,
• bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,
• noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen,
• Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.
In Bezug auf die zu 2. aufgeworfene Frage besteht danach kein weiterer Klärungsbedarf mehr (vgl im Einzelnen dazu BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R - juris RdNr 24 ff; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 19/22 R - juris RdNr 20 ff; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 21/21 R - juris RdNr 30 ff; BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 9/22 R - juris RdNr 24 ff).
b) Zu 1. stellt die Klägerin bereits keine abstrakte Rechtsfrage, die einer Klärung durch das Revisionsgericht zugänglich wäre (dazu aa). Zu 3. legt sie die Klärungsfähigkeit der gestellten Rechtsfrage nicht dar (dazu bb).
aa) Die Konkretisierung einer Rechtsfrage im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann, was nicht ausschließt, dass eine Frage gestellt wird, die je nach den formulierten Voraussetzungen mehrere Antworten zulässt, während eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalles abhängt und damit auf die Antwort "kann sein" hinausläuft, unzulässig ist (vgl BSG vom 14.7.2023 - B 1 KR 10/23 B - juris RdNr 6; BSG vom 8.2.2022 - B 1 KR 93/21 B - juris RdNr 8; BSG vom 11.11.2019 - B 1 KR 87/18 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 27.1.2020 - B 8 SO 67/19 B - juris RdNr 10). So liegt der Fall aber hier in Bezug auf die zu 1. gestellte Frage. Die Beantwortung dieser nur allgemein gehaltenen Frage würde eine kommentar- oder lehrbuchartige Aufbereitung durch den Senat verlangen, was gerade nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens sein kann.
bb) In Bezug auf die zu 3. gestellte Frage legt die Klägerin die Klärungsfähigkeit nicht dar. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn das BSG im angestrebten Revisionsverfahren überhaupt hierüber entscheiden müsste, die Frage also entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 13.1.2017 - B 12 R 23/16 B - juris RdNr 20; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 18.12.1991 - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14 = juris RdNr 8). Wie das Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung insgesamt, ist dies auf der Tatsachengrundlage der Vorinstanz zu beurteilen. Auch Darlegungen zur Klärungsfähigkeit müssen sich also auf die Tatsachen beziehen, die das LSG im angegriffenen Urteil mit Bindungswirkung für das BSG (§ 163 SGG) festgestellt hat (vgl BSG vom 12.8.2020 - B 1 KR 46/19 B - juris RdNr 10 mwN). Die Klägerin richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus.
Das LSG hat festgestellt, dass die Klägerin bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keine den Anforderungen des § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V entsprechende begründete ärztliche Einschätzung vorgelegt hat. Das LSG hat es deswegen offengelassen, ob die begründete Einschätzung des Vertragsarztes bereits im Verwaltungsverfahren vorliegen muss oder auch noch während des Gerichtsverfahrens nachgereicht werden kann. Die Klägerin hat diese Feststellung des LSG nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Sie setzt sich hiermit nicht auseinander und legt insbesondere nicht dar, warum es vor diesem Hintergrund für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits darauf ankommen soll, ob die begründete Einschätzung bereits im Verwaltungsverfahren vorliegen muss oder es genügt, dass sie bis zur mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz vorgelegt wird.
2. Die Klägerin legt nur ihre abweichende Rechtsansicht dar, wenn sie vorträgt, dass das LSG die Anforderungen an die Begründetheit der Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes überspannt habe. Die Behauptung, die Berufungsentscheidung sei inhaltlich unrichtig, kann aber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18).
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Schlegel |
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Estelmann |
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Scholz |
Fundstellen
Dokument-Index HI16025731 |