Orientierungssatz

Ist eine Waise italienischer Staatsangehörigkeit, die immer in Italien gewohnt hat, vom deutschen Rentenversicherungsträger ein Zuschlag zu ihrer vom italienischen Rentenversicherungsträger gewährten Waisenrente dann zu zahlen, wenn der verstorbene Vater Beiträge zur deutschen und italienischen Rentenversicherung entrichtet hatte, aber schon allein mit den deutschen Beiträgen der Anspruch für die Gewährung einer Waisenrente nach den innerdeutschen Rechtsvorschriften erfüllt war?

 

Normenkette

EWGV 1408/71 Art. 77, 78 Abs. 2 Buchst. b; RVO § 1267 Abs. 1; EWGV 1408/71 Art. 79 Abs. 1 Buchst. a; EWGVtr Art. 51

 

Verfahrensgang

SG Augsburg (Entscheidung vom 09.12.1981; Aktenzeichen S 12 Ar-It 424/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Halbwaisenrente aus der deutschen Rentenversicherung.

Der am 11. Januar 1980 verstorbene Versicherte M. A. hat eine Versicherungszeit von 83 Monaten in der Bundesrepublik Deutschland und von 111 Monaten in Italien zurückgelegt. Nach seiner Rückkehr nach Italien arbeitete er noch bis Dezember 1974. Von der Beklagten bezog er seit 1. März 1974 Rente wegen Berufsunfähigkeit; lt. Bescheid des I. T. vom 8. August 1978 erhielt er, ebenfalls ab 1. März 1974, die italienische Invaliditätsrente, zu der ihm ua Familienbeihilfe für den Kläger gewährt wurde; dieser hat zu keinem Zeitpunkt in Deutschland gelebt.

Nach dem Tode des Versicherten gewährte die Beklagte Witwenrente ab 1. Februar 1980, lehnte jedoch durch Bescheid vom 8. Januar 1981 die Gewährung von Waisenrente an den Kläger ab mit der Begründung, nach Art 78 EG-VO Nr 1408/71 sei diese Rente allein vom italienischen Versicherungsträger zu zahlen, weil der Versicherte in Italien eine längere Versicherungszeit als in Deutschland zurückgelegt habe. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1981).

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Augsburg durch Urteil vom 9. Dezember 1981 die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, an den Kläger Halbwaisenrente für die Zeit vom 1. Februar 1980 bis 31. Oktober 1981 zu gewähren. Das SG ist davon ausgegangen, daß der Versicherte allein nach innerstaatlichem Recht die 60-monatige Wartezeit für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente erfüllt habe, so daß der Anspruch auf Halbwaisenrente (§ 1263 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) allein nach innerstaatlichen Vorschriften bestehe. Demgegenüber habe das Recht der EG nicht die Aufgabe, innerstaatliche (deutsche) Anspruchsgrundlagen für eine Rente durch eigenes EG-Recht zu ersetzen. Art 78 der EG-VO Nr 1408/71 sei nicht an die Stelle des § 1263 RVO getreten; er enthalte eher einen Verteilungsmaßstab, mit dem festgelegt werde, welcher Leistungsträger vorrangig zu leisten habe. Dies könne hier nur zur Folge haben, daß der Kläger sich den Betrag anrechnen lassen müsse, den er vom italienischen Versicherungsträger nach italienischem Recht erhalte. Das SG hat die Sprungrevision zugelassen.

Mit ihrer Revision wendet sich die Beklagte gegen die Rechtsauffassung des SG. Sie rügt die Nichtbeachtung des Art 78 Abs 2 Buchst b Ziff i der EG-VO Nr 1408/71. Hiernach habe ausschließlich der Staat Leistungen für eine Waise zu erbringen, in dessen Gebiet die Waise wohne, wenn ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften dieses Staates bestehe. Nach der Konzeption der EG-VO Nr 1408/71 solle eine Vereinfachung des Verfahrens zur Gewährung von Familienbeihilfen (einschl. Waisenrenten) dadurch erreicht werden, daß nur ein Mitgliedsstaat für die Gewährung zuständig sei. Dies habe zu der Regelung in den Artikeln 78 ff EG-VO Nr 1408/71 geführt, die nach Art 44 Abs 3 aaO für Waisenrenten ausschließlich anwendbar seien. Schon die Zahlung eines Unterschiedsbetrages zwischen der deutschen und der italienischen Waisenrente sei nicht unbedenklich; mehrere Staaten der EG (Belgien, Niederlande, Irland, das Vereinigte Königreich) hätten hierzu festgestellt, daß die Zahlung des Unterschiedsbetrages dem Willen der Verfasser der EG-VO Nr 1408/71 zuwiderlaufe bzw in Ermangelung technischer Durchführungsregeln undurchführbar sei.

Durch die Regelungen der Art 78 ff EG-VO Nr 1408/71 sei das deutsche Sozialversicherungsrecht in zulässiger Weise modifiziert worden. Wolle man den vom SG aufgestellten Grundsatz des Schutzes der in einem Mitgliedsstaat erworbenen Ansprüche konsequent befolgen, so würde dies bedeuten, daß zwei Waisenrenten - eine nach deutschem und eine nach italienischem Recht - zu zahlen seien. Diese Auffassung werde jedoch selbst vom SG nicht vertreten. Vielmehr werde dem Grundsatz, daß einem Wanderarbeitnehmer durch eine Wohnsitzverlegung innerhalb der EG kein Nachteil entstehen dürfe, bei Waisen dadurch Rechnung getragen, daß der Wohnsitzstaat bei der Feststellung seiner Leistung sämtliche nach nationalen Vorschriften anrechenbaren Zeiten berücksichtigen müsse. Sollte sich hierbei im Einzelfall ein geringerer Zahlbetrag ergeben, so liege dies am unterschiedlichen Leistungsniveau der verschiedenen nationalen Sozialversicherungssysteme, nicht aber an den Normen des Gemeinschaftsrechts.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Augsburg vom 9. Dezember 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen hilfsweise, den Rechtsstreit zum Zwecke der Auslegung des Art 51 des EG-Vertrages unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 9. Juli 1980 (807/79) dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und vertritt die Auffassung, daß die Art 78 ff EG-VO Nr 1408/71 nicht einen Verlust oder eine Verringerung von Rentenansprüchen, die allein auf innerstaatlichen Versicherungszeiten beruhten, zur Folge haben dürften.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig.

Ob die Revision auch begründet ist, vermag der Senat noch nicht zu entscheiden, weil er hierzu eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) über die Auslegung der Artikel 77 und 78 der EG-VO Nr 1408/71 für erforderlich hält (Art 177 Abs 2 und 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft).

Der Versicherte lebte vor seinem Tode in Italien; er bezog von der Beklagten aus den in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten eine Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO). Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Wartezeit) für diese Rente waren allein durch die deutschen Versicherungszeiten erfüllt (§ 1246 Abs 3 RVO). Nach deutschem Recht hätte dem Versicherten zu seiner Rente ein Kinderzuschuß für sein in Italien lebendes Kind, den Kläger, zugestanden (§ 1262 RVO). Die Beklagte hat keinen Kinderzuschuß gewährt, weil wegen des Bezuges der italienischen Invaliditätsrente ein vergleichbarer Anspruch gegenüber dem italienischen Versicherungsträger bestand (Art 77 Abs 2 Buchst b Ziff i EG-VO Nr 1408/71).

Da dem Versicherten für den Kläger bereits Familienbeihilfe zu seiner italienischen Invaliditätsrente gezahlt wurde, gelten nach Art 78 Abs 2 letzter Satz EG-VO Nr 1408/71 auch nach seinem Tode die Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates weiter, der für die Gewährung dieser Leistung zuständig war. Insoweit verweist diese Vorschrift auf Art 77 aaO. Hiernach ist für den weiterhin in Italien lebenden Kläger ausschließlich der italienische Versicherungsträger zur Gewährung der Waisenrente nach seinen Vorschriften zuständig. Diese Sonderregelung für Rentenbezieher bewirkt, daß die einmal begründete Zuständigkeit und die daraus folgende Leistungspflicht eines Mitgliedsstaates auch für die anspruchsberechtigten Waisen dauernd fortgilt. Das für Waisenrenten geltende Kapitel 8 der EG-VO Nr 1408/71 zielt darauf ab, die für den Rentenanspruch geltenden Rechtsvorschriften ein für allemal in der Weise festzulegen, als ob der verstorbene Arbeitnehmer sein gesamtes Berufsleben unter diesen Rechtsvorschriften zurückgelegt hätte und deshalb die Inanspruchnahme weiterer Rechtsvorschriften nicht mehr in Betracht kommt (vgl Art 79 Abs 1 EG-VO Nr 1408/71; siehe auch Sammlung der Gemeinschaftsbestimmungen über soziale Sicherheit, herausgegeben von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1980, zu Kapitel 8, Ziff 5400 Absatz 2).

Auf die Festlegung der ausschließlichen Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates zur Gewährung von Waisenrente nach dessen innerstaatlichem Recht deuten auch Wortlaut und Aufbau der Artikel 77 ff EG-VO Nr 1408/71. Diese enthalten bis ins einzelne gehende Regelungen für den Fall, daß ein Versicherter Versicherungszeiten in mehreren Mitgliedsstaaten der EG zurückgelegt hat. Bestehen mehrere solcher Versicherungsverhältnisse, so stellen die Artikel 77 und 78 EG-VO Nr 1408/71 für die Leistungszuständigkeit auf den Wohnsitz der anspruchsberechtigten Waisen ab. Besteht ein Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates der Waise, so hat der dortige Versicherungsträger - gegebenenfalls unter Einbeziehung der in anderen Mitgliedsstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten (Art 79 Abs 1 Buchstabe a) - die Waisenrente festzustellen. Hat die Waise jedoch ihren Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat, in dem ihr kein Leistungsanspruch zusteht, so ergibt sich die Zuständigkeit des leistungspflichtigen Staates nach den insoweit übereinstimmenden Artikeln 77 Abs 2 Buchst b Ziff ii und Art 78 Abs 2 Buchst b) Ziff ii EG-VO Nr 1408/71 im Grundsatz aus der längeren Versicherungsdauer; bei gleich langen Versicherungszeiten führt dies zur Zuständigkeit des Mitgliedsstaates, dem der Versicherte zuletzt unterstanden hat (Art 79 Abs 2 EG-VO Nr 1408/71). Diese ins einzelne gehende Zuständigkeitsregelung soll erkennbar gewährleisten, daß Waisenrenten nicht von mehreren Staaten, sondern nur von einem Staat, dessen Zuständigkeit sich aus der Verordnung ergibt, zu gewähren sind. Aus diesem Grunde ist auch das für Versicherten- und Witwenrenten vorgesehene Verfahren nach Titel III Kapitel 3 der EG-VO Nr 1408/71, das eine Vergleichsberechnung des allein nach nationalen Vorschriften erworbenen Anspruches mit dem Betrag, der sich aus der Zusammenrechnung aller in der EG zurückgelegten Versicherungszeiten anteilig ergibt (Art 46), für den Bereich der Waisenrenten ausdrücklich für unanwendbar erklärt worden (Art 44 Abs 3).

Die hier geltende Zuständigkeitsregelung der Artikel 77 ff EG-VO Nr 1408/71 kann zur Folge haben, daß die Waise eines Versicherten, der in mehreren Mitgliedsstaaten versichert war, eine niedrigere Waisenrente erhält als wenn der Versicherte nur in einem dieser Mitgliedsstaaten versichert gewesen wäre; nämlich dann, wenn das Leistungsniveau des waisenrentengewährenden Staates niedriger ist als das Niveau desjenigen Staates, in dem die Waise nach dessen innerstaatlichem Recht auch einen Waisenrentenanspruch erworben haben würde, der jedoch wegen der Kollisionsnorm des Art 78 EG-VO Nr 1408/71 nicht zum Tragen kommt. Diese Fallgestaltungen können bei Erlaß der EG-VO Nr 1408/71 nicht unbekannt gewesen sein; sie werden bei Versicherten- und Witwenrenten ausdrücklich in dem Sinne geregelt, daß in jedem Falle die in einem Mitgliedsstaat nach dessen Rechtsvorschriften erworbenen Leistungsansprüche von diesem zu erfüllen sind (Art 46 Abs 1 aaO). Bei den Waisenrenten dagegen berechnet der zuständige Staat die Rente aus allen in der EG zurückgelegten Versicherungszeiten (die Einschränkung des Art 48 aa0 gilt hier nicht). Diese Regelung kann sich für den Berechtigten, wie bereits erwähnt, nachteilig, sie kann sich für ihn allerdings auch vorteilhaft auswirken. Auch die Durchführungs-VO Nr 574/72 spricht für den Bereich der Waisenrenten nur von einem zuständigen Träger (vgl Art 90), für den Bereich der Versicherten- und Witwenrenten dagegen von den "beteiligten" (also mehreren) Trägern (vgl zB Art 47,48). Dies legt nahe, daß weder ein Vergleich noch ein Ausgleich zwischen dem Rentenanspruch allein nach den innerstaatlichen Vorschriften eines nicht zuständigen Mitgliedsstaates und dem Rentenanspruch nach Vertragsrecht im zuständigen Mitgliedsstaat mit dem Ziel der Gewährung des höchsten Zahlbetrages gewollt war. Der Grund kann in der Vermeidung von Kumulationen (vgl dazu Art 12 Abs 1 EG-VO Nr 1408/71) wie auch in der Vereinfachung des Verfahrens für die Bewilligung der Waisenrente liegen.

Wegen der unterschiedlichen Rechtsvorschriften in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EG hat der EuGH die Gewährung eines Zuschlages zu einer Waisenrente in den Fällen für erforderlich gehalten, in denen allein nach innerstaatlichem Recht ein höherer Anspruch erworben wurde als nach dem Recht des nach den Art 77 ff für die Gewährung der Leistung zuständigen Mitgliedsstaates (EuGH Urteil vom 9. Juli 1980 - 807/79, EuGHE 1980, S 2205-2228 = SozR 6050 Art 78 Nr 2). In diesem Urteil folgert der Europäische Gerichtshof (EuGH) aus der Regelung des Art 51 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, daß ein Arbeitnehmer nicht als Folge der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit Vergünstigungen einbüßen dürfe, die er nach den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedsstaates erworben hätte. Diese Vorschriften sollten vielmehr den Arbeitnehmern alle in den einzelnen Mitgliedsstaaten zustehenden Leistungen bis zur Obergrenze des höchsten Einzelbetrages sichern. Dies führt zu dem Schluß, daß die nach dem Recht eines Mitgliedsstaates gewährten Leistungen nicht durch einen Wohnsitzwechsel verkürzt werden dürfen, sondern als Besitzstand im Sinne eines Mitnahme-Effektes geschützt werden sollen. Im vorliegenden Fall ist indessen noch kein echter Besitzstand nach deutschem Recht eingetreten, da weder der Kläger Waisenrente noch der Versicherte für ihn jemals eine Familienleistung nach deutschem Recht bezogen hat. Der vorlegende Senat sieht es als nicht im Widerspruch zu Art 51 des Vertrages stehend an, wenn die Gemeinschaftsregelung der Art 77 ff EG-VO Nr 1408/71 für diese Fälle die ausschließliche Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates für die Gewährung der Leistung vorsieht, selbst wenn infolge der Verschiedenheiten der nationalen Systeme Unterschiede hinsichtlich der Höhe der Leistung nicht auszuschließen sind. Hieraus resultiert nicht unbedingt die Verpflichtung, mögliche Ungleichheiten der nationalen Rechte im Wege des Gemeinschaftsrechts durch die Gewährung von Rentenzuschlägen aufzufangen.

Obgleich aufgrund der dargelegten Erwägungen die Anwendung der Grundsätze des Urteils vom 9. Juli 1980 (aaO) auf den vorliegenden Fall nicht als unbedingt zwingend angesehen werden muß, erscheint dem vorlegenden Senat ihre Anwendung auch nicht als völlig ausgeschlossen. In dem vom EuGH entschiedenen Fall hatte die Waise eine innerstaatliche deutsche Waisenrente bereits bezogen; im vorliegenden Fall war das noch nicht geschehen, aber die Waise erfüllte nach innerstaatlichem deutschen Recht die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für diese Rente. Der Unterschied zwischen der bloßen Tatsache der Rentenzahlung einerseits und dem Bestehen eines Anspruchs auf die Rentenleistung andererseits kann aber nicht als so schwerwiegend angesehen werden, um die Anwendung der Grundsätze der Rechtsprechung des EuGH auszuschließen, denn dieser Unterschied liegt nicht im Bereich der rechtlichen Differenzierung. Unterstellt, der verstorbene Versicherte hätte keinen eigenen Rentenanspruch besessen - dieser Anspruch ist für die Waisenrente nicht Voraussetzung -, so brauchte der Kläger dieses Rechtsstreits nur seinen Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen und dann erst die Waisenrente zu beantragen, um eine Waisenrente nach den innerstaatlichen deutschen Rechtsvorschriften zu erlangen. Würde er nach Zubilligung dieser Rente dann seinen Wohnsitz wieder nach Italien verlegen, bestünde der gleiche Sachverhalt wie im Falle des EuGH-Urteils vom 9. Juli 1980 und er hätte nach dieser Entscheidung des Gerichtshofs Anspruch auf einen Rentenzuschlag. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen reduziert sich also im Prinzip darauf, daß sich die Waise rechtzeitig vor Stellung des Rentenantrags den "richtigen" Wohnsitz heraussucht. Dieser Umstand würde noch stärkere Bedeutung erlangen, wenn ein Versicherter die Voraussetzungen für die Gewährung einer Waisenrente nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften von mehr als zwei Mitgliedsstaaten erfüllt, weil dann die Höhe der Waisenrente bzw des Rentenzuschlags davon abhinge, in welchem Mitgliedsstaat der Waisenrentenantrag erstmals gestellt würde.

Darüber hinaus ist die praktische Verwirklichung des Zuschlages auch aus anderen Gründen nicht unproblematisch. Wenn ein Wanderarbeitnehmer in mehr als zwei Mitgliedsstaaten der EG nach den jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften einen Anspruch auf eine Waisenrente erworben hat und die Leistungen des nach den Artikeln 77 ff zuständigen Staates unter denen der übrigen Mitgliedsstaaten liegen, so erhebt sich die Frage, wer für die Zahlung des Zuschlages oder gegebenenfalls mehrerer Zuschläge zuständig ist. Insoweit enthält die Durchführungs-VO Nr 574/72 keine Regelung; Art 10 aa0 besagt darüber nichts, die Art 90 ff aa0 regeln nur die Leistungen nach den Art 77 und 78 EG-VO Nr 1408/71, wozu die Zuschläge nicht gehören. Am nächsten liegt die Verpflichtung des Staates mit der höchsten Leistung. Fraglich ist aber, ob dieser den vollen Differenzbetrag zu der niedrigsten Leistung als Zuschlag zu zahlen hätte, oder ob sich ein anderer Mitgliedsstaat, dessen Leistungsniveau ebenfalls über dem des leistungsgewährenden Mitgliedsstaates liegt, an der Zahlung dieses Zuschlages beteiligen müßte. Bei der Berechnung der Höhe des Zuschlages müßten sich zudem die dazu verpflichteten Mitgliedsstaaten stets vergewissern, ob und in welchem Umfang der die Waisenrente gewährende Mitgliedsstaat seine Leistungen erhöht. Der Zuschlag müßte also nicht nur nach den innerstaatlichen Vorschriften periodisch neu berechnet werden, sondern es müßte darüber hinaus laufend festgestellt werden, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Höhe der die Familienleistung gewährende Mitgliedsstaat seinerseits die Leistung verändert. Aus dieser Sicht kann die Gewährung eines Zuschlages nicht zu der von der Kommission angestrebten Vereinfachung des Verfahrens für die Bewilligung von Familienleistungen führen, sondern sie bewirkte nur eine schwierig zu praktizierende Handhabung.

Im übrigen könnte der Anspruch auf einen Zuschlag auch dann problematisch werden, wenn eine Waisenrente nach dem Recht eines Mitgliedsstaates zwar niedrig ist, jedoch deren Bezug zur Erhöhung einer gleichzeitig gewährten anderen Leistung (zB Witwenrente) führt (vgl dazu § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO). Die Erhöhung dieser anderen Leistung wäre sinngemäß der Waisenrente zuzuordnen, weil sie die Anspruchsgrundlage bildet. Diese Zuordnung müßte dann aber bei der Zahlung eines Zuschlages berücksichtigt werden. Dies hätte wiederum zur Folge, daß der für die Gewährung des Zuschlages verpflichtete Versicherungsträger stets prüfen müßte, ob der die Waisenrente gewährende Mitgliedsstaat auch andere Leistungen gewährt, die mit ihr berechnungsmäßig oder in sonstiger Weise in Zusammenhang stehen.

Andererseits kann eine niedrigere Waisenrente, bedingt durch den Wohnsitz, nach innerstaatlichem Recht auch mit Vorteilen verbunden sein. Dieser Vorteil kann darin liegen, daß die nach dem Recht eines Mitgliedsstaates zu gewährende Rente einerseits zwar betragsmäßig geringer, andererseits aber länger zu gewähren ist. Wollte man einem solchen Vorteil noch weiter die Gewährung eines Zuschlages hinzufügen, so könnte dies im Ergebnis eine ungerechtfertigte Meistbegünstigung zur Folge haben. Dabei bliebe auch die Frage offen, wie zu verfahren wäre, wenn nach den Rechtsvorschriften des die Waisenrente gewährenden Mitgliedsstaates der Rentenanspruch endet, in den Rechtsvorschriften des zur Zuschlagszahlung verpflichteten aber keine Beendigung vorgesehen ist. Hier stünde der zur Zahlung des Zuschlages verpflichtete Versicherungsträger vor der Frage, ob er dann allein den Rentenzuschlag weiterzahlen oder gar den - erloschenen - Rentenanspruch übernehmen müßte.

Unter Beachtung der dargelegten Erwägungen erscheint es dem vorlegenden Senat zweifelhaft, die Grundsätze des Urteils vom 9. Juli 1980 auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Andererseits ist aber die Sachnähe zwischen dem vorliegenden und dem vom EuGH entschiedenen Fall so groß - insbesondere wenn man die möglichen Variationen einbezieht, die in weiteren Fällen jederzeit eintreten können -, daß es dem Senat als bedenklich erschiene, die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtssache 807/79 aufgestellten Grundsätze schlechthin unbeachtet zu lassen. Er legt deshalb den Rechtsstreit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor.

Die Vorlage ist erforderlich, weil entscheidungserheblich die Frage eines Zuschlages zur Waisenrente ist. Wenn auch der Zuschlag nach dem Urteil in der Rechtssache 807/79 allein von der nach den innerstaatlichen Bestimmungen errechneten Rente zu gewähren ist, läßt sich die Frage nicht allein mit innerstaatlichen Normen lösen - wozu ausschließlich das vorlegende Gericht befugt wäre -, weil einerseits das innerstaatliche deutsche Recht keine Rechtsgrundlage für einen solchen Zuschlag kennt und andererseits der Zuschlag sich berechnungsmäßig als Differenz zwischen einer innerstaatlichen Leistung und einer Vertragsleistung nach Art 78, 79 EG-VO Nr 1408/71 darstellt. Da somit die Frage eines Rentenzuschlages ohne Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht lösbar ist, ergibt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Vorlage.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660088

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