Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler: Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht gem § 103 SGG. Ablehnung eines Beweisantrags mit "hinreichender" Begründung. objektive Sicht. weiterer Aufklärungsbedarf. Einholung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zur haftungsausfüllenden Kausalität
Orientierungssatz
1. Das LSG hat seine tatrichterliche Sachaufklärungspflicht gem § 103 SGG verletzt, wenn es dem zu Protokoll erklärten und damit bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dabei ist unerheblich, ob das LSG die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat, sondern es kommt allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.
2. Einen Beweisantrag darf das LSG nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt (wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist), wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist.
Normenkette
SGG §§ 103, 160 Abs. 2 Nr. 2 Hs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. Juni 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache (noch) darüber, ob die dissoziative Bewegungsstörung der Finger D2 - D4 der linken Hand und die mittelgradige depressive Episode des Klägers Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 24.8.2007 sind, deswegen Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit über den 11.11.2008 hinaus besteht und die Beklagte ihm über den 31.5.2009 hinaus Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH gewähren muss.
Am Unfalltag geriet der Kläger mit der linken Hand in eine Sägevorrichtung und zog sich dabei eine lange Schnittwunde mit Strecksehnendurchtrennung D2 - D4 zu (Primärschaden). Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte ua ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. V. vom 7.5.2009 bei, wonach das verbliebene Streckdefizit der Finger II bis IV auf einer dissoziativen Bewegungsstörung beruhe. Diese müsse als allenfalls indirekte Unfallfolge iS einer Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens eingestuft werden. Ein direkter ursächlicher Zusammenhang werde schwerlich nachzuweisen sein. Eine eindeutig unfallbedingte MdE auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet liege nicht vor. Die Beklagte gewährte dem Kläger ab dem 12.11.2008 (angenommener Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit) bis zum 31.5.2008 Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH und verneinte einen Anspruch auf Rente für die anschließende Zeit. Als Unfallfolgen erkannte sie an: "Nach Rissverletzung der linken Hand operativ versorgter Strecksehnendurchtrennung D2 - D4 auf Handrückenhöhe und knöcherner Beteiligung: Einschränkung der Beweglichkeit des 3. und 4. Fingers, Muskelminderung des Armes, Herabsetzung der groben Kraft der Hand, Narbenbildung im Bereich des Handrückens, Minderbeschwielung der Hohlhand, Kalksalzminderung der Hand, subjektive Beschwerden". Als Unfallfolgen lehnte sie ab: "Dissoziative Störung, depressive Verstimmungen" (Bescheid über Rente für zurückliegende Zeit vom 25.1.2010 und Widerspruchsbescheid vom 20.8.2010).
Das SG hat von Amts wegen ua ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. Sp. aus W. vom 16.7.2012 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 15.3.2013 und 7.3.2014 eingeholt. Der Sachverständige hat eine dissoziative Bewegungsstörung sowie eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert und ausgeführt, der Unfall sei für diese Gesundheitsstörungen zumindest als wesentliche Teilursache anzusehen; die MdE betrage seit dem 12.11.2008 bis auf Weiteres 30 vH. Hierzu hat die Beklagte beratungsärztliche Stellungnahmen des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Psych. Dr. F. vom 3.11.2012 und 20.6.2013 vorgelegt, wonach der Unfall nicht geeignet gewesen sei, eine psychotraumatologische Störung hervorzurufen und deshalb lediglich als Gelegenheitsursache zu werten sei. Das SG hat sich den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen und der Klage im Wesentlichen stattgegeben (Urteil vom 17.9.2014).
Nachdem die Beklagte im Berufungsverfahren eine "beratungsärztliche nervenärztliche Stellungnahme" des Arztes für Neurologie und Nervenheilkunde Prof. Dr. T., Direktor der Neurologischen Universitätsklinik der BG-Kliniken B. in B., vom 17.12.2014 vorgelegt hatte, hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.6.2016): "Letztlich" sei "das Gutachten von Dr. Sp. im Ergebnis insgesamt nicht überzeugend" und "nach Auffassung des Senats nicht geeignet, … eine wesentliche Mitursächlichkeit des Unfallereignisses" für "die festgestellten Gesundheitsstörungen 'dissoziative Bewegungsstörungen D2 bis D4 links' sowie 'mittelgradige depressive Episode' einschließlich der zugrunde liegenden Symptomatik" … "zu begründen". Hingegen sei "unter Berücksichtigung des gesamten Sach- und Erkenntnisstandes nach wie vor schlüssig das Ergebnis des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten Dr. V., wonach sich gemäß den Maßstäben der gesetzlichen Unfallversicherung ein hinreichender ursächlicher Zusammenhang zwischen den psychoreaktiven Gesundheitsstörungen und dem Unfallereignis hier gerade nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen" lasse. Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Antrag, "ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten zu der Frage einzuholen, ob der Arbeitsunfall … vom 24.08.2007 die wesentliche Ursache für das bei ihm jetzt vorliegende psychische Krankheitsbild" sei, habe der Senat nicht nachkommen müssen. Denn der medizinische Sachverhalt sei hinreichend geklärt und für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs kein neues Gutachten erforderlich. Die Schlüssigkeit der Argumentation des Sachverständigen Dr. Sp. habe der Senat auch unter Zuhilfenahme der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. und des Prof. Dr. T. sowie unter Auswertung des vorprozessual eingeholten Gutachtens des Dr. V. überprüfen können.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 23.6.2016 rügt der Kläger ua die Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG).
II. Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist begründet. Die formgerecht (§ 103 iVm § 160 Abs 2 Nr 2 Halbs 2 SGG) gerügte Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht liegt vor.
Dem zu Protokoll erklärten und damit bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag des Klägers ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Dabei ist unerheblich, ob das LSG die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat, sondern es kommt allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BSG Beschluss vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5; vgl zuletzt zB BSG Beschlüsse vom 7.4.2011 - B 9 SB 47/10 B - Juris RdNr 4 und vom 19.10.2011 - B 13 R 290/11 B - Juris RdNr 12). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 48/08 B - Juris RdNr 8), insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt (wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist), wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG Beschlüsse vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10; vom 27.11.2007 - B 5a/5 R 406/06 B - Juris RdNr 8; vom 20.10.2010 - B 13 R 511/09 B - Juris RdNr 14; vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 4; vom 6.10.2011 - B 9 VG 18/10 B - Juris RdNr 9 und vom 24.4.2014 - B 13 R 325/13 B - Juris RdNr 13).
Ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte sich das LSG aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten zur haftungsausfüllenden Kausalität zwischen Primär- und psychischen Sekundärschäden einzuholen. Das Berufungsgericht hat der philosophisch-naturwissenschaftlichen Kausalität von Primär- und Sekundärschäden für die Feststellung von Unfallfolgen, ihrer Behandlungsbedürftigkeit und Entschädigung prozessentscheidende Bedeutung beigemessen, das nervenärztliche Sachverständigengutachten des Dr. Sp."unter Zuhilfenahme der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. F. und des Prof. Dr. T." als Entscheidungsgrundlage verworfen und den Beweisantrag abgelehnt, weil das Fehlen des Ursachenzusammenhangs aufgrund des Verwaltungsgutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. V. vom 7.5.2009 bereits erwiesen sei. Dies genügte nicht, um die fehlende Zuziehung eines weiteren Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet zu rechtfertigen.
Zwar können Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO) und auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein (Senatsurteil vom 8.12.1988 - 2/9b RU 66/87 - Juris RdNr 17 sowie Senatsbeschlüsse vom 31.5.1963 - 2 RU 231/62 - SozR Nr 66 zu § 128 SGG und vom 6.6.2007 - B 2 U 108/07 B - RdNr 6; BVerwG Urteil vom 15.4.1964 - V C 45.63 - BVerwGE 18, 216 = Buchholz 310 § 188 Nr 1). Dies setzt allerdings voraus, dass das Verwaltungsgutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht (vgl dazu exemplarisch BVerfG Kammerbeschluss vom 14.1.2005 - 2 BvR 983/04 - BVerfGK 5, 40 - Juris RdNr 16; BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 178 ff), die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind (BSG Urteil vom 1.3.1984 - 9a RV 45/82 - Juris RdNr 12), was das Tatsachengericht bei der Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 128 Abs 1 S 2 SGG), zu erörtern und festzustellen hat. Ferner muss das LSG im Rahmen von § 128 Abs 1 S 2 SGG erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 415 ZPO) bewusst gewesen sind, zu denen beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§ 153 ff StGB und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§ 116 S 2, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO; § 62 SGG) zählen. Das LSG geht jedoch weder auf die Frage ein, ob das Verwaltungsgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. V. den förmlichen und inhaltlichen Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Sachverständigengutachten entspricht noch lässt es erkennen, dass es sich bei dessen Verwertung über die Unterschiede zwischen Sachverständigen- und Urkundenbeweis im Klaren gewesen ist. Ungeachtet dessen wird das LSG zu erwägen haben, ob ihm das Verwaltungsgutachten die erforderliche Überzeugung vom Vorliegen bzw Nichtvorliegen der haftungsausfüllenden Kausalität vermitteln kann. Auch wenn nach Ansicht des Verwaltungsgutachters ein "direkter ursächlicher Zusammenhang … schwerlich nachzuweisen" ist, so bezeichnet er doch die psychischen Erkrankungen immerhin "als allenfalls indirekte Unfallfolgen", zu denen aber gerade die hier in Rede stehenden Sekundärschäden zählen.
Schließlich schied auch das Gerichtsgutachten des Sachverständigen Dr. Sp. als Entscheidungsgrundlage aus, weil es aus der maßgeblichen Sicht des LSG "im Ergebnis insgesamt nicht überzeugend" sei und damit iS von § 118 Abs 1 S 1 iVm § 412 Abs 1 ZPO "für ungenügend erachtet" wurde. Fehlte damit aber überhaupt eine verwertbare sachverständige Aussage über das Vorliegen bzw Nichtvorliegen des Ursachenzusammenhangs zwischen Primär- und Sekundärschäden, wandelte sich das dem Tatsachengericht in § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO grundsätzlich eingeräumte Ermessen ausnahmsweise in die Rechtspflicht, eine neue Begutachtung anzuordnen.
Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen des Klägers auch nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung eines weiteren medizinischen Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet überzeugende Gesichtspunkte für die hinreichende Wahrscheinlichkeit des geltend gemachten Ursachenzusammenhangs erbracht hätten, die zu einer Feststellung der dissoziativen Bewegungsstörung der Finger D2 - D4 links und der mittelgradigen depressiven Episode als Unfallfolgen, zur Anerkennung von Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit über den 11.11.2008 hinaus und zur Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH über den 31.5.2009 hinaus geführt hätten.
Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 10807041 |
AiSR 2017, 169 |