Leitsatz (amtlich)
Können die für eine Berufstätigkeit entrichteten Pflichtbeiträge nicht mehr beanstandet werden, so ist diese Tätigkeit auch dann bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit als bisheriger Beruf zugrunde zu legen, wenn der Versicherte rückwirkend auf Grund des G131 versicherungsfrei wurde (Fortführung von BSG 1982-05-13 5a RKn 4/81 = BSGE 53, 269 = SozR 2600 § 46 Nr 6; Abgrenzung zu BSG 1978-08-31 4/5 RJ 102/76 = SozR 7290 § 74 Nr 1).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1423; G131 §§ 73-74
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.11.1982; Aktenzeichen L 3 J 175/80) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 07.10.1980; Aktenzeichen S 1 (14) J 31/78) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesbahn-Versicherungsanstalt Berufsunfähigkeitsrente.
Der 1924 geborene Kläger machte von 1940 bis 1943 bei der damaligen Reichsbahn eine Lehre als Maschinenschlosser durch, die er Ende März 1943 mit der Gesellenprüfung abschloß. Anschließend war er bis Mitte April 1943 als Schlosser tätig, wurde dann unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum technischen Praktikanten ernannt und besuchte als solcher bis zur Einberufung zum Wehrdienst Ende April 1943 die Staatliche Ingenieurschule in P.. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft war er als Montageschlosser, als landwirtschaftlicher Gehilfe und als Montagearbeiter beschäftigt. Im Dezember 1951 trat er in die Dienste der Deutschen Bundesbahn. Er war zunächst als Betriebsarbeiter, ab Februar 1952 als Aushilfsheizer, ab Mai 1953 als Schlosser und ab November 1954 wieder als Aushilfsheizer eingesetzt. Im Februar 1956 wurde er zum Reservelokführeranwärter und im April 1956 als Reservelokführer zum Beamten ernannt. Als Aushilfsheizer und Schlosser erhielt der Kläger bis 1954 Lohn nach Lohngruppe IV des damals gültigen Tarifvertrages; zuletzt war er vor der Verbeamtung in die Lohngruppe II eingestuft. Als Lokomotivbetriebsinspektor war er seit 1970 in der Lokdienstleitung als Disponent tätig. Zum 1. Juni 1978 wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Anläßlich der Pensionierung stellte die Deutsche Bundesbahn fest, daß der Kläger als verdrängter Beamter auf Widerruf zum Personenkreis des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes fallenden Personen - G 131 - gehörte. Die Beschäftigungszeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes von 1945 bis 1951 und im öffentlichen Dienst vor der erneuten Verbeamtung 1956 wurden bei der Festsetzung der Versorgungsbezüge berücksichtigt. Der Kläger erklärte weder, daß er eine Erstattung der bis zur Verbeamtung entrichteten Rentenversicherungsbeiträge beantrage, noch daß er Leistungen aus der Rentenversicherung beziehen wolle. Die Deutsche Bundesbahn beantragte bei der Beklagten die Erstattung der Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil sie dem Kläger 1972 und 1976 Heilverfahren gewährt hatte.
Den Rentenantrag des Klägers vom 18. Januar 1978 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. März 1978 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. Oktober 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 26. November 1982 die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne zumindest noch körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen, aber auch im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen in geschlossenen temperierten Räumen vollschichtig verrichten. Er sei daher in der Lage, als Bürohilfskraft tätig zu sein. Derart einfache Tätigkeiten überforderten auch nicht seine geistige Leistungsfähigkeit. Der Kläger sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Denn er genieße nicht den Berufsschutz eines Facharbeiters. Zwar habe er den Beruf eines Schlossers erlernt und vor seiner erneuten Übernahme in das Beamtenverhältnis im Jahre 1956 als Lokheizer eine Tätigkeit ausgeübt, die - zuletzt entlohnt nach Lohngruppe II des damals gültigen Tarifvertrages - als qualifizierte Facharbeitertätigkeit anzusehen sei. Doch komme für den Berufsschutz nur eine pflichtversicherte Tätigkeit in Betracht. Daß der Kläger als Lokheizer nicht pflichtversichert gewesen sei, ergebe sich aus den §§ 73 und 74 G 131. Auch aus § 1423 Reichsversicherungsordnung (RVO) folge nichts anderes. Die Zeit von etwa 14 Tagen, die der Kläger im April 1943 als Schlosser gearbeitet habe, reiche für den Versicherungsschutz nicht aus, da er mit ihr die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt habe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 RVO. Er ist der Auffassung, daß auch die Zeiten, die noch unter das G 131 fielen, ihm bei der Frage zugute zu halten seien, ob er Facharbeiter sei.
Er beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 7. Oktober 1980 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. März 1978 zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aber auch wenn man der Meinung sei, daß der Kläger als Facharbeiter anzusehen sei, komme allenfalls eine Zurückverweisung in Betracht, da das LSG nicht geprüft habe, ob der Kläger noch Tätigkeiten ausüben könne, die einem Facharbeiter zuzumuten seien.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß die - ursprünglich pflichtversicherte - Tätigkeit des Klägers von Dezember 1951 bis März 1956 bei der Deutschen Bundesbahn der Beurteilung seines bisherigen Berufs iS des § 1246 Abs 2 RVO nicht zugrundegelegt werden könne, weil die Beschäftigung im genannten Zeitraum gemäß § 73 Abs 5 Satz 2 G 131 rückwirkend versicherungsfrei geworden sei. Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Vorschrift dahin ausgelegt, daß frühere Beamte auf Widerruf, die - wie der Kläger - aus einem neuen Dienstverhältnis eine Anwartschaft auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung erworben haben, hinsichtlich einer nach dem 8. Mai 1949 im öffentlichen Dienst als Angestellter oder Arbeiter verbrachten Beschäftigung rückwirkend als versicherungsfrei kraft Gesetzes anzusehen sind. Deshalb gelten die von ihnen und ihrem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber geleisteten Beiträge als zu Unrecht entrichtet. Sie konnten zurückgefordert werden (vgl zu alledem BSG in SozR Nr 5 zu § 73 G 131). Forderten allerdings weder der Versicherte noch sein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber die Beiträge zurück, so ging der Rückforderungsanspruch nach Ablauf einer Frist verloren (§ 74 Abs 1 G 131). Die Beiträge gelten in diesem Fall als freiwillig entrichtet (vgl Nr 9 Abs 5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des G 131 vom 20. Februar 1968, Beilage zum BAnz Nr 42).
Diese Regelung hat zwar zur Folge, daß die für die Tätigkeit des Klägers bei der Deutschen Bundesbahn entrichteten Beiträge nicht mehr als Pflichtbeiträge anzurechnen sind. Andererseits läßt sie § 1423 Abs 2 RVO unberührt, wonach infolge der Nichtbeanstandung der Beiträge innerhalb der Zehn-Jahres-Frist iS dieser Vorschrift unter den Beteiligten feststeht, daß die Beiträge seinerzeit aufgrund eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses als gültige Pflichtbeiträge entrichtet worden sind (so BSG, Urteil vom 31. August 1978 in SozR 7290 § 74 Nr 1 S 5).
Da es hier - anders als in dem vom BSG durch Urteil vom 31. August 1978 entschiedenen Fall - nicht um die Anrechnung der geleisteten Beiträge als Pflicht - oder freiwillige Beiträge, sondern um die Frage des bisherigen Berufs iS des § 1246 Abs 2 RVO geht, können insoweit die Vorschriften des G 131 über die rückwirkende Versicherungsfreiheit und die Fiktion einer freiwilligen Beitragsentrichtung nicht rechtserheblich sein. Vielmehr führt die dem Vertrauensschutz dienende Regelung in § 1423 Abs 2 RVO hier dazu, daß die Tätigkeit, für die nicht mehr zu beanstandende Pflichtbeiträge entrichtet worden sind, auch dann bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit als bisheriger Beruf zugrunde zu legen ist, wenn sie nachträglich versicherungsfrei geworden ist. Dies hat der 5a Senat des BSG im Urteil vom 13. Mai 1982 (BSGE 53, 269 = SozR 2600 § 46 Nr 6) zu der mit § 1423 Abs 2 RVO inhaltsgleichen Vorschrift des § 139 Reichsknappschaftsgesetz für den Fall einer von Anfang an bestehenden Versicherungsfreiheit wegen der Höhe des Entgelts entschieden. Die dortige - insbesondere auf den Vertrauensgrundsatz und den engen Zusammenhang zwischen der Wartezeiterfüllung und dem bisherigen Beruf gestützte - Begründung trifft umsomehr bei einer auf den Sondervorschriften des G 131 basierenden rückwirkenden Versicherungsfreiheit zu. Sie macht sich der erkennende Senat deshalb auch im vorliegenden Fall zu eigen.
Demnach ist die Frage, ob der Kläger berufsunfähig ist, nach der Tätigkeit zu beurteilen, die er bei der Bundesbahn vor seiner erneuten Verbeamtung im April 1956 ausgeübt hat. Insoweit ist zu beachten, daß der erkennende Senat die bei der Deutschen Bundesbahn in der Lohngruppe IV Beschäftigten grundsätzlich als Facharbeiter beurteilt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 1. Dezember 1983 - 5b RJ 80/82 - und das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5b RJ 80/83). Auch ist zu berücksichtigen, daß der Kläger zuletzt in Lohngruppe II eingestuft war. Da das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt richtig - es nicht für erforderlich gehalten hat, Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob der Kläger Arbeiten ausführen kann, die einem Facharbeiter zuzumuten sind, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Es wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1662388 |
Breith. 1984, 872 |