Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. März 1961 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 14. Mai 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger zog sich am 27. März 1950 durch einen Arbeitsunfall Schnittwunden an der rechten Innenhand zu, welche die Beweglichkeit des Zeigefingers einschränken und die Gebrauchsfähigkeit der Hand herabsetzen. Deshalb gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente von zunächst 30, dann 20 v.H. der Vollrente.
Nachdem die Beklagte durch Bescheid vom 20. Juli 1953 die Rente entzogen und der Kläger diesen Bescheid vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg angefochten hatte, kam es am 19. Juli 1955 zwischen den Beteiligten zu einem gerichtlichen Vergleich. Die Beklagte gewährte dem Kläger vom Rentenentzug an weiterhin eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H., und zwar als Dauerrente. Dabei legte sie eine auf einer Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) beruhende Vorerwerbsbeschränkung von 10 v.H. zugrunde.
Durch Bescheid vom 25. September 1956 setzte die Beklagte die Dauerrente vom 1. November 1956 an auf 10 v.H. der Vollrente herab. Auf die hiergegen erhobene Klage verurteilte das SG die Beklagte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 1957, in der es den Sachverständigen Dr. R. über das Ausmaß und die Bewertung der Unfallfolgen gehört hatte; dem Kläger die Dauerrente über den 51. Oktober 1956 hinaus weiterzugewähren. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Durch Bescheid vom 20. Dezember 1957 setzte die Beklagte mit der Begründung, es sei eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse der rechten Hand eingetreten, die Rente erneut auf 10 v.H. der Vollrente herab.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger Aufhebung des Bescheides und Weitergewährung der Rente nach einer MdE von 20 v.H. begehrte Zur Begründung hat er vorgetragen: Der Sachverständige Dr. Rothammer habe am 9. Juli 1957 bekundet, in den Unfallfolgen sei gegenüber dem Befund vom 19. Juli 1955 keine Änderung eingetreten und es sei auch in Zukunft eine solche nicht zu erwarten. Es sei deshalb nicht gerechtfertigt, jetzt – nach sieben Jahren – die Rentenherabsetzung mit Anpassung und Gewöhnung zu begründen. Abgesehen hiervon hätte die Beklagte wegen der Vorschrift des § 609 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) über das Schutzjahr die Dauerrente nicht vor Juli 1958 herabsetzen dürfen.
Das SG hat durch Urteil vom 14. Mai 1958 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. Dezember 1957 verurteilt, dem Kläger die Teilrente von 20 v.H. weiterzugewähren. Es hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Rente schon deshalb nicht hätte herabgesetzt werden dürfen, weil seit dem Erlaß des Urteils vom 9. Juli 1957 kein Jahr vergangen gewesen sei; es bedürfe daher nicht der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 608 RVO gegeben seien. Auf die – vom SG zugelassene – Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 22. März 1961 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Das Schutzjahr des § 609 Satz 2 RVO beginne mit dem Tage, an dem der im Rechtsmittelverfahren aufgehobene Herabsetzungsbescheid wirksam geworden wäre, im vorliegenden Falle also am 1. November 1956. Demnach habe die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 20. Dezember 1957 das Jahr eingehalten. Im übrigen seien nach dem Gutachten des Dr. G. die Voraussetzungen für eine Neufeststellung der Dauerrente nach § 608 RVO gegeben. Wenn sich auch der medizinische Befund nicht geändert habe, so habe sich der Kläger doch weitgehend an die Unfallfolgen gewöhnt. In dieser Anpassung und Gewöhnung liege eine Änderung der Verhältnisse. Mit 10 v.H, sei die unfallbedingte MdE angemessen bewertet.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 14. Juni 1961 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 20. Juni 1961 Revision eingelegt und diese am 23. Juni 1961 begründet.
Die Revision führt aus: Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 1957 sei rechtswidrig, weil er die Schutzvorschrift des § 609 Satz 2 RVO nicht beachtet habe. Diese Vorschrift verfolge den Zweck, Änderungen der Rente in kurzen Zeitabständen und damit eine ständige Beunruhigung der Rentenempfänger auszuschließen. Dieser Zweck werde nicht erreicht, wenn man den Versicherungsträger als befugt ansehe, in unmittelbarem Anschluß an eine die Rentenentziehung oder -herabsetzung aufhebende gerichtliche Entscheidung erneut die Rente zu entziehen oder herabzusetzen. Diese – auch vom Reichsversicherungsamt (RVA) in AN 1937, 272 vertretene – Auffassung werde durch die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts (Bd. 6, 78) zu § 57 Abs. 2 Satz 1 des Reichsversorgungsgesetzes und durch die Verwaltungsvorschriften zu § 62 Abs. 2 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes gestützt. Der im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Meinung könne nicht gefolgt werden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 14. Mai 1958 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig; sie hatte auch Erfolg.
Nach § 609 Satz 2 RVO darf eine Dauerrente nur „in Zeiträumen von mindestens einem Jahr” neu festgestellt werden. Dieses sog. Schutzjahr beginnt nach feststehender Rechtsprechung in der Regel an dem Tage, von dem an die auf der letzten Feststellung durch den Versicherungsträger beruhende Rente bezogen wird (vgl. RVA, EuM Bd. 22, 9; 41, 308). Im vorliegenden Streitfalle ist eine Dauerrente von 20 v.H. erstmalig auf Grund des gerichtlichen Vergleichs vom 19. Juli 1955 gewährt worden. Demnach stand der Herabsetzung der Dauerrente mit Wirkung vom 1. November 1956 die Vorschrift des § 609 Satz 2 RVO nicht entgegen. Der Herabsetzungsbescheid ist aber aus materiell-rechtlichen Gründen durch Urteil des, SG vom 9. Juli 1957 aufgehoben und die Beklagte verurteilt worden, die Dauerrente nach einer MdE von 20 v.H. über den 31. Oktober 1956 hinaus weiterzugewähren. Stellt man bei der Prüfung, wann in einem solchen Falle das Schutzjahr beginnt, in den Vordergrund, daß der Herabsetzungsbescheid vom 25. September 1956 aufgehoben worden, also nicht mehr existent ist, so könnte hieraus gefolgert werden, daß im Jahre 1956 überhaupt keine – wirksame – Rentenfeststellung vorgenommen worden sei und der Beginn des Schutzjahres sich deshalb nach der Rentenfeststellung von 1955 richte. Einer solchen Auffassung ist das RVA jedoch in einem gleichliegenden Falle in seiner grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5120 (AN 1937, 272 = EuM Bd. 41, 308) mit Recht entgegengetreten; es hat ausgeführt: Durch die Entscheidung im Instanzenzuge sei zwar der Zustand wiederhergestellt worden, der vor Erlaß des aufhebenden Bescheides bestanden habe, insofern nämlich, als der Verletzte die bisherige Rente ungemindert weiterbeziehe, jedoch erschöpfe sich darin die Wirkung der Entscheidung nicht; ebenso wie der Rentenentziehungsbescheid auf Grund einer förmlichen Feststellung erlassen worden sei, bedeute es eine an die Stelle der Feststellung durch den Versicherungsträger tretende Feststellung der höheren Instanz, wenn sie nach sachlicher Prüfung des streitigen Anspruchs zu dem Ergebnis komme, daß die vom Versicherungsträger erstrebte Rentenherabsetzung unbegründet sei und dem Verletzten eine höhere Rente zustehe. In Übereinstimmung mit diesen Ausführungen sieht auch der erkennende Senat in der einen Herabsetzungsbescheid aufhebenden oder ändernden gerichtlichen Entscheidung eine „neue Feststellung” im Sinne des § 609 Satz 2 RVO. Damit ist aber noch nicht die im vorliegenden Streitfalle zu entscheidende Frage beantwortet, für welchen Zeitpunkt die vom Gericht getroffene Feststellung wirkt. Hat sich das Gericht – wie es bei einer reinen Aufhebungsklage gerechtfertigt ist – auf die Prüfung beschränkt, ob der Herabsetzungsbescheid in dem Zeitpunkt, zu dem er wirksam werden sollte, rechtmäßig war, so ist dieser Zeitpunkt auch für den Beginn des Schutzjahres maßgebend (vgl. RVA aaO). Hat das Gericht dagegen – wie dies bei einer mit einer Aufhebungsklage verbundenen Leistungsklage erforderlich ist (BSG 6, 136; 12, 58) – für den gesamten Zeitraum von dem vorgesehenen Wirksamwerden des Herabsetzungsbescheides bis zur letzten mündlichen Verhandlung die für die Feststellung der Entschädigung maßgebenden Verhältnisse geprüft und – auch für den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – eine wesentliche Änderung der Verhältnisse verneint, so kann das Schutzjahr des § 609 Satz 2 RVO, wenn dem Zweck dieser Vorschrift Genüge getan werden soll, nicht in einem früheren Zeitpunkt beginnen. Der abweichenden Auffassung im Schrifttum, welche der grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5120 des RVA beipflichtet, ohne auf den Inhalt des auf den Herabsetzungsbescheid ergehenden Urteils abzustellen (Lauterbach, Unfallversicherung, § 609 Anm. 8, Brackmann, Handbuch der SozVers. Ed. II, 583; Schroeder-Printzen, ZfS 1955, 119), vermochte der Senat nicht zu, folgen.
Im vorliegenden Streitfalle ist das rechtskräftige Urteil des SG vom 9. Juli 1957 auf ein an demselben Tage erstattetes Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Rothammer gestützt. Die Entscheidungsgründe des Urteils lassen erkennen, daß das SG in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen für den gesamten Zeitraum vom 1. November 1956 bis zur mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 1957 die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Dauerrente von 20 v.H. verneint hat. Die in dem Urteil liegende „Neufeststellung” der Dauerrente ist daher auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vom 9. Juli 1957 zu beziehen. Daraus folgt, daß in dem Zeitpunkt, in welchem der im, vorliegenden Streitverfahren angefochtene Herabsetzungsbescheid vom 20. Dezember 1957 wirksam werden sollte, nämlich am 1. Februar 1958, das Schutz jahr des § 609 Satz 2 RVO noch nicht abgelaufen war. Der Bescheid ist somit rechtswidrig; das SG hat ihn zu Recht aufgehoben. Infolgedessen war das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Unterschriften
Demiani, Hunger, Schmitt
Fundstellen