Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Vergleich. Wirksamkeit. Verfahrensmangel. Verböserungsverbot

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das BSG hat nicht den Rechtssatz aufgestellt, die Entscheidung eines Gerichts über die Wirksamkeit eines vor ihm geschlossenen Vergleichs sei endgültig und im Rechtsmittelverfahren nicht mehr überprüfbar.

2. Ein Verstoß gegen das im sozialgerichtlichen Verfahren aus § 123 SGG abgeleitete Verböserungsverbot (Verbot der „reformatio in peius”) ist ein mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügbarer Verfahrensmangel.

 

Normenkette

SGG §§ 123, 141 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; ZPO § 536

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.2001; Aktenzeichen L 13 AL 3058/01)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. November 2001 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld (Alg) in der Zeit vom 1. August bis 23. Oktober 1997 wegen Eintritts einer zwölfwöchigen Sperrzeit geruht hat; in diesem Zusammenhang ist insbesondere streitig, ob das Klageverfahren durch einen Vergleich beendet worden ist.

Der von den Beteiligten vor dem Sozialgericht (SG) am 6. Oktober 1999 geschlossene Vergleich verpflichtet die Beklagte bei Verkürzung der Sperrzeit auf sechs Wochen zur Zahlung von Alg für die übrigen sechs Wochen. Diesen Vergleich hat der Kläger am 13. Oktober 1999 angefochten, da er sich hinsichtlich der Auswirkungen auf die ihm gewährte Sozialhilfe geirrt habe. Das SG hat mit Urteil vom 20. April 2001 zunächst festgestellt, das Verfahren sei durch den Vergleich vom 6. Oktober 1999 nicht rechtswirksam abgeschlossen (Ziffer 1 des Tenors); außerdem hat es die Klage abgewiesen (Ziffer 2) und hierzu in den Entscheidungsgründen ausgeführt, es sei eine Sperrzeit von zwölf Wochen eingetreten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit der Maßgabe der Neufassung des SG-Urteils dahin zurückgewiesen, das Klageverfahren sei durch den gerichtlichen Vergleich vom 6. Oktober 1999 beendet (Urteil vom 20. November 2001).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, das Berufungsurteil weiche von mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) ab. Nach „Bundessozialgericht 7, 279, NJW 58, 1463, Bundessozialgericht 4, 31, 34, SozR SGG § 101 Bl Da 5 Nr 5” sei die Prüfung und Entscheidung, ob der Prozessvergleich wirksam oder durch Anfechtung vernichtet sei, ausschließlich dem Gericht vorbehalten, vor dem der Vergleich geschlossen worden sei; das LSG habe also rechtsfehlerhaft über die Wirksamkeit des Vergleichs entschieden. Unrichtig sei auch die Feststellung des LSG, es stehe nicht in der Macht des Klägers, seine Berufung auf Ziffer 2 des Urteilstenors zu beschränken mit dem Ziel, das Berufungsgericht an einer Überprüfung der Ziffer 1 zu hindern. Anwendbar sei gemäß § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Vorschrift des § 536 Zivilprozessordnung (ZPO), wie das BSG in einem Urteil vom 6. Oktober 1977, BSGE 45, 49, 50 = SozR 1500 § 96 Nr 6, entschieden habe. Auch von diesem Urteil sei das LSG abgewichen. Nach § 536 ZPO sei das, was durch den Berufungsantrag nicht angegriffen sei, für das Berufungsgericht unantastbar. Dadurch dass er und die Beklagte Ziffer 1 des erstinstanzlichen Urteils nicht angefochten hätten, sei diese in Rechtskraft erwachsen. Es sei auch nicht so, dass das Schlechterstellungsverbot in Fällen, in denen das Verfahren an einem von Amts wegen zu beachtenden Mangel leide, nicht Platz greife. Gegen einen Vorrang der Berücksichtigung von Verfahrensmängeln vor dem Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelführers spreche, dass auch die durch solche Mängel beeinträchtigten Entscheidungen ohne eine Anfechtung volle Wirksamkeit erlangten (Hinweis auf Bundesgerichtshof ≪BGH≫, Beschluss vom 18. Dezember 1985, NJW 1986, 1494). Das Verschlechterungsverbot finde seine Rechtfertigung auch darin, dass den schutzwürdigen Interessen des Rechtsmittelführers im Hinblick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens Vorrang zukomme. Nach Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechtssätze habe die fehlende Prozessvoraussetzung der Rechtshängigkeit der Klage in der Berufungsinstanz gegenüber dem Verschlechterungsverbot zurückzustehen. Auch habe der Kläger nach Abweisung der Klage als unbegründet auch in der Berufungsinstanz mit einer Sachentscheidung rechnen dürfen. Das eröffnete Rechtsmittel gehe ins Leere, wenn es mit dem Risiko einer nicht beabsichtigten und nicht kalkulierbaren Überprüfung des Prozessvergleichs einhergehe.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde ist unzulässig, da sie Zulassungsgründe iS des § 160 Abs 2 SGG nicht entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG darlegt oder bezeichnet.

1. Unzureichend ist der Vortrag der Beschwerdebegründung, mit dem geltend gemacht wird, das Urteil des LSG weiche von mehreren Entscheidungen des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Um eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend zu bezeichnen, muss die Beschwerde aufzeigen, welcher tragende abstrakte Rechtssatz in einer bestimmten Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts enthalten ist, welcher im Urteil des LSG entwickelte Rechtssatz dazu im Widerspruch steht und inwieweit das Urteil auf der Abweichung beruht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Diesen Anforderungen ist nicht genügt.

Der Vortrag, aus verschiedenen Entscheidungen des BSG folge, dass die Prüfung und Entscheidung, ob ein Prozessvergleich wirksam oder durch Anfechtung vernichtet sei, ausschließlich durch das Gericht zu erfolgen habe, vor dem der Vergleich geschlossen worden sei, und von diesen Entscheidungen weiche das LSG ab, ist auslegungsbedürftig. Gemeint ist anscheinend, das BSG habe den Rechtssatz aufgestellt, die Entscheidung eines Gerichts über die Wirksamkeit eines vor ihm geschlossenen Vergleichs sei endgültig und im Rechtsmittelverfahren nicht mehr überprüfbar. Keinem der genannten bzw in Betracht kommenden Urteile des BSG kann ein solcher Rechtssatz entnommen werden, wobei dahingestellt bleiben kann, ob mit der Angabe „SozR SGG § 101 Bl Da 5 Nr 5” das Urteil SozR Nr 4 zu § 101 SGG oder das Urteil BSGE 16, 61 = SozR Nr 5 zu § 101 SGG gemeint sein soll. Bereits aus der Entscheidung BSGE 4, 31 ff könnte allenfalls entnommen werden, dass im Gegenteil das LSG die Befugnis habe, über die Wirksamkeit eines erstinstanzlichen Vergleichs zu entscheiden; die übrigen Entscheidungen beziehen sich auf die gerichtliche Überprüfung einer außergerichtlichen Vereinbarung (SozR Nr 4 zu § 101 SGG), die Unwirksamkeit eines Anerkenntnisses bei Fehlen der rechtlichen Voraussetzungen (BSGE 16, 61 = SozR Nr 5 zu § 101 SGG) und auf die Frage der Berechtigung eines Versicherungsträgers, einen Prozessvergleich für unwirksam zu erklären (BSGE 7, 279, 280 f). Mithin enthält die Beschwerdebegründung auch nicht die Darstellung eines im Urteil des LSG entwickelten Rechtssatzes, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, der den angeführten Entscheidungen des BSG zu Grunde liegt.

Keine den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechende Bezeichnung einer Divergenz enthält auch der Vortrag, das LSG sei vom Urteil des BSG vom 6. Oktober 1977, BSGE 45, 49, 50 = SozR 1500 § 96 Nr 6, abgewichen. Zum genannten Urteil des BSG führt die Beschwerdebegründung nur aus, es sei gemäß § 202 SGG die Vorschrift des § 536 ZPO anwendbar; dass das LSG dieser Aussage (Anwendbarkeit des § 536 ZPO) widersprochen hätte, wird nicht geltend gemacht.

2. Allerdings könnte der Hinweis der Beschwerdebegründung auf § 536 ZPO und der damit im Zusammenhang stehende Vortrag, das LSG habe gegen das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelführers verstoßen, auch in dem Sinne zu verstehen sein, der Kläger mache hiermit einen Verfahrensmangel geltend (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Denn ein Verstoß gegen das im sozialgerichtlichen Verfahren aus § 123 SGG abgeleitete Verböserungsverbot (Verbot der „reformatio in peius”) ist ein mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügbarer Verfahrensmangel (BSG SozR 3-1500 § 123 Nr 1). Gleichwohl enthält die Beschwerdebegründung, auch wenn sie dahin ausgelegt wird, der Kläger wolle den behaupteten Verstoß gegen das Verböserungsverbot als Verfahrensmangel geltend machen, keine den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügende Bezeichnung.

Mit der Behauptung des Klägers, das LSG habe über seinen Antrag hinaus die Feststellung des SG, der Vergleich sei nicht rechtswirksam abgeschlossen, überprüft, wird kein Verfahrensmangel bezeichnet. Der Kläger verkennt, dass es sich beim Ausspruch des SG, das Verfahren sei durch den Vergleich nicht rechtswirksam abgeschlossen, um kein selbstständiges, der Rechtskraft fähiges Entscheidungselement handelt. Nach § 141 Abs 1 SGG erwachsen Urteile nur in Rechtskraft, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand war die Frage, ob dem Kläger im zu beurteilenden Zeitraum Alg zu gewähren ist. Hierüber hatte das SG zu befinden; insoweit kommt der Annahme der Unwirksamkeit des Vergleichs nur die Bedeutung eines unselbstständigen Begründungselements zu (vgl BSGE 39, 14, 18 = SozR 3640 § 4 Nr 2). Die Aufnahme dieses Begründungselements in den Entscheidungstenor ändert hieran nichts, wie das LSG zutreffend entschieden hat.

3. Die unzulässige Beschwerde ist somit entsprechend § 169 SGG zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176621

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