Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der gerichtlichen Prüfungsbefugnis
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Verfahren des LSG leidet an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 2, wenn das LSG den Beteiligten keine Gelegenheit gegeben hat, das Vorverfahren im anhängigen Rechtsstreit durchzuführen bzw zu Ende zu führen.
2. Bei der Prüfung des Widerspruchsbescheides ist das Gericht befugt, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Umständen zu folgern, daß der Versicherungsträger als "überzeugt" iS des AVG § 79 anzusehen ist; das Gericht darf jedoch nicht ohne weiteres seine Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen.
Orientierungssatz
Für die auf AVG § 79 (= RVO § 1300) gestützte Verpflichtungsklage, die auf Verurteilung zur "Neufeststellung", also zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts gerichtet ist, bedarf es nach SGG § 79 Nr 2 eines Vorverfahrens.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 79 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Mai 1963 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren ... 1915, begehrt Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres ersten Mannes F A. F A entrichtete in den Jahren 1929 bis 1932 169 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung, in der Zeit vom 1. April 1934 bis zum 31. Mai 1945 war er Berufssoldat, in den Jahren 1946 und 1947 entrichtete er als selbständiger Fuhrunternehmer 20 Monatsbeiträge zu dem Versicherungsträger der Sowjetischen Besatzungszone; er starb am 3. Dezember 1947 in Merseburg. Eine Witwenrente bezog die Klägerin danach nicht. Am 23. Oktober 1948 heiratete die Klägerin in M den Automechaniker E B. Diese Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Februar 1957 aus Verschulden des Ehemannes geschieden. Die Klägerin beantragte die Witwenrente im Juli 1957; sie erwirkte im Laufe des Rentenverfahrens die Nachversicherung ihres ersten Ehemannes für die Zeit seiner Zugehörigkeit zur Wehrmacht als Berufssoldat nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen auf Grund des Bescheids des Senators für Inneres des Landes Berlin vom 23. November 1957.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1. Juli 1958 ab, weil die Voraussetzungen für eine "wiederaufgelebte" Witwenrente nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht erfüllt seien; die Klägerin habe bei ihrer Wiederverheiratung keinen Anspruch auf Witwenrente gehabt.
Mit einer Eingabe an die Beklagte vom 28. Juli 1961 beantragte die Klägerin die Überprüfung ihrer Rentenangelegenheit nach § 79 AVG; sie machte geltend, ihr Rentenantrag sei zu Unrecht abgelehnt worden; der Rentenanspruch stütze sich nicht auf § 68 Abs. 2 AVG, er ergebe sich vielmehr unmittelbar aus der Nachversicherung nach § 72 G 131. Die Beklagte teilte der Klägerin darauf mit Schreiben vom 15. November 1961 mit, daß eine erneute Überprüfung zur Zeit nicht erfolgen könne; es müsse zunächst noch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 68 Abs. 2 AVG abgewartet werden.
Die Klägerin erhob am 25. November 1961 Klage, sie machte geltend, die Beklagte verzögere die Entscheidung über ihren Nachprüfungsantrag zu Unrecht.
Mit Bescheid vom 26. Februar 1962 lehnte die Beklagte den Antrag auf Überprüfung des Bescheids vom 1. Juli 1958 nach § 79 AVG ab, weil "neue Beweismittel und Gründe, die zu einer Änderung des ablehnenden Standpunktes führen könnten, nicht vor- bzw. dargelegt worden sind"; die Entscheidung des BSG zu § 68 Abs. 2 AVG vom 9. Juni 1961 habe die Rechtsauffassung, die sie dem früheren ablehnenden Bescheid zugrunde gelegt habe, bestätigt. Die Klägerin beantragte nunmehr, den Bescheid vom 26. Februar 1962 aufzuheben und ihr unter Berücksichtigung der Nachversicherung nach § 72 G 131 die Witwenrente vom 1. März 1957 an zu gewähren.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit Urteil vom 6. April 1962 ab: Die Nachversicherung des ersten Ehemannes der Klägerin nach § 72 G 131 ändere nichts daran, daß zu prüfen sei, ob ein Versicherungsfall der Rentenversicherung vorliege; ein solcher könne für die Klägerin nur nach § 68 Abs. 2 AVG gegeben sein; die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien aber nicht erfüllt; ein Anspruch auf Witwenrente könne - wie das BSG am 9. Juni 1961 entschieden habe - begriffsnotwendig zur dann "wiederaufleben", wenn er einmal bestanden habe und später durch Wiederverheiratung "weggefallen" sei; die Klägerin habe vor ihrer Wiederverheiratung keinen Anspruch auf Witwenrente gehabt.
Die Klägerin legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Berlin ein.
Das LSG wies die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 20. Mai 1963 zurück. Das LSG führte aus, es habe keine Sachentscheidung über den Anspruch der Klägerin treffen können, weil die Klage unzulässig sei; das SG habe die Klage aus prozessualen Gründen abweisen müssen; die Klägerin sei vor dem SG von der "Untätigkeitsklage" (§§ 54 Abs. 1, 88 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) durch eine zulässige Klageänderung (§ 99 Abs. 1 und 2 SGG) zur Aufhebungs- und Verpflichtungsklage - auf Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes - (§ 54 Abs. 1 Satz 1) übergegangen; dieser Klage habe aber nach § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren vorangehen müssen.
Gegen das Urteil des LSG legte die Klägerin Revision ein. Sie beantragte,
unter Aufhebung der Entscheidungen der "Vorinstanzen" die Beklagte zu verurteilen, in Abänderung und Ergänzung des Bescheids vom 1. Juli 1958 unter Berücksichtigung der durch rechtskräftig gewordenen Bescheid des Senators für Inneres vom 23. November 1957 festgestellten Nachversicherung gemäß § 72 G 131 die beantragte Hinterbliebenenrente vom 1. März 1957 an zu gewähren und die rückständigen Rentenbeträge mit 4 % jährlich jeweils seit Fälligkeit zu verzinsen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin machte geltend, das LSG habe zu Unrecht nicht geprüft, ob der Rentenanspruch der Klägerin nach § 72 G 131 begründet sei; es habe auch die Verfahrensvorschriften der §§ 103, 106, 128 SGG verletzt; im übrigen habe das LSG den Beteiligten Gelegenheit geben müssen, das Vorverfahren im anhängigen Rechtsstreit durchzuführen.
Die Beklagte stellte keine Anträge.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das - die Klage aus sachlichen Gründen abweisende - Urteil des SG, zurückgewiesen, weil die Klage unzulässig gewesen sei; es hat keine Sachentscheidung getroffen, weil das nach § 79 Nr. 2 SGG notwendige Vorverfahren gefehlt habe. Die Klägerin rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil das LSG den Beteiligten keine Gelegenheit gegeben habe, das Vorverfahren im anhängigen Rechtsstreit durchzuführen bzw. zu Ende zu führen.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß sich die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. Februar 1962 richtet. In diesem Bescheid hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Überprüfung des bindend gewordenen (§ 77 SGG) Bescheids über die Versagung der Witwenrente vom 1. Juli 1958 "unter Berücksichtigung der sich aus der Nachversicherung nach § 72 G 131 ergebenden Rechtslage" abgelehnt, weil die rechtlichen Einwände der Klägerin gegen den Bescheid vom 1. Juli 1958 unbegründet seien. Sie hat damit die "Neufeststellung" der Rente nach § 79 AVG abgelehnt.
Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe ihr die Rente zu Unrecht versagt; es seien die Voraussetzungen des § 79 AVG gegeben, unter denen die Beklagte nicht mehr an der Bindungswirkung des "Erstbescheids" (vom 1. Juli 1958) festhalten dürfe, sondern die Rente " neufeststellen ", d. h. einen ihr günstigen "Zweitbescheid" erteilen müsse. Das Klagebegehren geht deshalb dahin, daß der die Neufeststellung ablehnende Bescheid vom 26. Februar 1962 als rechtswidrig aufgehoben und die Beklagte durch Urteil verpflichtet werde, einen "neuen", bisher "abgelehnten" Bescheid, durch den ihr die Rente gewährt wird, zu erteilen. Es handelt sich somit um eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage i. S. des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Für die auf § 79 AVG gestützte Verpflichtungsklage, die auf Verurteilung zur "Neufeststellung", also zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts gerichtet ist, bedarf es nach § 79 Nr. 2 SGG eines Vorverfahrens (Urteil des BSG vom 18. Februar 1964, DVBl 1964, 484 = SozR Nr. 11 zu § 79 SGG; Urteil des BSG vom 10. April 1964 - 1 RA 75/60 -). Das Vorverfahren ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Beklagte im Prozeß an der angefochtenen Entscheidung festgehalten hat (vgl. die Urteile des BSG aaO). An der Notwendigkeit des Vorverfahrens ändert auch nichts, daß die Klägerin zunächst - wegen "Nichterledigung" ihres Überprüfungsantrags - Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 SGG erhoben hat und sodann - nachdem die Beklagte den Bescheid vom 26. Februar 1962 erteilt hat - mit einer zulässigen Klageänderung (§ 99 Abs. 1 SGG) zur Aufhebungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG übergegangen ist (vgl. auch Urteil des BSG vom 14. April 1964 - 5 RKn 61/62 - SozR SGG § 80 Bl. Da 1 Nr. 5).
Insoweit hat das LSG die Rechtslage zutreffend beurteilt; es hat jedoch die Klage nicht wegen Fehlens des Vorverfahrens ohne weiteres als unzulässig ansehen und die Berufung schon aus diesem Grunde zurückweisen dürfen. Das LSG hat beachten müssen, daß das Vorverfahren noch während des gerichtlichen Verfahrens, und zwar auch noch in der Berufungsinstanz nachgeholt werden kann; es hat davon ausgehen müssen, daß in den schriftlichen Vorstellungen der Klägerin gegen den Bescheid vom 26. Februar 1962 (Schreiben der Klägerin an den Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte - BfA - vom 14. März 1962 und Schriftsatz vom 14. März 1962 an das SG) der - rechtzeitig eingelegte - Widerspruch (§§ 83, 84 SGG) gegen den Bescheid vom 26. Februar 1962 enthalten ist. Das LSG hat unterstellen müssen, daß die Klägerin, wenn ihr prozessuales Ziel - die Verurteilung der Beklagten zur "Neufeststellung" nach § 79 AVG - nicht anders zu erreichen ist, auch die Durchführung des Vorverfahrens begehrt, um auch den Widerspruchsbescheid in die Klage "mit einbeziehen zu können". Bei dieser Rechtslage ist, solange ein Widerspruchsbescheid nicht vorliegt, den Beteiligten vor Entscheidung über die Sache noch Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen; dies ist schon aus prozeßökonomischen Gründen geboten (vgl. auch BSG 8, 3; Urteil des BSG vom 30. November 1961 in SozR SGG § 78 Bl. Da 1 Nr. 5). Das LSG hat deshalb verfahrensrechtlich nicht einwandfrei gehandelt, wenn es - ohne auch nur die Möglichkeit zu prüfen, noch im vorliegenden Rechtsstreit alsbald zu der von den Beteiligten gewünschten Sachentscheidung zu kommen - über die Berufung durch ein "Prozeßurteil" entschieden hat; es hat damit die Beteiligten ohne zwingenden Grund auf einen neuen Rechtsstreit verwiesen. Die Rüge der Klägerin, das LSG habe zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen, trifft danach zu; sie ist auch in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form erhoben. Die Revision ist deshalb nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt (§ 164 SGG) und sonach zulässig. Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird nunmehr unter Nachholung des Vorverfahrens über die zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zu entscheiden haben. Bei der Prüfung des Widerspruchsbescheids wird zu beachten sein, daß das Gericht befugt ist, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Umständen zu folgern, daß die Beklagte als "überzeugt" i. S. von § 79 AVG anzusehen ist. Ob diese Folgerung zu ziehen ist, wird davon abhängig sein, ob aufgrund der vorliegenden Umstände die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids (vom 1. Juli 1958) - wenn sie überhaupt gegeben ist - so offensichtlich ist, daß dies die Beklagte bei erneuter Prüfung hätte erkennen müssen. Das Gericht darf jedoch nicht ohne weiteres seine Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen (vgl. auch BSG 19, 38, 43; Urteil des BSG vom 18. Februar 1964 - 11/1 RA 90/61 -).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen