Leitsatz (amtlich)
Eine in der Invalidenversicherung Versicherte braucht während des Bezugs einer Knappschaftswitwenrente sowie einer Knappschaftswitwenvollrente keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft in der eigenen Versicherung zu entrichten.
Normenkette
RVO § 1264 Fassung: 1937-12-21; RKG § 44 Fassung: 1942-10-04
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die im Jahre 1898 geborene Klägerin war vom November 1915 bis Oktober 1919 als Arbeiterin in einem Hüttenwerk beschäftigt; es wurden für diese Zeit Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet. Am 19. Dezember 1919 heiratete sie und gebar während ihrer Ehe sieben Kinder. In der Zeit vom 30. November 1940 bis zum 4. April 1944 war sie als Wagenführerin und Brückenhilfsarbeiterin beschäftigt; es wurden für sie Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet. Am 13. Oktober 1948 starb ihr Ehemann, der in der Invalidenversicherung und in der Knappschaftsversicherung pflichtversichert gewesen war. Sie beantragte am 20. Oktober 1948 die Gewährung der Knappschaftswitwenvollrente. Die Ruhrknappschaft erkannte einen Anspruch auf Knappschaftswitwenrente ab 1. November 1948 an, lehnte aber die Bewilligung der Knappschaftswitwenvollrente ab. Dieser Bescheid wurde rechtskräftig.
Am 30. August 1952 stellte die Klägerin bei der Ruhrknappschaft erneut Antrag auf Gewährung der Knappschaftswitwenvollrente. Nunmehr gewährte ihr die Ruhrknappschaft durch Bescheid vom 20. Oktober 1952 die Knappschaftswitwenvollrente ab 1. September 1952.
Am 11. November 1952 stellte die Klägerin bei der Beklagten Antrag auf Bewilligung der Invalidenrente. Die Beklagte wies diesen Antrag durch Bescheid vom 14. Juni 1954 mit der Begründung ab, daß noch keine Invalidität vorliege und außerdem die Anwartschaft aus der Versicherung der Klägerin nicht erhalten sei, da die nach § 1264 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Jahre 1949 bis 1951 zur Erhaltung der Anwartschaft erforderlichen je 26 Beitragsmarken nicht entrichtet seien und die Voraussetzungen der Halbdeckung gemäß § 1265 RVO nicht erfüllt seien, weil statt der erforderlichen 936 nur 592 Wochenbeiträge nachgewiesen seien.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht in Düsseldorf. Das Sozialgericht wies die Klage durch Urteil vom 19. April 1955 mit der Begründung ab, daß die Anwartschaft aus der Versicherung der Klägerin erloschen sei, weil für die Jahre 1949 bis 1951 keine Beiträge entrichtet worden seien. § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. sei nicht anzuwenden, weil sich diese Vorschrift nur auf die Witwenrente aus der Invalidenversicherung beziehe, nicht aber auf die von der Klägerin bezogenen Renten aus der Knappschaftsversicherung.
Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein. Das Berufungsgericht verurteilte die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts und unter teilweiser Aufhebung des Bescheides der Beklagten, der Klägerin ab 1. Oktober 1953 Invalidenrente zu gewähren. Die Klägerin sei zwar nicht invalide, so daß der geltend gemachte Anspruch für die Zeit bis zum 30. September 1953 nicht begründet sei. Im September 1953 sei aber der besondere Versicherungsfall des § 1253 Abs. 2 RVO a. F. eingetreten, da die Klägerin Mutter von mindestens vier lebend geborenen Kindern sei und sie in diesem Monat das 55. Lebensjahr vollendet habe. Zu dieser Zeit sei die Anwartschaft aus ihrer Invalidenversicherung erhalten gewesen. Bis zum Ende des Jahres 1948 sei sie aus allen entrichteten Beiträgen auf Grund des § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) erhalten. In den folgenden Jahren seien für die Klägerin zwar keine Beiträge zur Invalidenversicherung mehr entrichtet worden, auch lägen keine Ersatztatsachen im Sinne des § 1267 RVO a. F. vor, die Anwartschaft gelte aber nach § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. als erhalten, und zwar in den Jahren 1949 bis 1951 durch den Bezug der Knappschaftswitwenrente und vom Jahre 1952 an durch den Bezug der Knappschaftswitwenvollrente. Es ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 28. Februar 1958 zugestellte Urteil durch Schriftsatz vom 21. März 1958, eingegangen am 22. März 1958, Revision ein und begründete diese durch Schriftsatz vom 17. April 1958, eingegangen am 18. April 1958. Sie rügt die Verletzung des § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts könnte nur den Witwenrenten aus der Invalidenversicherung anwartschaftserhaltende Wirkung in diesem Versicherungszweig beigelegt werden. Darüber hinaus könnten nur solche Witwenrenten anderer Versicherungszweige die Anwartschaft in der Invalidenversicherung erhalten, deren wesentliche Leistungsvoraussetzungen denen des § 1256 RVO a. F. entsprächen (Witwenvollrente der Knappschaftlichen Rentenversicherung, Witwenrente der Angestelltenversicherung mit Leistungsanteilen der Invalidenversicherung). Das Anwartschaftsrecht für die Invalidenversicherung sei nämlich ausschließlich in der Reichsversicherungsordnung geregelt; das Fehlen einer Verweisung auf entsprechende gesetzliche Bestimmungen anderer Versicherungszweige könne nicht als ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers gewertet werden. Da somit die Knappschaftswitwenrente nicht als anwartschaftserhaltend im Sinne des § 1264 Abs. 3 RVO a. F. gelten könne, sei die Anwartschaft aus den von der Klägerin geleisteten Beiträgen erloschen.
Sie hat beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. April 1955 wieder herzustellen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das angefochtene Urteil sei rechtlich nicht zu beanstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat, auch statthaft. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen daher nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.
Da die Klägerin keine Revision eingelegt hat, ist das angefochtene Urteil, soweit der Anspruch abgelehnt ist, bindend. Es war also nur zu prüfen, ob der Anspruch der Klägerin für die Zeit ab 1. Oktober 1953 zu Recht von dem Berufungsgericht anerkannt worden ist.
Da die Klägerin nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht invalide ist, steht ihr jedenfalls nach § 1253 Abs. 1 RVO a. F. ein Anspruch auf Invalidenrente nicht zu. Der Bescheid, durch welchen der Klägerin die Knappschaftswitwenvollrente gewährt wurde, hat hinsichtlich der Frage, ob sie invalide ist, keine Bindungswirkung, weil nur der zuerkannte Anspruch in Rechtskraft erwächst. Es liegen aber, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht entschieden hat, ab 4. September 1953 die Voraussetzungen des § 1253 Abs. 2 RVO a. F. vor, da die Klägerin mindestens vier lebende Kinder geboren hat, ihr Ehemann gestorben ist und sie am 4. September 1953 das 55. Lebensjahr vollendet hat. Auch die versicherungstechnischen Voraussetzungen liegen vor. Die Klägerin hat die Wartezeit erfüllt, da sie mindestens 60 Beitragsmonate zurückgelegt hat. Die Anwartschaft ist nach § 4 Abs. 2 SVAG bis zum 31. Dezember 1948 aus allen bis zu diesem Zeitpunkt entrichteten Beiträgen erhalten, da für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 bis zum 30. November 1948 mindestens ein Beitrag entrichtet worden ist und der Versicherungsfall nicht vor dem 1. Januar 1949 eingetreten ist. Anschließend sind zwar bis zum Eintritt des Versicherungsfalls weder Beiträge entrichtet worden noch liegen Ersatztatsachen vor, auch ist die Halbdeckung bei weitem nicht erreicht, jedoch ist die Anwartschaft nach § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. erhalten, da die Klägerin ab 1. November 1948 Knappschaftswitwenrente und ab 1. September 1952 Knappschaftswitwenvollrente bezieht. Nach den Vorschriften des § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. bewirkt zwar nur der Bezug einer Witwenrente aus der Invalidenversicherung, daß zur Erhaltung der Anwartschaft in einem eigenen Versicherungsverhältnis keine weiteren Beiträge mehr entrichtet zu werden brauchen. Der erkennende Senat hatte jedoch keine Bedenken, diese Vorschrift entsprechend auf die Fälle anzuwenden, in welchen Witwenrente aus anderen Versicherungszweigen bezogen wird, wenn ihre Gewährung gesetzlich an mindestens gleich erhebliche Voraussetzungen geknüpft ist; denn die Interessenlage ist bei diesen Renten dieselbe wie bei den Witwenrenten aus der Invalidenversicherung. Der Zweck dieser Vorschrift, den Bezieher einer Rente von der zur Erhaltung der Anwartschaft in einem anderen Versicherungsverhältnis erforderlichen Entrichtung von Beiträgen freizustellen, weil nicht zumutbar erscheint, daß er zur Entrichtung dieser Beiträge entweder weiterhin eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübt oder, da ihm in aller Regel sonstiges Einkommen oder Vermögen nicht zur Verfügung steht, aus seinem Renteneinkommen die erforderlichen Mittel zur Entrichtung freiwilliger Beiträge entnimmt, spricht für diese Gleichbehandlung der entsprechenden Renten aus anderen Versicherungszweigen. Aus dem Gesetz ist nichts zu entnehmen, was der entsprechenden Berücksichtigung dieser Renten entgegenstehen könnte. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 - Ausbaugesetz - (RGBl. I S. 1393) war die Gleichstellung von Renten aus anderen Versicherungszweigen ausdrücklich vorgeschrieben. Man könnte zwar fragen, ob der Gesetzgeber nicht mit der im Ausbaugesetz getroffenen Neuregelung bewußt von der gegenseitigen Berücksichtigung dieser Renten in den verschiedenen Versicherungszweigen habe abgehen wollen. Dem steht jedoch einmal entgegen, daß für diese Änderung andere Gründe ausschlaggebend waren; denn die bis zum Inkrafttreten des Ausbaugesetzes geltende Regelung, nach welcher die Zeit des Bezugs einer solchen Rente lediglich als Ersatzzeit galt, wurde zu Gunsten der Versicherten dahingehend geändert, daß nunmehr im Kalenderjahr des Bezugs einer solchen Rente sowie für die folgenden Kalenderjahre keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft entrichtet zu werden brauchten. Zudem ist in § 32 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes a. F. ausdrücklich der Bezug einer knappschaftlichen Invalidenpension (Ruhegeld) dem Bezug einer der in § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO a. F. genannten Renten gleichgestellt. Hieraus ist zu schließen, daß der Gesetzgeber die Berücksichtigung von Renten aus anderen Versicherungszweigen nicht grundsätzlich ablehnen wollte. Wenn die Regelung dieser Frage zwar auch recht lückenhaft ist, so steht sie doch zumindest dem vom Senat gezogenen Analogieschluß nicht entgegen. Vieles spricht sogar dafür, daß der Gesetzgeber ganz allgemein eine Berücksichtigung des Bezugs von Renten aus anderen Versicherungszweigen im Auge hatte, daß lediglich die von ihm gefundene Gesetzesfassung dem nicht voll Ausdruck verleiht.
Es war also zu prüfen, ob die Gewährung der Knappschaftswitwenrente und der Knappschaftswitwenvollrente mindestens an gleich erhebliche Voraussetzungen geknüpft ist wie die der Witwenrente aus der Invalidenversicherung. Bei der Knappschaftswitwenvollrente kann hieran kein Zweifel bestehen, da deren Voraussetzungen mit denen der Witwenrente aus der Invalidenversicherung übereinstimmen. Die Knappschaftswitwenrente dagegen ist nur an die Voraussetzung geknüpft, daß der versicherte Ehemann gestorben ist, während die Witwenrente aus der Invalidenversicherung ursprünglich zusätzlich noch weitere Voraussetzungen verlangte, so daß einer entsprechenden Berücksichtigung jedenfalls bis zum Inkrafttreten des SVAG Bedenken entgegenstanden. Nachdem aber seit diesem Zeitpunkt auch die Witwenrente aus der Invalidenversicherung beim Tode des versicherten Ehemannes ohne weitere Voraussetzungen gewährt wird, bestehen diese Bedenken nicht mehr. Es könnte allerdings fraglich sein, ob der Bezug der unbedingten Witwenrente aus der Invalidenversicherung nach Inkrafttreten des SVAG überhaupt noch nach § 1264 Abs. 3 Satz 3 RVO (a. F.) begünstigt ist. Dies ist jedoch zu bejahen. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat bereits mit zutreffender Begründung angenommen, daß sich auch nach Einführung der unbedingten Witwenrente in der Invalidenversicherung durch das SVAG hieran nichts geändert hat (BSG. 1, 95). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an.
Da somit der Bezug der Knappschaftswitwenrente und der Knappschaftswitwenvollrente auch in der Invalidenversicherung begünstigt ist, ist die Anwartschaft der Klägerin in ihrer eigenen Invalidenversicherung erhalten. Es steht ihr daher ein Anspruch auf Invalidenrente ab 1. Oktober 1953 zu, so daß die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden mußte.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 2391812 |
BSGE, 135 |