Leitsatz (amtlich)
Hat des LSG nicht alle tatsächlichen Feststellungen getroffen, auf die es für die Entscheidung über den Anspruch auf Rente ankommt, so kann das BSG die fehlenden tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen, also auch nicht aus den Beiakten entnehmen.
Normenkette
SGG § 163 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 22. Juni 1961 wird aufgehoben; der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Durch Bescheid vom 12. Mai 1958 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom Februar 1955 auf Gewährung von Ruhegeld nach Einholung mehrerer ärztlicher Gutachten wegen fehlender Berufsunfähigkeit ab. Auf die Klage zog das Sozialgericht (SG) Bremen zwei weitere Gutachten bei; das erste erstatteten Prof. Dr. B-P und Assistent Dr. G von der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität H (Gutachten B.), das zweite Präsident a. D. Dr. med. W (Gutachten W.). Das SG verurteilte die Beklagte, der Klägerin "Rente wegen Berufsunfähigkeit und Invalidität in gesetzlicher Höhe ab Antragstellung" zu zahlen (Urteil vom 17. Oktober 1960). Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 22. Juni 1961 zurück; aufgrund der Gutachten B. und W. habe es keine Bedenken "festzustellen, daß bei der Klägerin in Anbetracht der internistischerseits erhobenen Befunde und unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden krankhaften neurotischen Störungen ab Antragstellung die Voraussetzungen für die Gewährung des Ruhegeldes aus der Angestelltenversicherung (AnV) einschließlich der Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) erfüllt sind".
Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,
die Klage unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile abzuweisen.
Sachlich-rechtlich rügte sie eine unrichtige Auslegung der Vorschriften des alten und neuen Rechts über die Berufsunfähigkeit und die Invalidität. Das LSG habe neurotische Störungen von Krankheitswert angenommen, weil es die Klägerin offenbar für unfähig halte, diese aus eigener Kraft zu überwinden; es sei aber nicht richtig, daß Neurotiker, sofern ihr Wille nicht durch eine organische Krankheit blockiert sei, zur Überwindung ihrer Hemmungen unfähig seien; im übrigen könne auch kein Gutachter objektive Feststellungen über ihr Wissen um ihre Fehlhaltung und über ihren Freiheitsgrad (Determinationsgrad) treffen. Verfahrensrechtlich rügte die Beklagte Verstöße gegen die §§ 128, 136 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Das LSG sei offenbar von dem nicht bestehenden "Erfahrungssatz" ausgegangen, daß stationäre Untersuchungen (Gutachten B.) grundsätzlich zu besseren Erkenntnissen führen als ambulante; es begründe in seinem Urteil auch nicht, warum die neurotischen Störungen die Berufsunfähigkeit und die Invalidität der Klägerin bewirkten.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 153, 165, 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch begründet, sie hat die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Folge.
Das LSG hat die Rechtsvorschriften, nach denen es den Rentenanspruch der Klägerin beurteilt hat, nicht genannt; die Beklagte hält in der Revisionsbegründung die §§ 27 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF, 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, 23 Abs. 2 AVG nF, 1246 Abs. 2 RVO nF für verletzt. Beide gehen offenbar davon aus, daß die Klägerin zu den Wanderversicherten gehört, also zu den Versicherten, für die zu mehreren Versicherungszweigen - hier: zur AnV und ArV - Beiträge entrichtet sind (§§ 1544 RVO aF, 1308 RVO nF, 87 AVG nF). In dem angefochtenen Urteil fehlen indes Feststellungen des LSG über eine Beitragsleistung zum einen oder anderen Versicherungszweig.
Würden sie unterstellt, so wäre nach Art. 2 § 28 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) und Art. 2 § 29 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) i. V. m. den vorangehenden §§ 6 bzw. 5 der Rentenanspruch grundsätzlich nach dem vor 1957 geltenden Recht zu beurteilen; erst wenn nach diesem kein Anspruch entstanden wäre, käme für die Zeit nach 1956 das neue Recht zum Zuge.
Nach altem Recht würde sich der Anspruch nach den §§ 1544 b, 1253 RVO aF, 26 AVG aF richten. Danach kann die - 1907 geborene - Klägerin Leistungen aus beiden Versicherungszweigen (Ruhegeld, Invalidenrente) dann erhalten, wenn sie (ab Antragstellung) berufsunfähig und invalide ist und wenn außerdem die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten, also auch die versicherungstechnischen Voraussetzungen gegeben sind. Was diese angeht, wäre dabei außer den einschlägigen Vorschriften der Versicherungszweige noch § 1544 a RVO aF zu beachten und ferner zu berücksichtigen, daß die Rentenneuregelungsgesetze die versicherungstechnischen Voraussetzungen der Rente zum Teil rückwirkend geändert haben (vgl. Art. 2 § 8 AnVNG und ArVNG). Zu den versicherungstechnischen Voraussetzungen des Rentenanspruchs enthält das angefochtene Urteil jedoch wiederum keine tatsächlichen Feststellungen; insbesondere ergibt sich aus ihm nicht, ob die Beitragsleistungen die Wartezeit von 60 Monaten ausfüllen.
Dieser Mangel an tatsächlichen Feststellungen des LSG nötigt schon zur Aufhebung des Urteils, auch wenn das Verhalten der Beteiligten eine ausreichende Beitragsleistung der Klägerin nahelegt. Das Bundessozialgericht (BSG) kann die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Rente nur bestätigen, wenn sämtliche Anspruchsvoraussetzungen durch die tatsächlichen Feststellungen des LSG belegt sind; fehlende tatsächliche Feststellungen kann das BSG nicht selbst nachholen, also auch nicht aus den Beiakten entnehmen.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG genügen darüber hinaus aber auch für die Annahme von Berufsunfähigkeit und Invalidität nicht. Insoweit sind - was das LSG übersehen oder doch nicht klargestellt hat - schon für die Zeit vor 1957 die Vorschriften des neuen Rechts über die Berufsunfähigkeit zugrunde zu legen (Art. 2 § 7 AnVNG, Art. 2 § 6 ArVNG), die in beiden Versicherungszweigen gleichlauten. Danach ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (§§ 23 Abs. 2 AVG, 1246 Abs. 2 RVO). Das LSG beschäftigt sich überwiegend mit der Frage, ob die bei der Klägerin vorhandenen Störungen eine Krankheit darstellen. Dies war für die "internistischerseits erhobenen Befunde" und für die "neurotischen Störungen" zu prüfen. Insoweit macht das angefochtene Urteil nur zum Teil deutlich, welche Gesundheitsstörungen das LSG als vorhanden festgestellt hat. Es berichtet zwar im Tatbestand und auch in den Entscheidungsgründen mehrfach über die Erkenntnisse der zahlreichen Gutachter; eigene Feststellungen werden nicht ausdrücklich getroffen; sie lassen sich nur - mittelbar - aus dem Umstand entnehmen, daß das LSG sein Urteil auf die Gutachten B. und W. gestützt hat; daraus läßt sich schließen, daß das LSG sich die Feststellungen dieser Gutachter zu eigen gemacht hat, soweit sie im Urteil wiedergegeben sind und sachlich übereinstimmen.
Als "internistischerseits erhobene Befunde" finden sich im Bericht des LSG über das Gutachten W. ein Zustand nach Entfernung der Unterleibsorgane, eine Magenschleimhauterkrankung und Kreislaufstörungen; bei dem Bericht über das Gutachten B. werden dagegen keine einschlägigen Befunde erwähnt. Da sich aus dem Urteil des LSG nicht ergibt, ob das Gutachten B. ebenfalls Befunde auf innerfachärztlichem Gebiet erhoben hat - es wird nur vom Ausschluß einer endogenen Depression berichtet -, bleibt sonach offen, von welchen Befunden das LSG hier ausgegangen ist. Soweit sie wiedergegeben sind, ist überdies unklar, was " Zustand nach Entfernung der Unterleibsorgane" besagt.
Als "neurotische Störungen" führt das LSG aus dem Gutachten B. an, daß eine weitgehend ausgestaltete hypochondrische Symptomatik und eine deutlich depressive Verstimmung mit vermindertem Antrieb bestehe; es handele sich um den Endzustand einer asthenischen Entwicklung. Aus dem Gutachten W. wird angegeben, es lägen psychopathologische Veränderungen mit schwieriger psychischer Gesamtsituation vor, der Vorstellungskreis sei weitgehend unkorrigierbar, die Klägerin sei kontaktschwierig, hypochondrisch und mißtrauisch. Diese Befunde stimmen ihrem Inhalt nach im wesentlichen überein, so daß sie als tatsächliche Feststellungen des LSG gelten können.
Daß das LSG die so beschriebenen neurotischen Störungen in Anlehnung an das Urteil des BSG vom 23. Oktober 1958 (SozR Nr. 11 zu § 1254 RVO aF) als eine Krankheit i. S. des Rechts der Rentenversicherung gewertet hat, ist entgegen der Meinung der Beklagten nicht zu beanstanden. Auch der erkennende Senat hat entschieden (vgl. zuletzt Urteil vom 1. Juli 1964, 11/1 RA 158/61), daß seelische Störungen (neurotische Hemmungen) die der Versicherte bei zumutbarer Willensanspannung aus eigener Kraft nicht überwinden kann, eine Krankheit i. S. der §§ 23 Abs. 2 AVG, 1246 Abs. 2 RVO darstellen. Das Vorbringen der Beklagten in der Revisionsbegründung gibt zu einer anderen Auffassung keinen Anlaß. Die Erwägungen der Beklagten bewegen sich auf tatsächlichem Gebiet, sie betreffen insbesondere Fragen der Beweiswürdigung und der (objektiven) Beweislast, sie können jedoch den Rechtsbegriff der Krankheit nicht berühren. Im übrigen widerspricht sich die Beklagte auch selbst, wenn sie einerseits ausführt, Neurotiker könnten ihre Hemmungen überwinden, sofern ihr Wille nicht durch eine organische Krankheit blockiert sei, und andererseits erklärt, daß sich (objektive) Feststellungen über diese Fähigkeit überhaupt nicht treffen lassen.
Mit der Feststellung der Störungen "von Krankheitswert" hat das LSG allerdings die Berufsunfähigkeit der Klägerin noch nicht bejahen können. Es kam vielmehr außerdem noch darauf an, wie sich die Gesundheitsstörungen in dem "Kreis der Tätigkeiten" auswirken, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist (§ 23 AVG Abs. 2 Satz 2 und 3). Aus dem Urteil des LSG geht nicht hervor, welche Tätigkeiten (Berufe) das LSG zu diesem Kreis gerechnet hat; dafür genügt nicht die Feststellung, daß die Klägerin zunächst als Hausmädchen und Arbeiterin beschäftigt, von 1943 bis 1956 in einer Fernsprechzentrale der Bahn angestelltenversicherungspflichtig tätig gewesen und in der Telegrafie und im Fernsprechwesen ausgebildet worden ist. Soweit das LSG die Auswirkungen der neurotischen Störungen und der internistischen Befunde auf die Erwerbsfähigkeit schlechthin schildert, sind seine Darlegungen summarisch; als tatsächliche Feststellung käme hier allenfalls die aus dem Gutachten W. übernommene Meinung in Betracht, es sei ein Versuch am untauglichen Objekt, einen solch kontaktschwierigen, hypochondrischen, mißtrauischen Menschen wie die Klägerin in eine auch nur einigermaßen regelmäßige Tätigkeit für längere Zeit hineinzubringen; auch die darin enthaltenen Tatsachen reichen noch nicht zu dem Schluß aus, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in den für sie in Betracht kommenden Berufen (Tätigkeiten) seit Februar 1955 auf die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist, dazu sind die Begriffe "längere Zeit" und "einigermaßen regelmäßige Tätigkeit" zu unbestimmt.
Das angefochtene Urteil ist daher, ohne daß noch auf die Verfahrensrügen der Beklagten eingegangen zu werden braucht, aufzuheben, weil es keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen des LSG für die Zubilligung von Rentenleistungen an die Klägerin enthält (vgl. Urteil des BSG vom 20. November 1959, SozR Nr. 6 zu § 163 SGG). Aus dem gleichen Grunde kann der Senat nicht in der Sache entscheiden; deshalb muß der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG wird nunmehr darauf zu achten haben, daß es selbst die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen hat; es muß deutlich unterscheiden, inwieweit es lediglich über Feststellungen der Gutachter berichtet und inwieweit es eigene Feststellungen trifft. In seinem neuen Urteil hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden.
Fundstellen