Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit. Revision. grundsätzliche Bedeutung. Berufskrankheit. neue Erkenntnisse. Bronchialkarzinom. Straßenbauarbeiter
Orientierungssatz
1. Die Frage, ob bei der Berufsgruppe der Straßenbauarbeiter Bronchialkarzinome durch ihre Arbeit häufiger auftreten als bei der übrigen Bevölkerung, betrifft eine schwierige Tatsache auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaft; sie ist keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß wurde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 31.8.1993 - 1 BvR 1280/93).
Normenkette
RVO § 551 Abs 2; SGG § 160 Abs 2 Nr 1
Verfahrensgang
Gründe
Die Kläger sind mit ihrem Begehren ohne Erfolg geblieben, die Beklagte zu verurteilen, ihnen wegen der Folgen der Bronchialkarzinomerkrankung und Pleuraerkrankung des Versicherten H. S. und aus Anlaß seines Todes Entschädigung in gesetzlichem Umfang zu gewähren (Bescheid vom 5. September 1983, Widerspruchsbescheid vom 28. März 1984; Urteile des Sozialgerichts (SG) Frankfurt am Main vom 4. November 1986 - S 8 U 109/84 - und des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 28. Oktober 1992 - L 3 U 47/87 -). Das LSG hat die Berufung des Klägers zu 2) in vollem Umfang und die Berufung der Klägerin zu 1) insoweit als unzulässig verworfen, wie sie Ansprüche auf Sterbegeld, Verletztenrente, Überführungskosten und Überbrückungshilfe betrifft; im übrigen hat es die Berufung der Klägerin zu 1) zurückgewiesen. Insoweit ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, der Klägerin stehe kein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu, weil die Erkrankung des Versicherten (Bronchialkarzinom nach Einwirkung von Teer/poliaromatischen Kohlenwasserstoffen (PAH) bei Straßenbauarbeitern) weder eine Berufskrankheit (BK) sei noch die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) erfülle. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts lägen keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vor, die es zuließen, die Erkrankung des Versicherten wie eine BK zu entschädigen.
Die Beschwerde der Kläger ist unbegründet. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) noch weicht das Urteil des LSG von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) ab und beruht darauf (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) noch liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.
1. Grundsätzliche Bedeutung. a) Mit dem Hinweis auf die zitierte Meinung des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom November 1983: "Daß Lungenkrebse durch die Inhalation von Teerdämpfen auftreten können, gilt als arbeitsmedizinisch weitgehend gesicherte Annahme. So finden sich auch unter den 27 Fällen von Bronchialkarzinomen vier Anerkennungen gemäß § 551 Abs 2 RVO."
|
wird keine grundsätzliche Bedeutung der vorliegenden Rechtssache |
angesprochen. Damit ist gerade noch nichts darüber ausgesagt, daß |
Bronchialkarzinome, wie sie der Versicherte erlitten hat, bei |
Straßenbauarbeitern durch ihre Arbeit in einem erheblich höheren Grade |
auftreten als bei der übrigen Bevölkerung. Es trifft auch nicht zu, |
daß der Senat eine solche Feststellung getroffen hat. In seinem Urteil |
vom 5. Februar 1980 (2 RU 63/78) war er lediglich aus |
revisionsrechtlichen Gründen an eine dahingehende Feststellung des LSG |
gebunden (§ 163 SGG), so wie er in seinem Urteil vom 12. Juni 1990 (2 |
RU 21/89) an die gegenteilige Feststellung eines anderen LSG gebunden |
war, für die Gruppe der Straßenbauarbeiter lägen keine ausreichenden |
Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft darüber vor, ob im Rahmen |
der versicherten Tätigkeit Bronchialkarzinome häufiger aufträten als |
bei der übrigen Bevölkerung. Diese Frage betrifft eine schwierige |
Tatsache auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaft; sie ist keine |
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. |
b) Die Frage, ob trotz Kostenerhebung und Kosteneinbehaltung sowie ausdrücklicher Zulassung eines Beweises nach § 109 SGG es der Sozialgerichtsbarkeit freigestellt sei, diesen Beweis zu erheben, hat keine grundsätzliche Bedeutung. Ihre Antwort ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Sofern die Voraussetzungen des § 109 SGG vorliegen, muß der Beweis erhoben werden. Das LSG hat dazu eingehend erläutert, warum die Voraussetzungen, ein medizinisches Sachverständigengutachten gemäß § 109 SGG einzuholen, nach dem Beweisthema nicht vorliegen.
c) Schließlich hat auch die Frage, ob die Rechtsanwendung bezüglich § 551 Abs 2 RVO ausschließlich von einer einseitigen Epidemiologie abhängig sei oder hier auch den Gesetzen der Logik gefolgt werden könne, daß qualitativ Kokereirohgase und Teerdämpfe überhaupt nichts Verschiedenes seien, mithin die Fälle aus dem Straßenbau ebenfalls als beruflich verursacht anzusehen seien bei gegebener Exposition, keine grundsätzliche Bedeutung. Die Frage ist längst höchstrichterlich geklärt. Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe, hier bei den Straßenbauarbeitern, im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert nicht logische Überlegungen, sondern den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (Urteil des Senats vom 12. Juni 1990 - 2 RU 21/89 - mwN).
2. Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG. Bereits oben unter 1a) ist ausgeführt, daß das Urteil des Senats vom 5. Februar 1980 (2 RU 63/78) keinen Rechtssatz des BSG über neue medizinische Erkenntnisse zu der Frage enthält, ob Straßenbauarbeiter durch ihre Arbeit einem erhöhten Bronchialkarzinomrisiko iS des § 551 Abs 2 RVO ausgesetzt seien. Mit seiner diese Frage verneinenden Tatsachenfeststellung ist das LSG deshalb nicht von der betreffenden Entscheidung des Senats abgewichen.
3. Verfahrensmängel. a) Das LSG mußte sich nicht gedrängt fühlen, dem Antrag, Prof. Dr. M. zu dem angegebenen Beweisthema zu hören, stattzugeben. Vom Rechtsstandpunkt des LSG, auf den bei § 160 Abs 2 Nr 3 SGG abzustellen ist, war dieser Beweisantrag nicht beweiserheblich. Solange eine einschlägige Kohortenstudie nicht vorliegt, was auch die Beschwerdeführer und Prof. M. in seinem von den Klägern vorgelegten Gutachten vom 17. Dezember 1990 in einer anderen Sache (Bl 403 LSG-Akten) nicht behaupten, fehlt nach der Rechtsmeinung des LSG dem betreffenden Beweisantrag die Beweiserheblichkeit. Es konnte sich dazu auf die Rechtsprechung des BSG berufen, daß § 551 Abs 2 RVO keine nicht allgemein anerkannte Analogie, sondern den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder bei Straßenbauarbeitern erfordert, um daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in den schädigenden Straßenbauarbeiten liegt (Urteil des Senats vom 12. Juni 1990 mwN aaO). Das LSG hat damit die Voraussetzung verneint, unter der der betreffende Beweisantrag hätte beweiserheblich sein können. Das Ergebnis der Beweisaufnahme hat es nicht vorweggenommen.
b) An dem Urteil des LSG haben nicht befangene Richter mitgewirkt. Das steht aufgrund des Beschlusses des LSG vom 6. April 1992 (L 3 U 47/87), der nicht mehr mit einem Rechtsmittel angefochten werden kann (§ 177 SGG), fest (s Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl 1991, § 60 RdNr 14).
c) Das LSG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Aus der Sitzungsniederschrift vom 28. Oktober 1992 ergibt sich, daß es den bezeichneten Erfahrungsbericht in Gegenwart aller Richter entgegengenommen hat und dieser auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist. Darüber hinaus ist es nicht erforderlich, sich damit auch in den schriftlichen Urteilsgründen auseinanderzusetzen, zumal dem Erfahrungsbericht in dem vorliegenden Verfahren keine Beweiserheblichkeit zukommt, wie oben unter 1a) ausgeführt ist.
d) Entsprechend den Ausführungen zu 3c) ist auch der verfassungsmäßige Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 103 Grundgesetz (GG)) nicht verletzt. Ebensowenig verstößt das angegriffene Urteil des LSG gegen Art 3 GG. Das LSG hat im einzelnen dargelegt, welche sachlich-rechtlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO fehlen. Sollten in anderen Einzelfällen die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO zu Unrecht als erfüllt angesehen worden sein, können die Kläger daraus keine Ansprüche für sich herleiten.
e) Das LSG hat trotz der sehr langen Dauer des Verfahrens nicht die Grundsätze eines fairen Verfahrens verletzt. Trotz mehrerer mündlicher Verhandlungen angesichts der Schwierigkeiten des Rechtsstreits haben die Kläger es unterlassen, zur Abkürzung des Verfahrens durch zügige Mitarbeit beizutragen und das LSG zur Verfahrensbeschleunigung sowie zu einer schnellen abschließenden Entscheidung aufzufordern. Im übrigen ergibt sich aus der Natur der Sache, daß sich bei einem Kollegialgericht insbesondere nach einem Richterwechsel die Rechtsmeinung ändern kann. Es ist besonders unter diesen Umständen die Pflicht des Gerichts, keine nach neuester Rechtsmeinung beweisunerheblichen Gutachten auf Kosten eines Beteiligten einzuholen. Daß das LSG entschieden hat, der gezahlte Kostenvorschuß werde den Klägern trotzdem nicht zurückgezahlt, ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen