Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwertung einer nicht in den Prozess eingeführten Urkunde. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Urkunde, die sich in einer vom Gericht beigezogenen Akte befindet, darf zur Tatsachenfeststellung nur verwertet werden, wenn sie ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt wurde.
2. Ein Gericht, das Akten beigezogen hat und darin enthaltene Urkunden zur Feststellung von Tatsachen verwerten will, muss zuvor die Beteiligten auf die beigezogene Akte und auf seine Absicht hingewiesen haben, diese Urkunden als Beweismittel zu verwerten; die Urkunden sind in der mündlichen Verhandlung zu verlesen oder den Beteiligten zur Einsichtnahme vorzulegen.
Normenkette
SGG §§ 62, 117 Abs. 1, §§ 118, 128 Abs. 2; ZPO §§ 415, § 415 ff.; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Gründe
1. Die Beschwerde des Klägers ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen, soweit sie auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) gestützt ist. Denn die Beschwerdebegründung legt die Voraussetzungen dieses Zulassungsgrundes entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend dar. Ausführungen zur sog Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Fragen fehlen. Darüber hinaus ist die Klärungsbedürftigkeit schon deshalb nicht hinreichend dargestellt, weil auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Fragen der sog Beweislastumkehr nicht eingegangen und nicht aufgezeigt worden ist, dass sich daraus eine Beantwortung der aufgeworfenen Frage nicht ergibt.
2. Gemäß § 160a Abs 5 SGG ist auf die Beschwerde das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, weil der Kläger zulässig und begründet einen Verfahrensmangel geltend gemacht hat, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.
In der Hauptsache begehrt er die Verurteilung der Beklagten, ihm Beitragszeiten und darin versicherte Entgelte anzuerkennen und deswegen einen höheren Wert seines Rechts auf Altersruhegeld, das er seit dem 1. Februar 1991 hat, zuzuerkennen. Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das seinem Begehren im Wesentlichen stattgebende Urteil des SG aufgehoben und seine Klagen abgewiesen. Während das SG ausgeurteilt hatte, die Zeiten vom 1. August 1946 bis 8. Oktober 1948 seien als glaubhaft gemachte Beitragszeiten mit einem monatlichen Entgelt von 150 Reichsmark anzuerkennen, weil iS von § 286a SGB VI von einer Beitragsentrichtung durch den Arbeitgeber auszugehen sei, hat das LSG dies verneint. Das SG hatte auf Grund einer Auskunft des Amtes für Verteidigungslasten aus dem Jahre 1987 angenommen, es könne von der Beitragstreue der Besatzungskostenämter ausgegangen werden, über welche die Beiträge zur Sozialversicherung für entgeltlich beschäftigte "Displaced Persons" abgerechnet wurden. Demgegenüber hat das LSG eine solche generelle Annahme der Beitragsabführung verneint. Es hat sich dafür auf die in den beigezogenen Akten enthaltene Aussage des von der 9. Kammer des SG Berlin am 23. Juli 2001 dort vernommenen Zeugen K. C. bezogen und dessen Aussage aus der beigezogenen Akte (S 9 RA 922/97 * 2) seiner Entscheidung zu Grunde gelegt.
Die Beschwerde rügt zutreffend, dass das LSG die Akte des SG Berlin (S 9 RA 922/97 * 2) beigezogen und die darin enthaltene Niederschrift über die Vernehmung des damaligen Zeugen K. C. seiner Entscheidung zu Grunde gelegt habe, ohne in der Terminsladung (Bl 269 der LSG-Akten) oder - ausweislich des Protokolls (Bl 272, 273 der LSG-Akten) über die mündliche Verhandlung vom 7. August 2003 auf die Beiziehung dieser Akte oder auf seine Absicht, die darin beurkundete Zeugenaussage zu verwerten, hingewiesen zu haben. Ebenso richtig rügt die Beschwerde, dass das Gericht von diesen prozessualen Pflichten nicht etwa deshalb entbunden war, weil die Beklagte auf die Aussage des Herrn C. in dem damaligen Verfahren vor dem SG Berlin hingewiesen hatte. Das LSG hat in der mündlichen Verhandlung die Urkunde, die die Aussage des damaligen Zeugen C. enthielt, weder verlesen noch den Beteiligten zur Einsicht gegeben. Damit hat es das Beweismittel nicht eingeführt und auch keine Gelegenheit gegeben, zum Beweisergebnis Stellung zu nehmen.
Damit hat es sowohl den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) als auch die Vorschriften über die Durchführung des Urkundsbeweises (§ 118 Abs 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO) verletzt. Zugleich liegt auch eine Verletzung des Klägers in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) vor. Denn er hat zutreffend dargelegt, dass das Urteil auf diesem überraschenden Urkundenbeweis, nämlich auf der Verwertung einer vom Gericht in den Prozess nicht eingeführten Urkunde, beruhen kann. Der Kläger hätte - wie vorgetragen - bei einem entsprechenden Hinweis die Vernehmung des Zeugen C. und seine Konfrontation mit der gutachterlichen Stellungnahme des Mitarbeiters der AOK München, P. K., vom 4. März 2002 beantragt, weil dieser Gutachter Zweifel an der Verlässlichkeit der vom SG Berlin beurkundeten Aussagen des Zeugen C. geäußert hatte und weil das LSG Berlin in einer Entscheidung vom 29. August 2003 (L 1 RA 24/99) ebenfalls die Verlässlichkeit der beurkundeten Aussage des Zeugen C. in Zweifel gezogen hatte. Auf der Grundlage der nach dem Zitat des Klägers vom 1. Senat des LSG Berlin geäußerten Zweifel und dem von diesem Senat des LSG berücksichtigten Schreiben der AOK München an die LVA Oberbayern vom 24. Januar 1958 kann nicht ausgeschlossen werden, dass der 8. Senat des LSG zu einem anderen, etwa dem vom SG ausgeurteilten Ergebnis gelangt wäre.
Dementsprechend kann das angefochtene Urteil wegen dieser Verfahrensmängel keinen Bestand haben. Das LSG wird den Rechtsstreit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut in vollem Umfang überprüfen und ordnungsgemäß Beweis erheben müssen. Dabei wird es allerdings auch zu prüfen haben, ob die Beklagte durch die mit der Anfechtungsklage angefochtene Entscheidung im Bescheid vom 30. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1996 tatsächlich lediglich die Vormerkung (eine "Anerkennung" kennt das SGB VI nicht) von Daten (Tatbeständen von Zeiten und darin erzielten versicherten Entgelten) abgelehnt hat, obwohl bereits ein Recht auf Altersrente seit dem 1. Februar 1991 besteht, und ob sie dies durfte, oder ob die Aussagen in den Bescheiden dahingehend rechtmäßig zu verstehen sind, dass die Aufhebung des bisherigen Rentenhöchstwertes und dessen höhere Neufeststellung sowie entsprechend höhere Zahlungen abgelehnt wurden.
3. Soweit die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen war, folgt die Kostenentscheidung aus den §§ 183, 193 Abs 1 und 4 SGG. Soweit das Urteil des LSG auf Grund der Beschwerde aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war, folgen die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Fundstellen
NZS 2005, 221 |
SozR 4-1500 § 118, Nr.1 |
AUR 2004, 279 |