Leitsatz (amtlich)
Das Gutachten, das von einem Arzt nach SGG § 109 eingeholt worden ist, ist kein "Parteigutachten"; sein Beweiswert ist nicht schon deshalb geringer, weil dieser Arzt den Kläger bisher behandelt und ihn möglicherweise veranlasst hat, den Versorgungsantrag zu stellen.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 1956 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aller Instanzen zu erstatten.
Gründe
1.) Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG). Sie ist deshalb nur statthaft, wenn gerügt wird, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel und wenn dieser Mangel auch tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG. 1 S. 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Soweit Verfahrensmängel gerügt werden, muß die Revisionsbegründung nicht nur die verletzte Rechtsnorm, sondern auch die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).
2.) Der Beklagte rügt Mängel im Verfahren des LSG.; er ist der Meinung, das LSG. habe bei der Feststellung der Tatsachen gegen die §§ 128, 103 SGG verstoßen, die Revision sei daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Der Beklagte rügt zunächst, das LSG. habe ohne ausreichende Unterlagen festgestellt, der Kläger habe während seiner Tätigkeit in einem stark belegten Soldatenübernachtungsheim in Köln bei 200 bis 400 Übernachtungen täglich in der Zeit zwischen Mai bis November 1940 "mindestens 36.000 mal benützte Decken ausgeklopft" und sich infolge der damit verbundenen Infektionsgefahr wahrscheinlich die Lungentuberkulose zugezogen, die 1940 und wieder 1950 festgestellt worden sei; das LSG. sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß sich unter den Benutzern dieses Heimes auch im Jahre 1940 schon Soldaten mit offener Tuberkulose befunden hätten; eine Ansteckung durch einen aktiv Tbc-kranken Soldaten sei vielmehr nicht festzustellen; es sei eine Tatsache, daß in Tuberkuloseheilstätten und Sanatorien und in Tbc-Stationen der allgemeinen Krankenhäuser am wenigsten Berufsinfektionen vorkämen, der Kläger sei während seiner Arbeit in dem Übernachtungsheim aber nicht mehr gefährdet und nicht stärker belastet gewesen als etwa das Pflegepersonal in Krankenanstalten oder das Personal in Hotels, dies habe das LSG. verkannt.
Diese Rüge entspricht nicht der durch § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form. Der Beklagte hat nicht dargetan, auf Grund welcher Umstände das LSG. sich hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts anzustellen und in welcher Richtung Ermittlungen im einzelnen noch hätten vorgenommen werden können (vgl. Urteil des BSG. vom 20. Februar 1957, SozR. Nr. 24 zu § 164 SGG). Die allgemeine Rüge, es sei nicht erwiesen, daß der Kläger mindestens 36.000 mal Decken ausgeklopft habe und daß sich in diesen Decken Tuberkulosebazillen befunden hätten, genügt nicht; der Beklagte hat nicht dargetan, inwiefern das LSG. die Angaben des Klägers hätte in Zweifel ziehen müssen; dem LSG. haben Unterlagen über die Tätigkeit des Klägers in dem Übernachtungsheim vorgelegen; der Beklagte hat den Schlüssen, die das LSG. nach allgemeiner Lebenserfahrung aus den Verhältnissen in einem solchen Übernachtungsheim gezogen hat, nichts anderes entgegengestellt als seine eigene abweichende Meinung. Es ist für die Schlußfolgerungen, die das LSG. gezogen hat, auch nicht erheblich, ob die Zahl "36.000" richtig ist, maßgebend ist insoweit nur die in dieser Zahl liegende Feststellung, daß der Kläger mit sehr vielen Decken und Strohsäcken, die von stets wechselnden Personen benutzt und monatelang nicht desinfiziert worden sind, zu tun gehabt hat. Diese Feststellung ist vom Beklagten nicht in der gesetzlich gebotenen Form angegriffen, sie ist daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend (§ 163 SGG).
Der Beklagte rügt weiter, das LSG. habe zu Unrecht die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer solchen Tätigkeit und einer Infektion des Klägers durch Tbc-Bazillen bejaht; das LSG. habe das Gutachten von Dr. L... und die versorgungsärztlichen Gutachten, die die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenhangs verneint hätten, nicht ausreichend gewürdigt, es habe verkannt, daß das Gutachten von Dr. W... dem das LSG. gefolgt sei, ein "Parteigutachten" oder sogar nur Teil des Parteivorbringens des Klägers gewesen sei; Dr. W... habe den Kläger ständig behandelt, er habe für den Kläger offensichtlich auch das Verfahren betrieben, das LSG. habe seinem Gutachten nicht größere Bedeutung beimessen dürfen als dem "objektiven Gutachten des Dr. L... der Chefarzt einer bedeutenden Lungenheilstätte sei; Dr. W... habe eine "persönliche Theorie" zur Grundlage seines Gutachtens gemacht, Dr. I... dagegen "die repräsentative Antwort der Wissenschaft" auf die ihm als Gutachter gestellte Frage gegeben; jedenfalls habe das LSG., da sich die Meinung zweier Fachärzte gegenübergestanden hätten, noch ein weiteres Obergutachten einholen müssen, es sei nicht in der Lage gewesen, die medizinische Streitfrage von sich aus zu entscheiden.
Auch diese Rügen wenden sich gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG.; die Feststellung, daß eine Tatsache (ein schädigendes Ereignis) wahrscheinlich im ursächlichen Zusammenhang mit einem Erfolg (einer Gesundheitsstörung) stehe, ist eine Tatsachenfeststellung, sie betrifft die Frage, ob ein schädigendes Ereignis für den Eintritt einer Gesundheitsstörung nicht hinweggedacht werden kann, wobei es im Versorgungsrecht nach § 1 Abs. 3 BVG genügt, daß ohne diese Tatsache wahrscheinlich der Erfolg nicht eingetreten wäre (Urteil des BSG. vom 3.7.1958, SozR. Nr. 106 zu § 162 SGG). Auch diese Rüge trifft jedoch nicht zu. Das LSG. hat nicht die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten, wenn es in der Frage der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs dem Gutachten des Dr. W... und nicht dem Gutachten des Dr. L. gefolgt ist. Das LSG. hat dem Gutachten des Dr. W... nicht etwa deshalb geringeren Beweiswert beimessen müssen, weil Dr. W... auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG als Sachverständiger gehört worden ist. Das Gutachten, das von einem Arzt nach § 109 SGG erstattet wird, ist nicht etwa, wie der Beklagte meint, ein "Parteigutachten"; auch im Falle des § 109 SGG handelt es sich um eine Beweiserhebung durch das Gericht, ebenso wie bei der Beweiserhebung durch Sachverständigengutachten von Amts wegen nach § 103 SGG (ebenso Peters-Sautter-Wolff, 2. Aufl. Anm. 7 zu § 109 SGG; Teutsch, Sozialgerichtsbarkeit 1954 S. 101 ff. unter I und II 3; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I S. 245). Der Beweiswert eines Gutachtens, das das Gericht - wenn auch ohne Rücksicht darauf, ob es noch eine weitere Beweisaufnahme für geboten hält, und unter Bindung an die Person des vom Kläger benannten Arztes - nach § 109 SGG eingeholt hat, ist nicht schon allein deshalb geringer als der eines Gutachtens, das vom Gericht bei einem von ihm selbst nach den §§ 118 SGG, 404 Zivilprozeßordnung (ZPO) ausgewählten oder von einem oder beiden am Verfahren Beteiligten vorgeschlagenen Sachverständigen eingeholt hat; dieser Beweiswert ist auch nicht deshalb geringer, weil der nach § 109 SGG gehörte Arzt den Kläger als Hausarzt schon bisher behandelt hat und weil er, was im vorliegenden Falle zutreffen mag, den Kläger veranlaßt hat, einen Versorgungsantrag zu stellen und weil er ihn auch im sozialgerichtlichen Verfahren möglicherweise beraten hat. Maßgebend ist allein der Wert des Gutachtens selbst, der durch die Sachkunde des Sachverständigen und dessen Sorgfalt bei der Untersuchung und bei der Erstattung des Gutachtens bestimmt wird; über diesen Wert entscheidet das LSG. aber nach § 128 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat im vorliegenden Falle auch die Gründe dargetan, warum es dem Gutachten des nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen, der im übrigen den Kläger jahrelang behandelt hat und selbst Lungenfacharzt ist, gefolgt ist und nicht dem Gutachten des Dr. L... Dr. W... hat seine ärztliche Auffassung nach allgemeinen Gesichtspunkten der ärztlichen Wissenschaft und anhand des Einzelfalles nicht weniger eingehend begründet als Dr. L... der Beklagte hat auch nicht dargetan, inwiefern nur die Auffassung von Dr. L... die "objektiv allgemeingültige wissenschaftliche medizinische Lehrmeinung", "die repräsentative Antwort der Wissenschaft" darstellt. Schließlich gehört es auch nicht zu einer fehlerfreien Beweiswürdigung, daß sich das LSG. mit den in den Gutachten der beiden Sachverständigen vertretenen, voneinander abweichenden medizinischen Meinungen im einzelnen auseinandersetzt und darüber entscheidet, welche von ihnen die richtige ist (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 17.7.1958 - 11/8 RV 1205/56); das LSG. hat dem Gutachten von Dr. W... folgen dürfen, weil es ihm auf Grund des festgestellten Sachverhalts überzeugend erschienen ist. Für die Frage, ob das LSG. die Beweise zutreffend gewürdigt hat und damit für die Statthaftigkeit der Revision wäre es unerheblich, wenn die Auffassung, die das LSG. anhand des Gutachtens von Dr. W... vertreten hat, nicht nur von Dr. L..., sondern auch noch von einem weiteren ärztlichen Sachverständigen abgelehnt worden wäre; deshalb hat das LSG. auch nicht gegen § 103 SGG verstoßen, wenn es von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus (vgl. Beschluß des BSG. vom 7.6.1956, SozR. Nr. 7 zu § 103 SGG) es nicht für geboten gehalten hat, noch ein Obergutachten einzuholen.
Da die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen, ist die Revision somit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft.
3.) Die Revision ist schließlich auch nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft. Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG ist das Gesetz verletzt, wenn die Kausalitätsnorm, die für das Gebiet der Kriegsopferversorgung gilt, verletzt ist (BSG. 1 S. 268). Nach dieser Kausalitätsnorm ist nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, als ursächlich anzusehen (ursächlich im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne), sondern nur diejenige, die im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl. BSG. 1 S. 270; 1 S. 72; 1 S. 150). Wenn das LSG. seine Entscheidung unter Anwendung der Kausalitätsnorm getroffen hätte, dann hätte es sowohl die Rippenfellentzündung, die der Kläger 1922 durchgemacht hat, als auch das 1940 unmittelbar nach dem Wehrdienst aufgetretene Lungenleiden als mitwirkende Bedingung für das 1950 erneut aufgetretene Lungenleiden ansehen, es hätte diese beiden Bedingungen gegeneinander abwägen und eine von ihnen oder beide als wesentlich und damit als Ursache oder Mitursache für das 1950 aufgetretene Leiden bewerten müssen. So hat aber das LSG. sein Urteil nicht begründet. Es ist zu einer Anwendung der Kausalitätsnorm nicht gekommen, weil es schon in tatsächlicher Hinsicht festgestellt hat, daß sowohl für das 1940 als auch für das 1950 aufgetretene Lungenleiden allein die Verhältnisse des Wehrdienstes ursächlich (im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne) gewesen sind.
Da die Revision nicht statthaft ist, ist sie als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen