Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorruhestandsgeld, Höhe, DDR. Maßgaben, Einigungsvertrag. Bestandsschutz. Besitzstand. Zahlbetrag. Neufestsetzung
Leitsatz (amtlich)
Die Bestandsschutzgarantie der Maßgaben zum Einigungsvertrag für das nach DDR-Recht gewährte Vorruhestandsgeld betrifft grundsätzlich den Zahlbetrag. Sie wirkt so lange, bis das von der Bundesanstalt für Arbeit zwecks Weiterzahlung neu berechnete Vorruhestandsgeld durch Dynamisierung jenen Zahlbetrag übersteigt.
Normenkette
EinigVtr Anl II Kap VIII E III Nr. 5 Fassung: 1990-09-18; VRGeldV DDR
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. November 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Im Streit ist (noch) die Zahlung eines höheren Vorruhestandsgeldes (Vog) für die Zeit vom 1. November 1990 bis 31. Dezember 1991 (2.194,00 DM).
Der am 12. Mai 1930 geborene Kläger, der zuletzt in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Staatssekretär im Wirtschaftskomitee war, schied zum 30. Juni 1990 nach 46 Jahren versicherungspflichtiger Beschäftigung (zuletzt vom 1. Januar 1985 bis 30. Juni 1990) wegen ärztlich festgestellter gesundheitlicher Nichteignung aus dem Arbeitsverhältnis aus; eine zumutbare andere Arbeit bzw eine zumutbare Umschulung konnte ihm nicht angeboten werden. Er erhielt aufgrund einer am 4. April 1990 nach der Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld (der DDR) vom 8. Februar 1990 – GBl I Nr 7 S 42 – (Vog-VO) mit seiner damaligen Arbeitgeberin geschlossenen “Vereinbarung zur Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses und zur Gewährung von Vorruhestandsgeld” zunächst ab 1. Juli 1990 von dieser ein Vog in Höhe von monatlich 2.268,00 Mark (abzüglich eines Betrages in Höhe von 68,04 Mark für die freiwillige zusätzliche Altersversorgung der Mitarbeiter des Staatsapparates). Ab September (bis 30. Oktober 1990) wurde Vog in Höhe von 2.194,00 Mark monatlich (Bruttoverdienst: 3.950,00 Mark) gezahlt.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger auf dessen Antrag Vog in Höhe von 1.319,00 DM ab November 1990 (Bescheid vom 8. Dezember 1990; Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1991) und in Höhe von 1.409,00 DM monatlich ab 1. Januar 1991 (Bescheid vom 14. Mai 1991). Dabei hatte sie die Leistung auf 70 % des Nettoverdienstes begrenzt, der sich aus einem auf die Bemessungsgrenze von 2.700,00 DM reduzierten Bruttoverdienst ergab.
Nachdem der Kläger beim Sozialgericht (SG) Klage eingereicht hatte, hob die Beklagte den Bescheid vom 8. Dezember 1990 auf und gewährte ab 3. Oktober 1990 Vog in Höhe von 1.509,00 DM monatlich (Bescheid vom 26. Juli 1991); mit einem zweiten Bescheid vom selben Tage wurde auch der Bescheid vom 14. Mai 1991 aufgehoben und ab 1. Januar 1991 Vog in Höhe von 1.611,00 DM monatlich bewilligt. Schließlich wurde durch einen dritten Bescheid – ebenfalls vom 26. Juli 1991 – ein maschinell erstellter Dynamisierungsbescheid für die Zeit ab 1. Juli 1991 aufgehoben und ein monatliches Vog in Höhe von 1.853,00 DM festgesetzt.
Das SG hat dem Begehren des Klägers zum Teil stattgegeben (Urteil vom 24. April 1992). Die Beklagte wurde unter Abänderung der Bewilligungsbescheide vom 26. Juli 1991 und eines zwischenzeitlich ergangenen Bescheids vom 29. Januar 1992 (Vog ab 1. Januar 1992) verurteilt, für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1991 Vog in Höhe von monatlich 1.642,00 DM, für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1991 von monatlich 1.997,00 DM sowie ab 1. April 1992 von monatlich 2.276,00 DM zu zahlen. Im übrigen wurde die Klage auf höhere Leistungen abgewiesen und die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt; der Kläger hat im Wege der Anschlußberufung beantragt, das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten vom 26. Juli 1991 und 29. Januar 1992 sowie weitere zwischenzeitlich ergangene Bescheide zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, Vog in Höhe von 2.268,00 DM zu zahlen und diesen Betrag entsprechend den Vomhundertsätzen der Rentenanpassungsverordnungen – erstmals am 1. Januar 1991 – zu dynamisieren.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Zahlung von Vog vom 1. November 1990 bis 31. März 1992 in Höhe von 2.194,00 DM an den Kläger verurteilt, das erstinstanzliche Urteil aber aufgehoben, soweit die Beklagte zur Zahlung von Vog vom 1. April 1992 bis 30. Juni 1992 in Höhe von mehr als 2.194,00 DM verurteilt worden ist. Im übrigen wurden dem Kläger höhere Leistungen versagt (Urteil vom 19. November 1993). Zur Begründung der Entscheidung ist ausgeführt, aus der Denkschrift zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag (EinigVtr) – (BT-Drucks 11/7760) ergebe sich, daß das bis zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit gezahlte Vog in der bisherigen Höhe weiterzuzahlen sei, bis der neuzuberechnende Betrag höher sei. Der bestandsgeschützte Zahlbetrag selbst dürfte jedoch nicht dynamisiert werden. Erst ab 1. Juli 1992 übersteige das von der Beklagten bewilligte Vog mit 2.333,00 DM den zuletzt vor dem 3. Oktober 1990 gezahlten Betrag von 2.194,00 Mark.
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt, diese jedoch insoweit beschränkt, als das LSG sie verurteilt hat, für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 1990 mehr als 1.509,00 DM, für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1991 mehr als 1.736,00 DM und für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1991 mehr als 1.997,00 DM zu zahlen. Sie rügt eine Verletzung von Nr 5 der Anl zum EinigVtr (Anl II Kap VIII Sachgebiet E Abschn III Nr 5 Buchst c und e). Sie ist der Ansicht, die in dieser Vorschrift enthaltene Besitzstandsklausel gelte nur unter gleichzeitiger Beschränkung auf die Bemessungsgrenze in der Arbeitslosenversicherung (2.700,00 DM brutto). Bestandsgeschützt sei damit höchstens ein Zahlbetrag von 70 % des aus diesem Betrag zu errechnenden Nettoarbeitsentgelts (2.154,40 DM). Danach stünden dem Kläger ab 1. November 1990 1.509,00 DM und nach Dynamisierung ab 1. Januar 1991 1.736,00 DM bzw ab 1. Juli 1991 dann 1.997,00 DM zu; ab 1. Januar 1992 übersteige das dem Kläger aufgrund Neuberechnung zu zahlende Vog ohnedies den letzten Zahlbetrag.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG insoweit zurückzuweisen, als der Kläger höheres Vog als 1.509,00 DM für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 1990, als 1.736,00 DM für die Zeit ab 1. Januar bis 30. Juni 1991 und als 1.997,00 DM für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1991 begehrt.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung macht bereits der Wortlaut von Nr 5 Anl zum EinigVtr deutlich, daß ein umfassender Bestandsschutz des vor dem 3. Oktober 1990 gezahlten Vog beabsichtigt gewesen sei. Darauf habe er vertrauen dürfen; eine Leistungsbegrenzung durch Übernahme der in der Arbeitslosenversicherung geltenden Bemessungsgrenze vereinbare sich hiermit nicht.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch, ob dem Kläger für den Zeitraum vom 1. November 1990 bis 31. Dezember 1991 höheres Vog (2.194,00 DM) als von der Beklagten zugebilligt (1.509,00 DM vom 1. November bis 31. Dezember 1990; 1.736,00 DM vom 1. Januar bis 30. Juni 1991; 1.997,00 DM vom 1. Juli bis 31. Dezember 1991) zusteht. Insoweit wehrt sich der Kläger mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG) gegen die drei Bescheide der Beklagten vom 26. Juli 1991, die nach Klageerhebung ergangen und gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden sind. Mit den Bescheiden hat die Beklagte frühere Bewilligungsbescheide – damit in der Sache auch den Widerspruchsbescheid – aufgehoben (Bescheide vom 8. Dezember 1990 und vom 14. Mai 1991; maschineller Dynamisierungsbescheid vom Juli 1991) und höhere Leistungen bewilligt; die früheren Bescheide sind mithin nicht mehr wirksam (§ 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫). Wegen der Begrenzung der Revision auf den Zeitraum vom 1. November 1990 bis 31. Dezember 1991 und die von der Beklagten mittlerweile für diesen Zeitraum zugestandenen Leistungen ist im Ergebnis nur noch über Vog-Beträge zu entscheiden, die das LSG dem Kläger auf dessen Berufung zuerkannt hat.
Verfahrensmängel, die bei zulässiger Revision von Amts wegen zu beachten sind, stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen.
Die Berufung des Klägers stellt sich als zulässige unselbständige Ausschlußberufung dar (§ 202 SGG iVm § 521 Abs 1 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫). Auf die zulässige Berufung der Beklagten hat der Kläger nämlich nach Ablauf der Berufungsfrist (§ 151 SGG) ein als Berufung bezeichnetes Rechtsmittel eingelegt, das er in der mündlichen Verhandlung zulässigerweise als Anschlußberufung gegen das ihn beschwerende Urteil des SG aufrechterhalten hat (vgl zu den Voraussetzungen der Anschlußberufung: Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand Februar 1993, § 143 RdNrn 68 ff mwN; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 143 RdNr 5 mwN).
Die Klage war ebenfalls zulässig. Dabei hat der Senat gemäß § 17a Abs 5 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in der seit 1. Januar 1991 geltenden Fassung des Vierten Gesetzes zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vom 17. Dezember 1990 (BGBl I 2809) nicht zu prüfen, ob der beschrittene Rechtsweg eröffnet ist; § 17a Abs 5 GVG nF findet nur auf diejenigen Entscheidungen keine Anwendung, die vor seinem Inkrafttreten verkündet worden sind (vgl nur BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 1 mwN). Ohnedies hält der Senat Rechtsstreitigkeiten über das Vog nach Nr 5 Anl zum EinigVtr wegen der dort enthaltenen Kompetenzzuweisung an die Beklagte und der Verweisung auf Rechtsgrundsätze und Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten der übrigen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA) iS des § 51 Abs 1 SGG.
Der Klage hat das LSG für den noch streitigen Zeitraum zu Recht in Höhe von 2.194,00 DM stattgegeben.
Der Anspruch des Klägers richtet sich nach Art 9 Abs 2 EinigVtr iVm Nr 5 Anl zum EinigVtr idF der Vereinbarung vom 18. September 1990 (BGBl II 1239) sowie Art 1 des Gesetzes zum EinigVtr – Einigungsvertragsgesetz – und der Vereinbarung vom 18. September 1990 (vom 23. September 1990 – BGBl II 885). Danach gilt die Vog-VO für Arbeitnehmer, die bis zum Wirksamwerden des Beitritts die Voraussetzungen dieser Verordnung (VO) erfüllen, mit der Maßgabe weiter, daß
- ua das Vog auf Antrag von der BA aus Mitteln des Bundes gezahlt wird,
- das Vog 65 vH des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts der letzten drei Monate beträgt,
- das für die Berechnung des Nettoarbeitsentgelts maßgebende Arbeitsentgelt durch die für das in Art 3 des Vertrages genannte Gebiet (neue Bundesländer) geltende Bemessungsgrenze in der Arbeitslosenversicherung begrenzt wird,
- §§ 112a, 115 AFG entsprechend anzuwenden sind,
- eine Neufestlegung des Vog nach Buchst b so lange unterbleibt, bis der nach Buchst b festzulegende Betrag das vor dem Tag des Wirksamwerdens des Beitritts zuletzt gezahlte Vog übersteigt.
Im Ergebnis wird dem Vog-Empfänger der früheren DDR durch diese Regelung mit der Beklagten – ähnlich der Situation in § 9 des Gesetzes zur Förderung von Vorruhestandsleistungen (VRG) – ein neuer Schuldner gestellt, wobei offenbleiben kann, ob der aus der Vog-VO abgeleitete Anspruch vor dem 3. Oktober 1990 privat- oder öffentlich-rechtlichen Charakter besaß; jedenfalls handelt es sich nunmehr im Hinblick auf das gesamte Normengeflecht, in das er eingebaut ist, ganz offensichtlich um einen solchen letzterer Art. Anders als bei der Konstellation des § 9 VRG ist allerdings der aus der Vog-VO resultierende Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen früheren Arbeitgeber mit der Wiedervereinigung untergegangen, wie der Wortlaut der Vorschrift belegt. Eine Weitergeltung der Vog-VO wird nämlich nur mit der Maßgabe angeordnet, daß das Vog (auf Antrag) von der Beklagten gezahlt wird. Dies kann nur bedeuten, daß die Regelungen der Vog-VO zum Anspruchsgegner ihre Wirkung verloren haben; ob gleiches gilt, wenn Vog vereinbarungsgemäß entgegen oder über die gesetzlichen Regelungen der Vog-VO hinaus gezahlt worden ist, oder ob sich dann ein Anspruch weiterhin aus der Vereinbarung als solcher ergibt, bedarf keiner Entscheidung. Ein Anspruch gegen die Beklagte kann hieraus jedenfalls nicht hergeleitet werden; er setzt die Erfüllung der Voraussetzungen der Vog-VO bis zum 3. Oktober 1990 voraus.
Nach § 2 der Vog-VO hatten Anspruch auf Vog Arbeiter und Angestellte bei Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses ab dem fünften Jahr vor Erreichen des Rentenalters, wenn
- sie die vereinbarte Arbeitsaufgabe ua wegen ärztlich festgestellter gesundheitlicher Nichteignung nicht ausüben konnten,
- ihnen keine zumutbare andere Arbeit im Betrieb oder in einem anderen Betrieb oder keine zumutbare Umschulung angeboten werden konnte und
- sie mindestens 25 Jahre (Männer) bzw 20 Jahre (Frauen) versicherungspflichtig tätig waren, davon mindestens fünf Jahre vor Ausscheiden aus dem Arbeitsrechtsverhältnis.
Das Vog betrug für Vollbeschäftigte 70 % des durchschnittlichen Nettolohns der letzten zwölf Monate (§ 3 Vog-VO). § 5 der aufgrund der in § 8 Abs 1 Vog-VO enthaltenen Ermächtigung zum Erlaß von Durchführungsbestimmungen ergangenen Zweiten Durchführungsbestimmung zur Vog-VO vom 1. März 1990 (GBl I 96) schrieb zur Konkretisierung der Gesetzesvorgabe eine schriftliche Vereinbarung zwischen Betrieb und Werktätigem vor. Dabei war zu beachten, daß sich der durchschnittliche Nettolohn aus dem Bruttodurchschnittslohn abzüglich der Lohnsteuer und des Beitrages zur Sozialversicherung errechnete (§ 9 der Zweiten Durchführungsbestimmung). Zur Berechnung des Durchschnittslohns war die VO vom 21. Dezember 1961 über die Berechnung des Durchschnittsverdienstes und über die Lohnzahlung (GBl II 551) heranzuziehen; das Vog war jedoch neu zu berechnen, wenn im Betrieb Lohnveränderungen gemäß § 6 der Fünften Durchführungsbestimmung vom 7. März 1985 zur VO über die Berechnung des Durchschnittsverdienstes und über die Lohnzahlung (GBl I 109) eintraten, die für den Werktätigen bei Fortsetzung seiner Tätigkeit wirksam geworden wären (§ 9 Abs 2 der Zweiten Durchführungsbestimmung).
Die an die Stelle dieses Systems getretenen Regelungen in Nr 5 Anl zum EinigVtr enthalten inhaltlich neben der Auswechslung des Schuldners folgende Abweichungen:
- Das Vog wurde von 70 vH des durchschnittlichen Nettoentgeltes abgesenkt auf 65 vH, und zwar regelmäßig ausgehend vom Verdienst der letzten drei Monate, nicht, wie in der Vog-VO vorgesehen, der letzten zwölf Monate, die sich allerdings ebenfalls verkürzen konnten (vgl Urteil des Senats vom 1. Juni 1994 – 7 RAr 48/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
- Das durchschnittliche Nettoarbeitsentgelt sollte den Betrag nicht überschreiten, der sich netto aus der geltenden Bemessungsgrenze in der Arbeitslosenversicherung errechnete; sie lag bei 2.700,00 DM brutto (vgl den gemäß Anl II Kap VIII Sachgebiet E Abschn III Nr 1 Buchst a ee EinigVtr fortgeltenden § 111 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes der früheren DDR vom 22. Juni 1990 – GBl I 403 – iVm dem gemäß Anl II Kap VIII Sachgebiet F Abschn III Nr 2 Buchst b EinigVtr fortgeltenden § 42 des Gesetzes über die Sozialversicherung vom 28. Juni 1990 – GBl I 486).
- Das (nach Buchst b und c ermittelte) Nettoarbeitsentgelt sollte entgegen der früheren individuellen Anpassung an die Lohn- und Gehaltsentwicklung (§ 9 Abs 2 der Zweiten Durchführungsbestimmung zur Vog-VO) nach der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung in entsprechender Anwendung des § 112a AFG dynamisiert werden (vgl hierzu Urteil des Senats vom 1. Juni 1994 – 7 RAr 48/93).
- An die Stelle eines anrechnungsfreien Hinzuverdienstes nach § 4 Vog-VO traten die Werte des § 115 AFG.
- Für Fälle eines bei Anwendung des neuen Rechts niedrigeren Vog wurde ein Bestandsschutz geregelt, über dessen Umfang im vorliegenden Rechtsstreit gestritten wird.
Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen Vorgaben hat der Kläger vom 1. November 1990 bis 31. Dezember 1991 Anspruch auf Vog in Höhe von 2.194,00 DM. Er erfüllte bis 3. Oktober die allgemeinen Voraussetzungen des § 2 Vog-VO für die Gewährung der Leistung, so daß offenbleiben kann, ob und inwieweit die Beklagte in diesem Punkt überhaupt ein Prüfungsrecht besitzt. Der Kläger hat den Antrag auf Gewährung von Vog selbst und vor November 1990 gestellt; es bedarf deshalb ebensowenig der Entscheidung, ob der Arbeitgeber ein Antragsrecht besitzt und ob Leistungen für Zeiten vor Antragstellung erbracht werden müssen.
Soweit es die Höhe des Vog betrifft, wäre zwar nach der Systematik der Vorschriften des EinigVtr zunächst entsprechend den in Nr 5 Anl zum EinigVtr enthaltenen Maßgaben das durchschnittliche Nettoarbeitsentgelt der letzten drei Monate zu ermitteln (Buchst b) und dieses auf den Betrag zu begrenzen, der dem (fiktiven) aus 2.700,00 DM brutto errechneten individuellen Nettoarbeitsentgelt entspricht (Buchst c); das Vog in Höhe von 65 vH dieses Nettoarbeitsentgelts wäre sodann nach Buchst d zu dynamisieren. Vorliegend bedarf es indes dieser Prüfung nicht, weil dem Kläger für den streitigen Zeitraum zumindest 2.194,00 DM über Buchst e zu zahlen sind, bevor eine Neufestlegung des Vog nach den “Maßgaberegelungen” zulässig wäre. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist nämlich als Bemessungsmaßstab nicht das zuletzt gezahlte Vog zu begrenzen auf 70 % des Nettoarbeitsentgelts, das sich aus der (bruttolohnbezogenen) Leistungsbemessungsgrenze von 2.700,00 DM ergab.
Hiergegen spricht neben der dargestellten Systematik bereits der Wortlaut der Nr 5 Anl zum EinigVtr. Wenn Buchst a einerseits eine Zahlung des Vog durch die Beklagte vorschreibt, Buchst e andererseits eine Neufestlegung des Vog untersagt, bis der festzulegende Betrag das vor dem Tag des Wirksamwerdens des Beitritts zuletzt gezahlte Vog übersteigt, so setzt diese Neufestlegung denknotwendig die (Weiter-)Zahlung eines anderen Betrages voraus; dies kann nur der zuletzt gezahlte Betrag sein. Bleibt man gleichwohl der Argumentation der Beklagten verhaftet, wonach der Hinweis in Buchst e auf Neufestlegung nach Buchst b eine solche nach Buchst c mit dessen Leistungsbemessungsgrenze ausklammern sollte, hätte dies nur zur Folge, daß der Zahlbetrag zu gewähren wäre, bis das allein nach Buchst b errechnete Vog diesen Zahlbetrag überschritte. Dann dürfte die Beklagte aber konsequenterweise – entgegen ihrer eigenen Praxis – auch die in Buchst d vorgesehene Dynamisierung in die Vergleichsberechnung nicht einbeziehen. Daß ein derartiges Vorgehen sinnwidrig wäre, liegt auf der Hand; regelmäßig verbliebe es auf Dauer beim Zahlbetrag. Die Leistungsbemessungsgrenze (Buchst c) und die Dynamisierungsregelung (Buchst d) müssen vielmehr als das Arbeitsentgelt bestimmende Faktoren in Buchst b hineingelesen werden; die Verweisung in Buchst e auf Buchst b umfaßt mithin ohne weiteres auch Buchst c und ist wie folgt zu lesen: Eine Neufeststellung des Vog nach den Maßgabevorschriften über Prozentsatz, Leistungsbemessungsgrenze und Dynamisierung unterbleibt jedenfalls so lange, bis der nach diesen Maßgabevorschriften festzulegende Betrag das vor dem Tag des Wirksamwerdens des Beitritts zuletzt gezahlte Vog übersteigt. Ob der Zahlbetrag auch im Hinblick auf unterschiedliche Hinzuverdienstmöglichkeiten vor und nach Wiedervereinigung gewährleistet ist, bedarf mangels Einkommens des Klägers iS des § 115 AFG keiner Entscheidung.
Nur dieses Verständnis der Vorschrift wird Sinn und Zweck der Regelung gerecht, das Vertrauen eines Vog-Beziehers in den Bestand seines zu DDR-Zeiten erworbenen, im wesentlichen auf erarbeitetem Entgelt beruhenden Anspruchs auf Vog zu schützen. Dieser Schutz muß dann aber und soll deshalb so lange gegeben sein, bis dem Berechtigten der modifizierte Vog-Anspruch nach Bundesrecht in gleichem Wert zuwächst. Hierin sieht sich der Senat bestätigt durch die Ausführungen in der sog Denkschrift zum EinigVtr (BT-Drucks 11/7760 S 370 zu Art 30 Abs 2). Darin heißt es, daß mit Wirksamwerden des Beitritts die mit VO vom 8. Februar 1990 getroffene Vorruhestandsregelung durch die Einführung eines Altersübergangsgeldes abgelöst werde. Die bis zu diesem Termin in den Vorruhestand getretenen Arbeitnehmer erhielten weiter Vog, das – unter Wahrung des Besitzstandes – nunmehr nach 65 vH des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts der letzten drei Monate berechnet, durch die im Gebiet der beigetretenen Länder geltende Bemessungsgrenze begrenzt und vom Bund vollständig finanziert werde. Diese Formulierung läßt keinerlei Zweifel an der Absicht des Gesetzgebers: Dem Empfänger sollte trotz gegenüber der Vog-VO geänderter Vorschriften zur Höhe des Anspruch das verbleiben, was er hatte; Besitzstand kann demnach nicht ein geringerer Betrag sein.
Anderes ergibt sich entgegen der Ansicht der Beklagten nicht daraus, daß die ursprüngliche Fassung von Nr 5 Anl zum EiniVtr aufgrund der Vereinbarung vom 18. September 1990 (BGBl II 1239, 1244) geändert worden ist. Ursprünglich lautete Nr 5 Buchst c idF vom 31. August 1990 (BGBl II 889, 1210) zwar wie folgt:
“die Höhe des Nettoarbeitsentgeltes nach Buchst b durch die für das in Art 3 des Vertrages genannte Gebiet geltende Bemessungsgrenze in der Arbeitslosenversicherung begrenzt wird, …”.
Anders als in der jetzigen Regelung war also in Buchst c ausdrücklich auf das Nettoarbeitsentgelt Bezug genommen worden. Daraus läßt sich jedoch keine Begrenzung des Zahlbetrages ableiten. Die Neufassung der Vorschrift hatte vielmehr einen einleuchtenden Grund: Nach der ursprünglichen Fassung wäre bei wörtlicher Auslegung die Höhe des Nettoarbeitsentgelts systemwidrig durch eine bruttolohnbezogene Bemessungsgrenze beschränkt gewesen. Die jetzige Fassung schließt dies aus. Dem Umstand, daß die erste Vertragsfassung noch deutlicher zum Ausdruck brachte, daß die Bemessungsgrenze in Buchst b hineinzulesen war, kommt keine wesentliche Bedeutung zu.
Spricht mithin nichts für eine Reduzierung des Zahlbetrags im Rahmen der Bestandsschutzregelung, so steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch in Höhe von 2.194,00 DM zu, weil ihm dieser Betrag zuletzt vor dem 3. Oktober 1990 gezahlt worden ist. Ob er nach den Vorschriften der Vog-VO richtig berechnet war, bedarf keiner Überprüfung; eine regelmäßige Kontrolle würde der Bestandsschutzgarantie zuwiderlaufen. Die Vog-Empfänger sollten darauf vertrauen dürfen, daß die bisher aufgrund der Vog-VO und der darauf basierenden Vereinbarung gezahlten Leistungen nach Wiedervereinigung durch die Beklagte erbracht würden, wenn schon der ursprüngliche Anspruch entfiel. Ob hiervon in Fällen offensichtlicher Rechtswidrigkeit oder Manipulationen wegen fehlenden Vertrauensschutzes eine Ausnahme zu machen ist, kann offenbleiben. Anhaltspunkte für derartige Konstellationen liegen nicht vor.
Soweit im Rahmen des Revisionsverfahrens Folgebescheide über die Höhe des Vog ergangen sind, mag das zuständige SG (§ 171 Abs 2 SGG) den Umstand zu berücksichtigen haben, daß der Kläger selbst zunächst am 9. Februar 1994 Revision eingelegt, diese jedoch am 8. April 1994 wiederum zurückgenommen hat, bevor Anträge gestellt worden sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 911865 |
BSGE, 21 |
Breith. 1995, 367 |